Krankheitslasten verschieben sich ins höhere Lebensalter
„Teeth at risk“ lautete 2005 die Bezeichnung in der Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) für die Beobachtung , dass bei mehr erhaltenen Zähnen die Prävalenz von Wurzelkaries und Parodontitis zunahm: Die mittlere Anzahl fehlender Zähne bei den jüngeren Senioren war um 3,4 Zähne im Vergleich zur DMS III (1997) zurückgegangen und gleichzeitig die Prävalenz der Wurzelkaries – also der Anteil der Personen mit mindestens einem an Wurzelkaries erkrankten Zahn – um rund 15 Prozentpunkte auf 45 Prozent gestiegen. Sogar bei den Personen mit Wurzelkaries hatte sich der prozentuale Anteil der befallenen Zähne auf 17 Prozent erhöht. Außerdem musste man davon ausgehen, dass auch die parodontalen Erkrankungen erheblich zugenommen hatten. Alles in allem lag also der Schluss nahe, dass bei mehr erhaltenen Zähnen das Risiko für mehr Zahnerkrankungen im Alter steigt: teeth at risk (Abbildung 1).
In der aktuellen DMS V sind die Zahnverluste bei den jüngeren Senioren weiter zurückgegangen – von rund 14 auf 11 Zähne. Nach der teeth at risk-Logik wäre zu erwarten gewesen, dass damit auch ein weiterer Anstieg an Wurzelkaries und Parodontitis verbunden sein würde. Aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Prävalenz der Wurzelkaries ist annähernd wieder auf dem Stand von 1997 und liegt aktuell bei 28 Prozent. Auch der Anteil der betroffenen Zähne ist leicht gesunken: Bei Personen mit einer Wurzelkarieserfahrung sind mittelwertig 14 Prozent der Zähne befallen.
Warum gilt „teeth at risk“ heute nicht mehr?
Besonderes Interesse verdienen jedoch die Parodontalerkrankungen. Hier stellt sich bei den jüngeren Senioren eine Halbierung der schweren Parodontitis dar, zudem hat sich der Anteil parodontal gesunder bzw. lediglich mild erkrankter Personen (gemäß CDC/AAP-Fallklassifikation) mehr als vervierfacht! Insofern kann an der These „teeth at risk“ in der Form nicht mehr festgehalten werden. Angesichts des chronisch-kumulativen Charakters der Haupterkrankungen der Zahnmedizin – Karies und Parodontitis – ist dieser epidemiologische Befund aus der DMS V jedoch überraschend, denn pathogenetisch betrachtet hätte man tatsächlich vermutet, dass ein Mehr an Zähnen auch ein Mehr an Erkrankungsrisiko bedeutet. Mit dem Risiko ist es allerdings so eine Sache, weil es lediglich eine Eintrittswahrscheinlichkeit beschreibt. Daher stellt sich die Frage, welche – neben den pathogenetischen Faktoren – salutogenetischen Faktoren wirksam geworden sein könnten, die es ermöglicht haben, dass mehr erhaltene Zähne mit mehr Zahngesundheit verbunden sind.
Aus den sozialwissenschaftlichen Befragungen der DMS V geht hervor, dass die dentale Selbstaufmerksamkeit (dental awareness) besonders in der Altersgruppe der jüngeren Senioren erheblich gewachsen ist. Die kontrollorientierte Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienstleistungen liegt bei annähernd 90 Prozent; der Einsatz von Mund- hygienehilfsmitteln hat in fast allen Sektoren (Zahnbürsten, Interdentalraumhygiene, Mundspüllösungen) nach Selbstauskünften – zum Teil sogar erheblich – zugenommen. Nicht zuletzt erfreut sich die Professionelle Zahnreinigung (PZR) auch bei den jüngeren Senioren einer zunehmenden Beliebtheit. Diese Maßnahmen können als primäre und sekundäre Prävention idealerweise orale Erkrankungen verhindern oder deren Verlauf verlangsamen. Sind sie also der Schlüssel zur Erklärung der Umkehrung der Befunde zwischen DMS IV und DMS V?
Im Jahr 1980 stellte der Rheumatologe James Franklin Fries die These der Morbiditätskompression auf. Sie besagt, dass die Zeiten, in denen die Menschen im Zustand von chronischer Krankheit und Behinderung verbringen, abnehmen würden (Fries 1980). Neben den Erfolgen der primären Prävention erklärt er dies auch mit den verbesserten Lebensbedingungen und der allgemeinen sozioökonomischen Entwicklung. Zwar gingen Fries’ konzeptuelle Überlegungen eher in Richtung funktioneller Beeinträchtigungen und Multimorbidität. In der Literatur lassen sich aber auch Hinweise auf eine Kompression von Morbidität bei spezifischen Erkrankungen finden (Geyer 2015).
Alterstypische Muster rutschen nach hinten
Die Durchsicht der Datenlage zur aktuellen oralen Morbiditätssituation in Deutschland lässt insgesamt einen deutlich positiven Trend erkennen. Sowohl im Hinblick auf die Karies- als auch auf die Parodontitis- erfahrung zeigt sich ein erheblicher Rückgang der Krankheitslasten in den letzten neun Jahren (DMS V versus DMS IV), der in diesem Ausmaß bemerkenswert erscheint. Interessanterweise zieht sich dieser Befund durch alle untersuchten Altersgruppen und darüber hinaus außerdem quer durch alle sozialen Schichten, sodass sich die alters- typischen oralen Befundmuster anscheinend im Lebensbogen nach hinten verschieben.
Besonders deutlich wird dies beim Vergleich der jüngeren Senioren aus der DMS IV mit den älteren Senioren der DMS V (Abbildung 2): In zentralen Mundgesundheitsmarkern (Karies, Parodontitis, Zahnlosigkeit) weisen die älteren Senioren heute ein sehr ähnliches orales Morbiditätsmuster auf, wie es vor einer Dekade die jüngeren Senioren aufwiesen. Demnach müssten die jüngeren Senioren heute im Vergleich zu den jüngeren Senioren 2005 ein deutlich günstigeres entsprechendes Morbiditätsmuster aufweisen – und so ist es auch (Abbildung 3).
Priv.-Doz. Dr. med. dent. A. Rainer Jordan, MSc., Wissenschaftlicher Direktor Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)Universitätsstraße 73, D-50931 Köln