Lauter sprechen bringt gar nichts
Die erste Herausforderung wartet auf hörbehinderte Patienten schon vor dem eigentlichen Zahnarztbesuch: Sie müssen einen Termin ausmachen – aber wie? Gehörlose können nicht telefonieren und auch für Schwerhörige mit einem gravierenden Hörverlust kann es problematisch werden, Gespräche über das Telefon akustisch richtig zu verstehen. Natürlich könnte man hörende Angehörige, Freunde oder auch Dolmetscherdienste bitten, diese Aufgabe zu übernehmen, aber das hat nichts mehr mit selbstständigem Leben zu tun. Diese Barriere könnten Zahnarztpraxen ganz einfach ausräumen, indem sie Terminanfragen von Patienten per E-Mail, SMS, WhatsApp oder im Chat (Skype, oovoo) entgegennehmen und beantworten.
Ohne Mundbild keine Kommunikation
Grundsätzlich gilt: Bei Gesprächen mit Hörenden, die nicht gebärden können, müssen gehörlose Patienten alles von den Lippen ablesen. Hierbei ist es wichtig, zu beachten:
Der Zahnarzt und das Team sollten sich Zeit nehmen, langsam und deutlich zu sprechen. Bei Artikulationsübungen sind meine Teilnehmer immer überrascht, dass das, was sie sagen, für die anderen (mit Gehörschutz) doch nicht so einfach abzulesen ist.
Das Mundbild muss gut sichtbar sein, daher sollten Sie bei der Kommunikation den Mundschutz abnehmen.
Der Patient darf – zum Beispiel durch die Lichtintensität der Behandlungslampe – nicht geblendet sein, sonst kann er kaum etwas von den Lippen ablesen.
Auch bei Patienten, die mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten gut zurechtkommen, kann es bei störenden Nebengeräuschen – wie Wasserzulauf, Geräte im Hintergrund oder Bohrer – zu Kommunikationsproblemen kommen. Sie werden auch Probleme haben, wenn der Zahnarzt mit Mundschutz spricht und dazu noch der Bohrer läuft.
Blickkontakt und direkt ansprechen
Hier sollten Sie daran denken, dass hörgeschädigte beziehungsweise gehörlose Patienten wirklich auf das Mundbild angewiesen sind. Das Personal am Empfang sollte deshalb stets Blickkontakt halten und das Mundbild sollte gut sichtbar sein. Wenn die ZFA beim Tippen auf die Tastatur schaut oder sich zu Kollegen umdreht, ist ihr Mundbild nicht mehr zu sehen. Der Patient kann dann nicht verstehen, was sie sagt. Optimal für zukünftigen Behandlungen wäre, dies in der Akte zu vermerken.
Beim Aufruf zur Behandlung eines hörbehinderten Patienten sollte der Name nicht einfach ins Wartezimmer hineingerufen oder durch Lautsprecher angesagt werden. Am besten geht man zum Patienten, um durch eine Winkbewegung der Hand Blickkontakt aufzunehmen und ihn zu bitten, mitzukommen. Sollte der Patient zum Beispiel lesen, darf man ihn durch ein leichtes Antippen an der Schulter oder am Arm „ansprechen“.
Viele Behandlungszimmer sind so eingerichtet, dass der Patient Richtung Fenster schaut, er bekommt weder visuell noch akustisch mit, wenn jemand das Zimmer betritt. Steht plötzlich der Arzt oder die ZFA neben ihm, erschreckt er sich. Um diese Situation zu umgehen, kann man Patienten mit Hörbehinderung erst ins Behandlungszimmer führen, wenn das Team einsatzbereit im Raum ist.
Bei der Erstbehandlung sollte man auf jeden Fall mehr Zeit einplanen. Bei gehörlosen Patienten kann es sein, dass sie einen Gebärdensprachdolmetscher oder einen Kommunikationsassistenten mitbringen. In solchen Fällen sollte man immer zu den Hörgeschädigten sprechen – und nicht zur Begleitung oder zum Dolmetscher. Also direkt den Patienten fragen, statt die Begleitung aufzufordern, Fragen zu stellen (etwa seit wann der Patient Schmerzen hat oder unter welchen Allergien er leidet).
Bei den meisten Arztbesuchen sind Patienten aber ohne Dolmetscher unterwegs. Die Gründe hierfür sind unter anderem die Frage der Kostenübernahme und der in Deutschland herrschende Dolmetschermangel. Zurzeit sind nur etwa 500 Gebärdensprachdolmetscher tätig, viele von ihnen haben einen lang im Voraus ausgebuchten Terminkalender.
