Zahnärzte als Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“
Am 1. Januar 1934 waren im Deutschen Reich insgesamt 11.332 Zahnärzte gemeldet, darunter 1064 Personen, die von den Nationalsozialisten als Juden klassifiziert wurden. Das entscheidende Kriterium dabei war nicht die Religion, sondern die Abstammung, so dass unter den Verfolgten auch Protestanten, Katholiken und Menschen ohne Bekenntnis waren. Einige besaßen noch eine Zulassung zur Kassenpraxis.
Zweifelsfrei Verfolgte:
Jüdische und politisch missliebige Zahnärzte
Rund 100 jüdische und jüdischstämmige Zahnärzte waren zu diesem Zeitpunkt bereits zwangsemigriert. Hieraus lässt sich schließen, dass der Anteil der jüdischen Behandler an der Zahnärzteschaft 1933 vor dem Machtwechsel bei immerhin rund 10 Prozent gelegen hatte.5 Sie sind ohne Zweifel als Verfolgte im Nationalsozialismus zu bezeichnen.Sie sind ohne Zweifel als Verfolgte im Nationalsozialismus zu bezeichnen.
Analog zu den Ärzten waren beamtete Zahnärzte – darunter Hochschullehrer, an öffentlichen Häusern tätige Personen und Schulzahnärzte – bereits im April 1933 entlassen worden. Gleichzeitig entzog man „nicht-arischen“ Zahnärzten die Kassenzulassung. Ausnahmen gab es nur für wenige Personen, von denen die meisten im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst geleistet hatten. Dies bedeutete für viele über Nacht den wirtschaftlichen Ruin, der mit sozialer Ausgrenzung einherging.
Am 1. Januar 1938 gab es im gesamten Reichsgebiet nur noch 579 jüdische Zahnärzte, und bis zum 1. Januar 1939 ging ihre Zahl auf 372 zurück, von denen noch 250 eine Kassenzulassung besaßen. Zu diesem Zeitpunkt war die Gesamtzahl der Zahnärzte allerdings auf 15.006 angewachsen; demnach betrug der Anteil der Juden unter den zugelassenen Kassenzahnärzten gerade noch 1,6 Prozent. 5-6 Infolge der „Achten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 17. Januar 1939 wurde schließlich allen jüdischen Zahnärzten – vier Monate nach den Humanmedizinern – die Approbation entzogen. 7 Nur eine sehr kleine Gruppe erhielt als „Zahnbehandler“ die Erlaubnis, die verbliebene jüdische Gemeinde in Deutschland zu versorgen.
Die Arbeitsgruppe um Matthis Krischel konnte zeigen, dass etwa zwei Drittel der verfolgten Zahnärzte aus Deutschland fliehen konnten. Die Emigration erfolgte häufig über mehrere Etappen; viele gingen zunächst in die Nachbarländer Deutschlands und mussten nach Kriegsbeginn erneut von dort flüchten. Die wichtigsten letztendlichen Zielländer waren die USA, Großbritannien und das britische Mandatsgebiet Palästina. Nur eine Minderheit konnte nach der Emigration wieder in ihrem Beruf arbeiten. Alternativen waren die Tätigkeit als Zahntechniker oder in ungelernten Berufen. Wer das Land vor Kriegsbeginn nicht verlassen hatte, war bald von der Deportation in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager bedroht. Etwa ein Viertel der verfolgten Zahnärzte erlitt dieses Schicksal. Nur wenige überlebten die Lager. Einige wählten den selbstbestimmten Suizid, um Schmähung, Misshandlung oder Deportation zu entgehen.
Neben der jüdischen Herkunft konnten aber auch andere Gründe dazu führen, dass Zahnärzte ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten gerieten. Einige wurden bereits früh vom Beruf ausgeschlossen und zum Teil auch verhaftet, weil sie politisch als Sozialdemokraten oder Kommunisten in Erscheinung getreten waren. Später schlossen sich wenige Zahnärzte dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an. Wer entdeckt wurde, war von Haft und Todesstrafe bedroht. Mehreren Zahnärzten wurden wegen ihrer sexuellen Orientierung der Doktorgrad und die Approbation aberkannt, in der Folge kam es in einigen Fällen zu Suiziden. Eine Zahnärztin wurde als psychiatrische Patientin Opfer der Krankenmorde im Rahmen der „Euthanasie“.
