Absinthmissbrauch

Wermut - gefährliches Kraut in harmloser Verpackung

Die Flasche ist im historischen Design gestaltet, die alkoholische Flüssigkeit schimmert smaragdgrün. Rein äußerlich kommt der Absinth unschuldig daher. Doch der Inhalt ist gefährlich: Es ist das Nervengift Thujon, das den Wermutschnaps so gefährlich macht. Fast 70 Jahre lang war Absinth in Deutschland verboten – jetzt wird er zum Modegetränk.

„Im ersten Stadium ist es wie ordinäres Trinken, im zweiten beginnst Du monströse und grausame Dinge zu sehen, aber wenn Du dann weiter durchhälst, wirst Du das dritte Stadium erreichen, in dem Du die Dinge sehen kannst, die Du sehen willst, wundervolle, seltsame Dinge.“ So soll der Dichter und Schriftsteller Oscar Wilde die Wirkung des Absinth beschrieben haben – aus eigener Erfahrung. Und tatsächlich: Der grüne Wermutschnaps hat es in sich. Deshalb waren fast 70 Jahre – von 1923 bis 1991 – Konsum und Herstellung in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern verboten. Nicht ohne Grund. Massenhafter Konsum hatte im 19. Jahrhundert in ganz Europa zu epidemieartigem Absinthmissbrauch geführt – mit entsprechenden medizinischen Folgeproblemen. Auslöser der Erkrankungen: eine extrem hohe Konzentration des Nervengiftes Thujon in Kombination mit hochprozentigem, minderwertigem Industriealkohol.

Halluzinationen

„Absinthismus“ wurde das Syndrom des chronischen Missbrauchs genannt und in Abgrenzung zum gewöhnlichen Alkoholismus beschrieben. Halluzinationen, epileptiforme Anfälle und Hirnschäden waren drastische Auswirkungen eines exzessiven Konsums des gefährlichen Tröpfchens.

Van Gogh im Absinthrausch

Psychische Erkrankungen und damit einhergehend eine erhöhte Selbstmordrate waren weitere Folgen. Ein prominentes Beispiel der verheerenden Wirkung des grünen Wermutschnapses ist Vincent Van Gogh. Der Maler war abhängiger Absinthtrinker und setzte sich in Briefen und auch seinem künstlerischen Werk intensiv mit dem Getränk auseinander. Van Gogh litt an psychopathologischen Symptomen – Halluzinationen und Bewusstseinsstörungen – ebenso wie an schweren gastrointestinalen Beschwerden. Es gilt als gesichert, dass sich der Impressionist im Absinthrausch ein Ohr abschnitt, bevor er wenig später im Alter von 37 Jahren Selbstmord beging.

Ein weiterer berühmter Freund und exzessiver Genießer des grünen Hochprozenters war Ernest Hemingway. Anspielungen darauf tauchen bei Hemingway in vielen berühmten Werken auf, etwa in „Wem die Stunde schlägt“. Hier beschreibt er das grüne Gift als „die Zunge betäubende, Gehirn und Magen wärmende, Ge-danken verändernde flüssige Alchemie.“ Hemingway trank Absinth, obwohl dieser bereits in den meisten Ländern verboten war. Der Cocktail „Death in the afternoon“ – eine Mischung aus Champagner und dem grünen Tropfen – wurde von ihm kreiert. Hemingway beging 1961 Selbstmord.

Die grüne Fee

Absinth ist ein Branntweindestillat mit Auszügen aus Anis, Fenchel, Zitronenmelisse und Wermut (Artemisia absinthum). Aufgrund seines hohen Chlorophyllgehalts ist es smaragdgrün – was ihm auch den Namen „grüne Fee“ einbrachte. Der bittere Geschmack des Schnapses ist auf den Gehalt des Glycosids Absinthin zurückzuführen. Seine besondere Rolle unter den Hochprozentern ist in der Verwendung des Wermutkrauts – eine Pflanze aus der Klasse der Beifußgewächse – begründet. Die Essenz des Krauts, das Wermutöl, enthält 40 bis 70 Prozent Thujon, das als gastro-, neuro- und nephrotoxisch gilt. Im Gegensatz zum Wermutwein, der mit wässrigen Auszügen der Pflanze versetzt wird (Thujon ist nicht wasserlöslich), finden sich im Absinth durch die Wasserdampfdestillation sehr hohe Thujonkonzentrationen. Thujon stimuliert das zentrale Nervensystem – der ersten Erregung können allerdings schnell Depressionen folgen. Bei gelegentlicher Aufnahme wird die Libido stimuliert, es kann zu auditiven und visuellen Halluzinationen kommen. Klinische Symptome bei chronischem Missbrauch: Haarausfall, Schädigung des Sehnervs und Urämie. In Tierversuchen wurde nachgewiesen, dass Thujon krampfartige Anfälle auslöst, die erst klonischen (Kontraktion und Erschlaffung), dann tonischen (Dauerkrampf) Charakter haben. Diese Beobachtungen stimmen mit den historisch beschriebenen epileptischen Anfällen der Absinthisten überein. In der molekularen Struktur weist Thujon große Ähnlichkeiten zu Tetrahydrocannabinol (THC) auf, dem Wirkstoff der Cannabispflanze. Thujon bindet an den Cannaboidrezeptor des Gehirns. Neben der neurotoxischen Wirksamkeit gilt Thujon auch als nephrotoxisch. Es gehört zur Klasse der Terpene. Von diesen ist bekannt, dass sie porphyrogene Eigenschaften haben.