Schnell auf den Punkt, statt lange zu reden
Um den Behandlungsverlauf angenehm und einigermaßen barrierefrei zu gestalten, empfehle ich folgende Kommunikationstipps:
Sehr hilfreich ist, wenn der Zahnarzt und seine Mitarbeiter bei Patientengesprächen mit deutlicher Mimik und Gestik sowie natürlicher Körpersprache ihre Aussagen unterstützen und betonen. Wenn möglich, hochdeutsch sprechen, Dialekte sind sehr schwer oder gar nicht ablesbar. Ebenso störend sind Kaugummis oder Bonbons im Mund. Ein zu lang gewachsener Oberlippenbart erschwert ebenfalls das Ablesen.
Vor der Behandlung langsam, deutlich und mit kurzen Sätzen ohne überflüssige Floskeln erklären, was gemacht wird. Denken Sie daran: Je länger der Satz, umso schwieriger ist das Ablesen. Statt lange zu reden besser den „Ist-Zustand“ beziehungsweise die vorgeschlagene Behandlung mithilfe von Modellen, Röntgenaufnahmen, Abdrucken oder Fotos visualisieren und erklären.
Ebenfalls wichtig während der ganzen Kommunikation ist es, Blickkontakt mit dem Patienten zu halten. Wenn man sich während das Gesprächs wegdreht oder bei der Behandlung hinter dem Patienten sitzt, kann er ohne Unterstützung durch das Mundbild dem Gespräch nicht folgen.
Bei längeren Behandlungen empfehle ich, den Mundschutz öfter abzunehmen und kurz zu erklären, was noch ansteht. Bei Gehörlosen kann man zum Beispiel mit der Gebärde „gut“ nach dem Empfinden des Patienten fragen. Das wirkt beruhigend auf den Patienten und er fühlt sich geborgen. Wie gesagt – sich Zeit zu nehmen, ist bei hörbehinderten Patienten ganz wichtig.
Vereinbaren Sie mit bestimmten Zeichen, wie während der Behandlung (etwa das Schmerzempfinden) kommuniziert werden kann.
Lauter sprechen bringt in der Kommunikation mit Gehörlosen gar nichts, dadurch wird nur das Mundbild verzerrt. Bei Hörgeräteträgern ist das Gerät so eingestellt, dass es sich bei unangenehm lauten Geräuschen kurzzeitig ausschaltet, quasi als Selbstschutzmechanismus.
Bei der Positionierung von Kopfstützen sollte man darauf achten, dass das Hörgerät „frei“ bleibt. Liegt der Patient auf dem Gerät, kann es zu Rückkopplungen kommen, es fängt an zu piepen und der Patient hört nichts mehr. Auch manche Instrumente im Behandlungsraum können durch Rückkopplung pfeifende Geräusche bei den Hörgeräten auslösen.
Dein Name was?
Gehörlose Patienten kommunizieren untereinander in der Deutschen Gebärdensprache (DGS), ihrer Muttersprache, die seit 2002 eine anerkannte Sprache ist. Die DGS hat eine ganz andere Grammatik und damit einen völlig anderen Satzaufbau.
Dazu ein Beispiel: In der Lautsprache fragen wir „Wie heißen Sie?“. In der Gebärdensprache wird „Dein Name was?“ gefragt. In der Gebärdensprache gibt es nur die Du-Form. Also, „Wo haben Sie Schmerzen? wird als „Du Schmerzen? Wo?“ gebärdet. Da die Gebärdensprache ganz anders ist als die deutsche Lautsprache, haben die meisten Gehörlosen Textverständnisprobleme und sie formulieren Schrifttexte auch so, wie sie gebärden würden.
Wenn man also komplexe Vorgänge erklären will, ist es gut so viel wie möglich zu visualisieren. Es kann auch hilfreich sein, mithilfe von Papier und Stift zu kommunizieren. Soweit möglich, Fremdwörter vermeiden und komplexe Begriffe lieber aufschreiben, statt lange zu reden. Wichtige Infos können für gehörlose Patienten eventuell in einfacher Sprache ausgedruckt werden.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihr hörgeschädigter Patient Sie nicht verstanden hat? Dann wiederholen Sie den ganzen Satz, aber unverändert! Der Patient hat vermutlich schon einen Teil ablesen können, er muss noch die Lücken schließen. Wenn Sie jetzt den Satz verändern, muss er wieder von vorne anfangen, und was er bereits verstanden hat, ist verloren.