Noch sind nur einzelne Lebensgeschichten der verfolgten Zahnärzte detailliert erforscht; allerdings konnten von den Projektverantwortlichen seit 2017 bereits einige neue Einzelbiografien8-12 veröffentlicht werden. Ziel der zm-Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ ist es ausdrücklich auch, mehr dieser Biografien einer zahnärztlichen Öffentlichkeit bekannt zu machen und so die diskriminierten, vertriebenen und ermordeten Kollegen ins kollektive Gedächtnis der Zahnärzteschaft einzuschreiben.
Zweifelsfrei Täter:
Waffen-SS-Männer, KZ-Zahnärzte, Kriegsverbrecher
So wie die vorgenannten Zahnärzte „klassische“ Verfolgtengruppen bildeten, so sind die Kollegen, die sich in der SS engagierten, die als KZ-Zahnärzte eingesetzt waren und/oder die nach 1945 als Kriegsverbrecher angeklagt wurden, eindeutig als Täter anzusprechen: Die SS, die „Schutzstaffel“ der NSDAP, war der radikalste Exponent der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaftspraxis. Sie steht wie keine andere NS-Organisation für Staatsterror und Massenmord. Die SS übte auf die Zahnärzteschaft offenkundig eine erhebliche Anziehungskraft aus:13-14 Ende 1938 waren bereits circa 1.400 Zahnärzte als SS-Mitglieder registriert. Im Oktober 1939 gab es in Deutschland 16.299 Zahnärzte; demnach gehörten damals bereits 9 Prozent aller deutschen Zahnärzte der SS an. Zum Vergleich: Zu jenem Zeitpunkt lag der Anteil der Ärzte in der SS bei etwa 5 Prozent und derjenige der Lehrer bei lediglich 0,4 Prozent.
Abzugrenzen von der allgemeinen SS sind die Vertreter der Waffen-SS: Sie verstanden sich als „Elitetruppe“ und Kämpfer für die NS-Weltanschauung. Die Arbeitsgruppe von Dominik Groß konnte 305 in der Waffen-SS organisierte Zahnärzte ermitteln.14 Viele erreichten den Rang eines SS-Hauptsturmführers. Oberster SS-Zahnarzt wurde Hugo Blaschke (1881–1960) – eigentlich ein Dentist, der in den USA den Doktorgrad erlangt hatte, er sollte es 1944 bis zum SS-General bringen. Größere Bekanntheit erlangte auch der Waffen-SS-Zahnarzt Helmut Kunz, der in den Mord an den Goebbels-Kindern verstrickt war.15
Rund 100 dieser Waffen-SS-Männer fungierten als Zahnärzte in Konzentrationslagern („KZ-Zahnärzte“). „Leitender Zahnarzt“ dieser KZs war bis 1943 SS-Sturmbannführer Paul Reutter, danach SS-Obersturmbannführer Hermann Pook. 16 Die KZ-Zahnärzte behandelten anfangs neben dem SS-Personal auch Häftlinge. Diese Tätigkeit ging jedoch mehr und mehr auf Häftlingszahnärzte und -dentisten über.. Die KZ-Zahnärzte behandelten anfangs neben dem SS-Personal auch Häftlinge. Diese Tätigkeit ging jedoch mehr und mehr auf Häftlingszahnärzte und -dentisten über.
1940 begann in den Lagern die systematische Vernichtung durch Massenmord. Nicht nur Ärzte, sondern auch einzelne Zahnärzte beteiligten sich an den todbringenden „Selektionen an der Rampe“ und waren so in den Vernichtungsprozess der KZs aktiv involviert. Eine besondere Rolle kam den SS-Zahnärzten auch beim „Zahngoldraub“ zu: Jener Begriff steht für das Herausbrechen von Zahngold aus den Kiefern der ermordeten KZ-Häftlinge. Zumeist führten Häftlingszahnärzte diese Handlung auf Befehl und unter Aufsicht der KZ-Zahnärzte aus. Kein toter KZ-Häftling wurde zur Verbrennung freigegeben, bevor das Zahngold entnommen worden war. Darüber hinaus hatten die SS-Zahnärzte die Einschmelzung des Zahngoldes und dessen Aufbewahrung bis zur Ablieferung sicherzustellen.