Bereits seit dem antiken Rom ist die anthelminische und uterusstimulierende Wirkung des thujonhaltigen Beifußgewächses bekannt. Doch erst mit der Industrialisierung wurde die flächenartige Verbreitung und für jedermann bezahlbare Herstellung des Wermutschnapses möglich.

Toxische Historie

Den Siegeszug des Absinths läutete 1805 Henri-Louis Pernod gemeinsam mit seinem Schwiegervater ein – die anfängliche Produktion betrug allerdings nur wenige hundert Liter pro Jahr.

Kommerziell erfolgreich wurde die Herstellung mit dem französischen Algerienfeldzug Mitte des 19. Jahrhunderts. Die französischen Soldaten hatten Anrecht auf eine tägliche Ration Absinth. Es wird vermutet, dass dies – neben der Stärkung der Kampfmoral – auch der Malariaprophylaxe dienen sollte, da eine dem Wermutkraut verwandte Pflanze (Artemisia Annua) als Malariamittel bereits bekannt war.

Die Produktion stieg schnell auf über 20 000 Liter – die „grüne Fee“ hielt Einzug in den rasch wachsenden Großstädten und wurde zum Kultgetränk. In den Mittagsstunden zelebrierte man in den Straßencafes die „heure verte“. Um die Jahrhundertwende lag der Absinthabsatz bereits bei 100 000 Litern – der Wermutschnaps zog in den nächsten Jahren in einem triumphalen Siegeszug durch ganz Europa. Die medizinischen Probleme durch den Missbrauch wurden immer offenkundiger: In der Fachliteratur sprach man von Absinth-Epilepsie und verstärktem Drang zu Selbstmordversuchen. Ebenso wurde immer häufiger eine Absinth-Blindheit beschrieben. Es kam zu ersten Verboten in Belgien (1905), Schweiz (1907) und Italien (1913) und schließlich auch Frankreich (1915). Fortan wurde das heikle Getränk von Pernod ohne das Wermutkraut hergestellt – und heißt seitdem Pastis. Auch in Deutschland wurden Herstellung und Konsum, die hier eigentlich keine große Rolle gespielt hatten, 1923 verboten.

Gefahr aus dem Internet

Mit der Liberalisierung des europäischen Marktes fiel auch das Absinthverbot. Seit 1991 ist ein reglementierter Thujon-Anteil EG-weit wieder zulässig. Die Höchstgrenzen wurden in Deutschland bei alkoholischen Getränken bis zu 25 Volumen-Prozent auf fünf Milligramm, bei höherem Alkoholgehalt auf zehn Milligramm pro Kilogramm festgelegt. Absolutes Höchstmaß sind 35 Milligramm bei Bitterspirituosen.

Die grüne Fee ist wieder auf dem Markt und erlebt ein Revival: als Modegetränk. Absintheure – so nannten und nennen sich die Absinthtrinker selbst – sind europaweit auf dem Vormarsch. Corporate Identity, die heute im Internet (www.absinth.de) zum Kult erhoben wird. Dort erfährt man auch alles über das „Absinth-Trinkritual“: Auf einem speziellen Absinthlöffel wird Zucker mit Absinth beträufelt und angezündet. Wenn der Zucker karamelisiert, wird er in einem Glas Absinth abgelöscht und diese Mischung mit kaltem Wasser gestreckt. Dadurch werden die ätherischen Öle ausgefällt und die entstandene kolloidale Lösung ergibt das typisch milchig-weiße Getränk.

Es ist eine altbekannte Weisheit: Spaß macht, was verboten ist. Im Internet lassen sich problemlos Anbieter finden, die den grünen Schnaps mit einer gefährlichen Thujon-Konzentration von 100 Milligramm versprechen – fast dreimal soviel wie die in Deutschland zulässige Höchstgrenze. Gezielt „warnen“ die Hersteller im Internet vor den Wirkungen des Wermutkrautes – und stacheln so subtil die Probierlust der überwiegend jungen Konsumenten an.

Jugend im Visier

Im New England Journal of Medicine (1997; 337 : 825-827) wird von einem Fall berichtet, in dem ein sonst gesunder 31-jähriger Mann über das Internet bestelltes Wermutöl trank – im Glauben, es sei Absinth. Er hatte im Web über die Wirkung von Thujon erfahren und zehn Milliliter unverdünnt getrunken. Die Folge: akutes Nierenversagen mit intensivmedizinischer Betreuung. Spaß macht, was gefährlich ist.

Der Kult wird vor allem in der Jugendszene gezielt vorangetrieben: In Duisburg fand kürzlich die erste Tabu-Absinth-Club-Party vor cooler Industriekulisse statt. In Berlin ist der Wermutschnaps in den Szene- Kneipen ein „must“ und im Hollywoodstreifen „Moulin Rouge“ nahm die „grüne Fee“ sogar verführerische Gestalt an: Die Sängerin Kylie Minogue erschien chlorophyllgrün und psychoaktiv all denen, die sich der berauschenden Wirkung des Absinths nur allzu gerne hingaben. So wird der bittere Wermutschnaps vor allem in der konsum- und probierfreudigen Jugendkultur etabliert. Spaß macht, was in ist.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rückkehr der „grünen Fee“ die alten medizinischen Probleme wieder neu entfacht. Durch das lange Verbot steht die moderne Medizin dem Problem weitgehend ratlos gegenüber. Neuere, valide Forschungsergebnisse über die Folgen des Absinthkonsums sind rar. Und auch die Vergiftungszentralen (www.Vergiftungszentrale.de), so schreibt es das Deutsche Ärzteblatt (Heft 42 2001), sind auf die Problematik durch Absinthismus nicht vorbereitet.

Otmar Müller

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.