Es gibt Hersteller von Cochlea-Implantaten (CI), die zurzeit eine Zahnreinigung mit Ultraschall nicht empfehlen. Als Begründung wird angegeben, dass Schäden an den elektronischen Komponenten des CIs beziehungsweise der aktiven Elektrode wegen fehlender Untersuchungsergebnisse nicht ausgeschlossen werden können. Zur Sicherheit empfehle ich, dass CI-Patienten sich vor dem Zahnreinigungstermin beim Hersteller über den Einsatz von Ultraschall informieren. Röntgen ist kein Problem, aber die externen CI-Komponenten müssen abgenommen werden. Ab diesem Moment kann der Patient nichts mehr hören! Die Durchführung einer MRT-Untersuchung mit CI wird je nach Hersteller und CI-Modell sehr unterschiedlich bewertet. Hier müsste der Patient ebenfalls vorher nachfragen.
Leider verursachen einige Antibiotika unter Umständen unerwünschte Nebenwirkungen, wie zum Beispiel eine Schädigung des Hörvermögens. Achtung insbesondere bei der Anwendung von Antibiotika mit den Wirkstoffen Chloramphenicol, Neomycin, Netilmycin, Streptomycin und Vancomycin. Aber auch bei Azithromycin, Erythromycin und Tetracyclinen ist Vorsicht geboten.
Untertitel auf der Website
Die Praxis-Webseite kann die erste Anlaufstelle sein, um sich über den Zahnarzt und sein Team zu informieren oder um hilfreiche Tipps zu Zahngesundheit und Ästhetik einzuholen. Viele Praxen zeigen hierzu Informations- und Imagefilme. Leider fast immer ohne Subtitel. Denken Sie daran, wenn diese Filme ohne Untertitel laufen, werden Ihre hörbehinderten Patienten wenig oder gar keinen Spaß damit haben, und sich ausgeschlossen fühlen. Wünschenswert ist daher speziell für gehörlose Patienten, und gerade bei Informationsfilmen, die Übersetzung durch die Einblendung von Gebärdensprachdolmetschern.
Günstig ist außerdem, wenn das Anamnese-Formular von der Praxiswebseite als Download zur Vergfügung steht. So können Gehörlose den Bogen in aller Ruhe bereits zu Hause ausfüllen und sich unbekannte Wörter und Formulierungen durch Dritte erklären lassen.
Optimal wäre, wenn Zahnärzte und ZFA im Studium, in der Ausbildung oder in Fortbildungsveranstaltungen für die Kommunikationsprobleme von Hörbehinderten sensibilisiert werden, weil sie davon profitieren werden, wenn sie wenigstens einige für die Behandlung notwendige Gebärden erlernen und beherrschen und somit die Behandlung für Arzt und Patient angenehmer und zeitsparender verlaufen würde.
Judit Nothdurft
Geschäftsführerin von jnc-business, Dozentin und Journalistin
Die Firma Judit Nothdurft Consulting (www.jnc-business.de) berät seit 2007 Unternehmen zu Barrierefreiheit und Inklusion. Nothdurft unterrichtet Ärzte, Zahnärzte und Notfallsanitäter im Umgang und in der Kommunikation mit Schwerhörigen und Gehörlosen. Sie ist Dozentin an Bildungsinstituten und Universitäten.
Hörgeschädigte in Deutschland
In Deutschland leben rund 16 Millionen Hörgeschädigte, davon sind geschätzt etwa 80.000 gehörlos, 3,5 Millionen Menschen tragen Hörgeräte oder Cochlea Implantate. Ungefähr 200.000 Menschen kommunizieren in Gebärdensprache. Da unsere Gesellschaft immer älter wird, wächst der Patientenkreis der Hörbehinderten. Hörbehinderung ist eine unsichtbare Behinderung, die erst in der Kommunikation bemerkbar wird.
Die Höhe des Hörverlusts wird in Dezibel (dB) angegeben: Bei einem leichteren Hörverlust zwischen 25 und 40 dB kann man ein Gespräch über das Ohr noch verstehen. Aber bereits ab 40 bis 70 dB Hörverlust kann es passieren, dass der Patient dem Gespräch trotz Hörhilfsmittel nicht ganz folgen kann. Je höher der Hörverlust, umso mehr ist der Betroffene auf das Mundbild des Gesprächspartners angewiesen.
Gehörlose Menschen sind entweder hochgradig hörgeschädigt (Hörverlust zwischen 85 und 100 dB) oder taub (Hörverlust über 100 dB). Selbst mit Hörgeräten können sie keine Sprache verstehen, sondern nur Höreindrücke und Geräusche wahrnehmen.
Taubstumm gibt es nicht!
Man hört und liest noch immer den Begriff „taubstumm“. Dieser Ausdruck wird von Gehörlosen jedoch als beleidigend empfunden, weil er nicht der Realität entspricht. Sie nennen sich selbst taub oder gehörlos und möchten auch so genannt werden!