Für einige KZ-Zahnärzte sind zudem sadistische bis mörderische Praktiken dokumentiert – so für Georg Coldewey, der an Häftlingen unter anderem Zahnextraktionen ohne Anästhesie vornahm und bereits Lebenden „Goldzähne“ entfernte. Oder für Walter Sonntag, der im „Frauen-KZ“ Ravensbrück weibliche Häftlinge misshandelte. Ähnliches gilt für Willi Jäger, der zu persönlichen Übungszwecken Amputationen an KZ-Häftlingen durchführte, wobei er die Opfer letztlich mit tödlichen Injektionen ermordete. Oder Werner Rohde, der vier Frauen im KZ Natzweiler-Struthof tödliches Phenol verabreichte.17
Zu den eindeutigen Tätern gehören auch diejenigen Zahnärzte, die von alliierten oder bundesdeutschen Gerichten als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurden. Bislang ging man davon aus, dass Zahnärzte kaum betroffen waren – zu den wenigen Ausnahmen zählte man Hermann Pook16, Willi Frank18 und Willi Schatz19. Tatsächlich konnte die Arbeitsgruppe von Dominik Groß jedoch im Projektverlauf nicht weniger als 48 Zahnärzte identifizieren, die von alliierten oder bundesdeutschen Gerichten angeklagt und verurteilt wurden – allein 15 zum Tod.20 Die härtesten Strafen fällten die französischen Tribunale (sechs Todesurteile), die mildesten die bundesdeutschen Gerichte. Zentrale Tatvorwürfe waren Mord und Totschlag, Misshandlungen sowie – insbesondere bei den angeklagten KZ-Zahnärzten – die todbringenden Selektionen und der erwähnte Zahngoldraub.
Schließlich wird man auch diejenigen Zahnärzte und Kieferchirurgen zu den Tätern zählen müssen, die sich in bestimmten Fällen für die Zwangssterilisation von Spaltträgern aussprachen – wie etwa die Professoren Reinhold Ritter21 und Martin Waßmund22 – oder die in ihrem Amt für die Entlassung und Entrechtung jüdischer Kollegen eintraten – wie Hermann Euler als Rektor der Universität Breslau.23-25
Täter oder Mitläufer?
Die Einordnung von NSDAP-Mitgliedern
Doch es waren nicht vorrangig die Vertreter der Waffen-SS und die Kriegsverbrecher, die das NS-Regime stützten und zu dessen Machterhalt beitrugen – es waren insbesondere diejenigen Deutschen, die dem Nationalsozialismus und der politischen Gleichschaltung freudig oder zumindest ergeben gegenübertraten und/oder sich in der Folge der Nationalsozialistischen Partei (NSDAP) anschlossen und sich damit dem System andienten. Ebendiese Haltung lässt sich für weite Teile der deutschen Zahnärzteschaft nachweisen: Das Gros der Berufsvertreter begrüßte die neuen Machthaber und die umgehende „Gleichschaltung“ der Zahnärzteschaft, so dass es sich eigentlich um eine „Selbstgleichschaltung“ handelte. Der Nationalsozialist Ernst Stuck (Abb. 3) wurde ohne merklichen Widerstand als „Reichszahnärzteführer“ anerkannt, der Frankfurter Professor Otto Loos zum zahnärztlichen „Reichsdozentenführer“ und Hermann Euler zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) ernannt. Die führenden zahnärztlichen Hochschullehrer schlossen sich zudem zu einer „Einheitsfront“ zusammen, die Stuck als obersten Führer bestätigte.
