Auf dem Abstellgleis
Die gerade erst ins Leben gerufenen Disease-Management-Programme (DMP) stehen schon auf der Abschussliste, bevor sie richtig gestartet sind. Ob und wann die ersten Chroniker-Programme umgesetzt werden, steht in den Sternen.
Die Sachlage ist klar: Zwanzig Prozent der Versicherten sind chronisch krank und verursachen laut Gesundheitsministerium 80 Prozent der Kosten. Unbestritten auch: Trotz guter ärztlicher Leistungen im deutschen Gesundheitswesen gibt es eine Über-, Unter und Fehlversorgung in einzelnen Bereichen. Ziel der DMPs: die Versorgung chronisch Kranker zu verbessern und Folgeschäden - beim Diabetes beispielsweise Amputationen - zu verhindern. Finanziert werden die Programme über den Risikostrukturausgleich (RSA).
Diese Verknüpfung von medizinischer Verbesserung in Abhängigkeit von finanziellen Aspekten bringt die Gegner auf die Palme. Kritiker werfen der Bundesregierung die Kombination der Chronikerprogramme mit dem RSA vor: So würden zwar die Ausgaben der Kassen, nicht aber eine bessere Behandlung honoriert, heißt es aus Unions-Kreisen. Es wird befürchtet, dass unter den Krankenkassen eine Konkurrenz um die Chroniker entbrennt, ohne sich um die Versorgungsqualität kümmern zu müssen. Hauptsache, die neue Geldquelle sprudelt. Die Deutsche Krebsgesellschaft hat bereits kritisiert: Die vorgelegten Behandlungsprogramme für Brustkrebspatientinnen blieben hinter "international längst etablierten Standards und Anforderungen" zurück.Zweites gewichtiges Problem: die Datenmacht. Die Kassen verlangen einen umfangreichen Datensatz zu jedem behandelten Patienten, um die Programme in ihrem Sinne steuern zu können. Die Ärzte befürchten nicht nur den "gläsernen Patienten", sondern sehen auch ihre Therapiefreiheit angetastet. Das Ergebnis: Abbruch der Gespräche zwischen Kassen und KBV und somit kein bundesweiter Vertrag für die Chroniker-Programme.
Trotzdem starteten die ersten beiden DMPs - Brustkrebs und Diabetes - planmäßig zum 1. Juli 2002. Per ministerieller Verordnung und ohne einen einzigen bestehenden Vertrag. Jetzt müssen die Kassen mit den einzelnen Länder-KVen verhandeln. Auch hier ist zurzeit kein Vertragsabschluss in Sicht. Damit scheint zumindest soviel besiegelt: Vor der Bundestagswahl dürfte es keine DMPs geben.
Abkopplung
Und für einen eventuellen Regierungswechsel hat der CSU-Gesundheitspolitiker Horst Seehofer bereits angekündigt, die Programme sofort wieder vom RSA abzukoppeln. "Die Kritik aus der Ärzteschaft an den Programmen ist berechtigt", so Seehofer. Die Ärzte allerdings hatten gar nicht so große Bedenken, "die sich aus der Verquickung solcher strukturierten Behandlungsprogramme mit dem Risikostrukturausgleich der Krankenkassen ergeben." Die KBV sieht stattdessen die Patient-Arzt Beziehung in Gefahr. "Der Patient muss Herr seiner Daten bleiben", brachte es KBV-Chef Manfred Richter-Reichhelm auf den Punkt. Die Ärzteverbände NAV-Virchow-Bund und Hartmannbund haben folgerichtig zum Boykott aufgerufen: Die niedergelassenen Ärzte werden aufgefordert, an den DMPs einfach nicht teilzunehmen. Die Programme basieren - zumindest bisher - auf Freiwilligkeit.
Dabei steht die Ärzteschaft den Programmen prinzipiell durchaus positiv gegenüber: "Es ist richtig, sich noch intensiver als bislang um Chroniker zu kümmern. Versorgungsmanagement braucht eine seriöse Qualitätssicherung", so Richter-Reichhelm. Die Idee der Programme ist also gut, doch jetzt wird von allen Seiten an ihnen gezerrt und gerupft. Die Kassen wollen den RSA und die Datenmacht, die Ärzte fordern ihre Therapiefreiheit ein und weisen die Kassen in ihre Schranken. Und die Politik betreibt Wahlkampf.
Der AOK-Bundesverband hat nun an die Union appelliert, Patienten nicht aus Wahlkampfgründen von der Teilnahme an den DMPs abzuschrecken. Vorangegangen war die Aufforderung der CDU/CSU an die Regierung, die Programme sofort zu stoppen. Die Versorgung der Patienten würde sich durch die DMPs nicht verbessern, sondern verschlechtern. Die AOK kontert, dass die medizinischen Inhalte der Programme längst die Zustimmung der Ärzteschaft hätten.
Für die großen Orts- und Ersatzkassen - im Gegensatz zu den vergleichsweise "jungen" BKKn - bedeutet die von Seehofer angekündigte Abkopplung der Programme vom Risikostrukturausgleich den absoluten Gau. Diese Kassen haben auf Grund ihres Mitgliederprofils besonders viele chronisch Kranke unter ihren Versicherten. Ihr Argument heißt Solidarität: Durch die RSA-Reform werden die besonders hohen Behandlungskosten für Chroniker auf alle Kassen verteilt.
Die Barmer Ersatzkasse ist nun zum Gegenangriff übergegangen: Sie will Seehofer unter Druck setzen, indem sie Tatsachen schafft. Noch vor den Bundestagswahlen sollen DMP-Verträge mit den KVen Nordrhein und Westfalen-Lippe abgeschlossen werden. BEK-Chef Eckart Fiedler kündigte an, die Verträge unter den Vorbehalt zu stellen, dass die Verknüpfung von RSA und DMP Bestand hat.