Auch die Affinität der Zahnärzte zur NSDAP war außergewöhnlich hoch. Bislang ging man davon aus, dass die Ärzteschaft im „Dritten Reich“ unter allen Berufsgruppen den mit Abstand höchsten Organisationsgrad in der NSDAP aufwies. Kater bezifferte ihren Anteil auf der Grundlage eigener Stichproben auf 45 Prozent – während zum Beispiel bei Juristen und Lehrern eine Quote von 25 Prozent angenommen wird.26 Auch für die Gruppe der Hochschullehrer gibt es Schätzwerte: Buddrus/Fritzlar vermuteten 2007, dass sich „im Reichsmaßstab etwa 40 Prozent der Universitätsprofessoren der NSDAP angeschlossen hatten“27 , und Grüttner schätzte ihren Anteil gar auf bis zu zwei Drittel.28 Tatsächlich konnte Groß im Rahmen des erwähnten Projekts die Parteizugehörigkeit sämtlicher 360 vor 1922 geborenen Hochschullehrer der Zahnheilkunde und Kieferchirurgie überprüfen: Dabei wurde für 217 Personen beziehungsweise gut 60 Prozent eine NSDAP-Mitgliedschaft nachgewiesen – ein ungewöhnlich hoher Anteil.29
Doch wie lässt sich die hohe Affinität der Zahnärzteschaft zur NSDAP erklären? Einen wichtigen Erklärungsansatz bietet die Konkurrenz zu den Dentisten: Beide Berufsgruppen kämpften um Anerkennung, beide erstrebten die Rückendeckung der neuen Machthaber und dienten sich dementsprechend dem NS-Regime an. Zudem glaubten die Zahnärzte in den Nationalsozialisten Mitstreiter im Kampf gegen die ungeliebten Kassenkliniken zu finden.
Fakt ist auch, dass es innerhalb der Zahnärzteschaft bereits lange vor 1933 antisemitische Strömungen gab: So veröffentlichte die Zeitschrift „Im Deutschen Reich“ bereits 1909 eine Liste der „Zahnärzte, die jüdische Assistenten boykottieren“30. Und schließlich dachte das NS-Regime den Zahnbehandlern eine zentrale Rolle bei der „Gesundheitserziehung“ des „deutschen Volkskörpers“ und der Zahngesundheit der deutschen Soldaten zu – darin sah man nicht nur eine Aufwertung der eigenen Tätigkeit, sondern auch individuelle Karrierechancen.. Und schließlich dachte das NS-Regime den Zahnbehandlern eine zentrale Rolle bei der „Gesundheitserziehung“ des „deutschen Volkskörpers“ und der Zahngesundheit der deutschen Soldaten zu – darin sah man nicht nur eine Aufwertung der eigenen Tätigkeit, sondern auch individuelle Karrierechancen.
Doch wie bewertet man nun dieses parteipolitische Bekenntnis zum Nationalsozialismus? Sind die Parteigänger den Tätern zuzurechnen oder führt eine solche Einordnung zu weit? Die Antwort hängt vom Auge des Betrachters ab: Letztlich war es genau diese politische Linientreue, dieses Sich-Andienen, das dem NS-Regime mit zum Erfolg und zur verhängnisvollen Machtfülle verhalf. Zahnärzte, die Mitglieder der NSDAP wurden, sprachen sich damit für die NS-Gesundheitspolitik aus, die immer auch Rassen- und Bevölkerungspolitik war. Aus dieser Sicht erscheint es probat, von Tätern oder zumindest Mittätern zu sprechen. Geht man dagegen davon aus, dass viele Deutsche nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern zuvorderst aus politischem Opportunismus beziehungsweise Karrierestreben NSDAP-Mitglied wurden, wird man eher auf den Begriff „Mitläufer“ rekurrieren, sofern die betreffenden Personen nicht durch konkrete Handlungen hervorgetreten sind. Letztlich jedoch sind die Grenzen fließend und nur beim Blick auf jeden einzelnen Fall konkret zu bestimmen.
Mitläufer, Zuschauer, Entlastete:
Der Streit um Begrifflichkeiten
An dieser Stelle ist anzumerken, dass gerade die angesprochene Bildung von Kategorien jenseits der eindeutigen „Täter“ und der eindeutigen „Opfer“ auch innerhalb der Wissenschaft durchaus umstritten ist. Dabei fehlt es nicht an Versuchen: Aus den Entnazifizierungsverfahren kennt man zum Beispiel neben den Tätern die beiden Kategorien „Mitläufer“ und „Entlastete“31. Raul Hilberg vertritt dagegen sehr prominent eine Dreiteilung in „Täter, Opfer und Zuschauer“32 während das von Dominik Groß verfasste, 2020 erscheinende „Personenlexikon der Zahnärzte im ‚Dritten Reich‘ und im Nachkriegsdeutschland“ mit dem Untertitel „Täter, Mitläufer, Entlastete, Oppositionelle, Verfolgte“ aufwartet und damit fünf Kategorien differenziert.33 Groß rückt dabei bewusst vom vorgenannten Begriff „Zuschauer“ ab, weil dieser eine passive Haltung der betreffenden Personen suggeriert. Der Begriff unterstellt, dass die besagten Personen nicht Teil des Geschehens gewesen seien, sondern dies von außen betrachtet hätten. Tatsächlich waren jedoch alle im „Dritten Reich“ lebenden und tätigen Deutschen Akteure. Im Unterschied zum „Zuschauer“ lässt der Begriff „Mitläufer“ eine aktive Rolle erkennen – konkret: ein durch Konformität („Mitlaufen“) gekennzeichnetes Handeln, ohne sich hierbei politisch zu exponieren. Auch der Begriff „Entlastete“ ist vielschichtiger als der Terminus „Zuschauer“: Er bietet die zusätzliche Information, dass die betreffenden Personen dem initialen Vorwurf einer politischen Verstrickung ausgesetzt waren, der jedoch entkräftet wurde.
Unterschiedliche Gruppen von Verfolgten
Zu guter Letzt ist zu betonen, dass es bei näherer Betrachtung auch durchaus unterschiedliche Gruppen von Verfolgten gibt. Der Begriff subsumiert alle Personen, die durch das NS-Unrechtsregime zu Schaden gekommen sind, ohne ihnen jedoch die passive Rolle als „Opfer“ zuzuweisen. Er gibt aber keinen Aufschluss über die Hintergründe beziehungsweise über den Weg, der zur Verfolgung geführt hat. Wer aus rassistischen Gründen verfolgt wurde oder den Nationalsozialisten als „politisch missliebig“ galt, bekam dies bereits ab 1933 zu spüren.
Versuche, unter den Umständen von sozialer und wirtschaftlicher Diskriminierung in Deutschland zu überleben oder die Auswanderung zu wagen, waren gerade nicht von Passivität gekennzeichnet. Vielmehr machten sie aktive Versuche nötig, mit der neuen Umwelt in Deutschland oder im Einwanderungsland umzugehen. Dies gilt umso mehr für Personen, die in Ghettos oder Konzentrationslager deportiert wurden.
Die Gruppe der Verfolgten schließt auch Oppositionelle und Widerstandskämpfer ein. Claus Schenk Graf Stauffenberg etwa gehörte als deutscher Wehrmachtsoffizier zu Beginn keineswegs zu den Verfolgten des NS-Regimes: Er entschied sich jedoch für den politischen Widerstand, wurde enttarnt und bekanntlich am 20. Juli 1944 hingerichtet.
Doch auch aktive Nationalsozialisten konnten in die Rolle eines Verfolgten einrücken – etwa, wenn sie in (partei)interne Grabenkämpfe gerieten und hierbei den Kürzeren zogen. So gibt es etliche Beispiele von Fachvertretern aus der Zahnheilkunde, die genau dies erlebten. So wurde der Dentist Friedrich Krohn, der am Entwurf der Parteifahne beteiligt war, durch einen Parteigenossen „kaltgestellt“.34 Auch der zahnärztliche Hochschullehrer Guido Fischer – Wegbereiter der zahnärztlichen Lokalanästhesie und glühender Nationalsozialist – wurde zum Objekt parteiinterner Rangkämpfe; letztere endeten mit Fischers Zwangsemeritierung.35 Dennoch wäre es verfehlt, sein Schicksal mit dem eines entrechteten Juden oder aber eines enttarnten Widerstandskämpfers gleichzusetzen – auch wenn Fischer selbst sich nach 1945 wiederholt zum NS-Opfer stilisierte.Auch der zahnärztliche Hochschullehrer Guido Fischer – Wegbereiter der zahnärztlichen Lokalanästhesie und glühender Nationalsozialist – wurde zum Objekt parteiinterner Rangkämpfe; letztere endeten mit Fischers Zwangsemeritierung.Dennoch wäre es verfehlt, sein Schicksal mit dem eines entrechteten Juden oder aber eines enttarnten Widerstandskämpfers gleichzusetzen – auch wenn Fischer selbst sich nach 1945 wiederholt zum NS-Opfer stilisierte.
Diese Ausführungen zeigen, wie schwierig derartige Einordnungen im Einzelfall sein können. Für die nun startende zm-Reihe wurden gezielt Personen ausgewählt, die zweifelsfrei den Tätern oder den Verfolgten zuzuordnen sind. Dabei werden wir in jeder Ausgabe jeweils einen Täter und einen Verfolgten vorstellen. Auf diese Weise möchten wir deutlich machen, dass es Zahnärzte in beiden Gruppierungen gab. Entsprechend wichtig erscheint es uns, beide Personengruppen im Blick – und in der kollektiven Erinnerung – zu behalten. Die Spannung, die sich dabei zwischen den Lebensläufen ergibt, ist durchaus gewollt. So versprechen die individuellen Biografien dieser Personen und ihre spezifischen Lebenswege sehr viel konkretere Einblicke ins Dritte Reich und ins Nachkriegsdeutschland als das bloße Referieren und Bewerten von Zahlen und Statistiken.
Grundlage dieses Beitrags sind die Ergebnisse des von BZÄK, KZBV und DGZMK geförderten Aufarbeitungsprojekts zur Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus, das 2017 begonnen und dessen Ergebnisse am 28. November 2019 in Berlin offiziell vorgestellt wurden.
Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MIT I, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de
Dr. Matthis Krischel Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de
1-4 Schwanke et al., 2016; Kirchhoff/Heidel, 2016; Groß et al., 2018a; Groß/Krischel, 2019
5 Guggenbichler, 1988, 134 u. 138
5-6 Guggenbichler, 1988, 134 u. 138; Stand der Zahnärzte, 1938
7 Stuck, 1939
8-12 Groß, 2017:107(8): 56–58; Halling et al., 2018; Groß, 2018a; Reinecke et al., 2019; Wilms/Groß, 2020
13-14 Schulz, 1989; Westemeier et al., 2018
14 Westemeier et al., 2018, 96f (Quellenbestand ergänzt um Nachrecherchen)
15 Heit et al., 2019
16 Schmidt et al., 2018
17 Groß, 2018b
18 Huber, 2009;19 Schwanke/Gross, 2020;
20 Rinnen et al., 2020;
21 Groß et al., 2018b;
22 Thieme, 2018;
23-25 Staehle/Eckart, 2005; Groß, 2018c; Groß et al., 2016;
26 Kater, 2000, 104f.;
27 Buddrus/Fritzlar, 2007, 23;
28 Grüttner, 2010, 150;
29 Groß, 2020;
30 Zahnärzte, 1909;
31 Niethammer, 1982;
32 Hilberg, 1997;
33 Groß, 2020;
34 Reinecke et al., 2018;
35 Groß, 2018d
Literaturliste
1. Enno Schwanke, Matthis Krischel, Dominik Gross: Zahnärzte und Dentisten im Nationalsozialismus: Forschungsstand und aktuelle Forschungsfragen, Medizinhist J 2016;51:2–39
2. Wolfgang Kirchhoff, Caris-Petra Heidel (Hrsg.): „…total fertig mit dem Nationalsozialismus?“. Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2016
3. Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018a
4. Dominik Groß, Matthis Krischel: „... den Versprechungen der Nazis zu viel Glauben geschenkt“?, FAZ, 2.12.2019, 7
5. Norbert Guggenbichler: Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz. Zahnärzteopposition vor 1933. NS-Standespolitik 1933–1939, Frankfurt am Main 1988
6. Stand der Zahnärzte Ende 1937, Zahnarztl Mitt 1938;29:935
7. Ernst Stuck: Die Ausschaltung der Juden aus der deutschen Zahnheilkunde, Zahnarztl Mitt 1939;30:84
8. Dominik Groß: Hans Moral – Miterfinder der Lokalanästhesie, Zahnarztl Mitt 2017:107(8): 56–58
9. Thorsten Halling, Frank Sparing, Matthis Krischel: Erinnerungskulturen als Teil einer integrierten Geschichte des Holocausts. Der Düsseldorfer Zahnarzt Waldemar Spier (1889-1945), in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 215–237
10. Dominik Groß: Alfred Kantorowicz – Wegbereiter der Jugendzahnpflege, Zahnarztl Mitt 2018a;107(7):102–103
11. Katharina Reinecke, Jens Westemeier, Dominik Gross: In the shadow of National Socialism: Early Emigration and Suicide of the Histo- and Oral Pathologist Rudolf Kronfeld (1901-1940), Pathol Res Pract 2019;215, DOI: 10.1016/j.prp.2019.152682
12. Karl Frederick Wilms, Dominik Groß: Der jüdische Oralpathologe Bernhard Gottlieb (1885-1950) und seine „wissenschaftliche Entwurzelung“ im „Dritten Reich“, Pathologe 41 (2020), im Druck
13. Wilhelm Schulz: Zur Organisation und Durchführung der zahnmedizinischen Versorgung durch die Waffen-SS in den Konzentrationslagern während der Zeit des Nationalsozialismus, Diss. med. dent. Bonn 1989
14. Jens Westemeier, Dominik Groß, Mathias Schmidt: Der Zahnarzt in der Waffen-SS – Organisation und Arbeitsfeld, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 93–112
15. Alexander Heit, Jens Westemeier, Dominik Groß, Mathias Schmidt: “It's all over now.” The dentist Helmut Kunz and the killing of the children of Joseph Goebbels, Br Dent J 2019;227(11), DOI: 10.1038/s41415-019-0992-1
16. Mathias Schmidt, Dominik Groß, Jens Westemeier: Dr. Hermann Pook – Leitender Zahnarzt der Konzentrationslager, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 113–127
17. Dominik Groß: Zahnärzte als Täter. Zwischenergebnisse zur Rolle der Zahnärzte im „Dritten Reich“, Dtsch Zahnarztl 2018b;73(3):164–178
18. Barbara Huber: Der Regensburger SS-Zahnarzt Dr. Willy Frank, Würzburg 2009
19. Enno Schwanke, Dominik Gross: Activity profiles, responsibilities and interactions of dentists at Auschwitz. The example of 2nd SS-Dentist Willi Schatz, Med Hist 2020;94: in press
20. Christiane Rinnen, Jens Westemeier, Dominik Gross: Nazi dentists on trial. On the political complicity of a long-neglected group, Endeavour 2020;44: in press
21. Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt: „Die Grundfarbe der Geschichte ist grau“. Reinhold Ritter (1903-1987) und seine Rezeption vor und nach 1945, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 285–321
22. Volker Thieme: Das Fach Kieferchirurgie und die „rassenhygienische Ausmerze“ der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 169–185
23. Hans Jörg Staehle, Wolfang U. Eckart: Hermann Euler als Repräsentant der zahnärztlichen Wissenschaft während der NS-Zeit, Dtsch Zahnarztl Z 2005;60:677–694
24. Dominik Groß: Hermann Euler – der enttarnte DGZMK-Präsident, Zahnarztl Mitt 2018c;108(12):92–93
25. Dominik Groß, Mathias Schmidt, Enno Schwanke: Zahnärztliche Standesvertreter im „Dritten Reich“ und nach 1945 im Spiegel der Lebenserinnerungen von Hermann Euler (1878-1961) und Carl-Heinz Fischer (1909-1997), in: Matthis Krischel, Mathias Schmidt, Dominik Groß (Hrsg.): Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Berlin und Münster 2016, 129–171
26. Michael H. Kater: Ärzte als Hitlers Helfer, Hamburg und Wien 2000
27. Michael Buddrus, Sigrid Fritzlar: Die Professoren der Universität Rostock im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon, München 2007
28. Michael Grüttner: Nationalsozialistische Wissenschaftler: ein Kollektivporträt, in: Michael Grüttner et al. (Hrsg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 149–165
29. Dominik Groß: Personenlexikon der Zahnärzte im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Täter, Mitläufer, Entlastete, Oppositionelle, Verfolgte. Band 1, Stuttgart 2020
30. Zahnärzte, die jüdische Assistenten boykottieren, Im Deutschen Reich – Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1909;15(6):394–395
31. Lutz Niethammer: Die Mitläuferfabrik: Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin und Bonn 1982
32. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt a. M. 1997
33. Dominik Groß: Personenlexikon der Zahnärzte im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Täter, Mitläufer, Entlastete, Oppositionelle, Verfolgte. Band 1, Stuttgart 2020
34. Katharina Reinecke, Jens Westemeier, Dominik Groß: Der „Zahnarzt“ aus „Mein Kampf“ – Die biografischen Selbstdeutungen des Starnberger Dentisten Friedrich Krohn (1897-1967), in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ – Eine Bestandsaufnahme, Berlin und Münster 2018, 65–89
35. Dominik Groß: Guido Fischer – Pionier der Lokalanästhesie, Zahnarztl Mitt 2018d;107(6), 100–101