Die Anamnese in Medizin und Zahnmedizin
Die Erhebung der Anamnese oder Krankheitsvorgeschichte (engl. history) stellt den ersten Schritt im Behandlungsprozess dar und ist neben der klinischen Untersuchung der zweite Pfeiler der traditionellen ärztlichen Informationsgewinnung [Adler und Hemmeler 1989]. Wie die etymologische Herkunft des Begriffes Anamnese zeigt, ist die Erinnerung des Patienten dabei die vorrangige Informationsquelle. Falls der Patient nicht fähig ist, Auskunft zu geben (Kinder, geistig Behinderte, sehr alte Menschen), müssen die Angehörigen befragt werden.
Anamneseformen
Folgende Anamneseformen werden unterschieden [Dahmer 1998]:
• Freie Anamnese: persönliches Eingehen des Arztes, weitgehend eigene Formulierungen des Patienten; zeitintensiv und nur bei entsprechender Erfahrung des Arztes effizient, aufwändige Dokumentation (nur Freitext)
• Vollstandardisierte Anamnese: kein persönliches Eingehen, kaum Spielraum für eigene Patientenformulierungen und individuelle Gewichtung von Daten, aber ökonomische Erfassung und volle Vergleichbarkeit der erhobenen Daten
• Teilstandardisierte Anamnese: große Bereiche vergleichbarer Patientendaten dokumentierbar, Spielraum für Patientenformulierungen, effiziente Dokumentation möglich (ja/nein-Daten, quantitative beziehungsweise Zeitangaben, gegebenenfalls Freitext auf offene Fragen).
Die allgemein-medizinische Anamese umfasst im Allgemeinen:
• die Hauptbeschwerde(n) mit Angaben über Dauer, subjektive Stärke, Art, Ort, Funktion und Umstände
• Begleitbeschwerden, Systemübersicht
• Bisheriger Krankheitsverlauf
• Frühere Krankheiten und Unfälle
• Gewohnheiten und Medikamente
• Sozioökonomische Anamnese: Familie, Wohnung, wirtschaftliche Verhältnisse, Arbeitsplatz, Freundeskreis
• Psychologische Anamnese: Triebe, Stimmungen und Gefühle, Motive, Intellekt
• Familienanamnese: Krankheiten in der Blutsverwandtschaft, Angaben zu Vater, Mutter, Geschwister, Familie
Durch die apparativen diagnostischen Möglichkeiten der modernen Medizin hat die Anamnese in der Praxis an Stellenwert eingebüßt. Wie eine Literaturrecherche zum Thema Anamnese zeigt, finden sich entsprechende Publikationen zu Unrecht heute meist nur im psychosomatischen oder alternativ-medizinischen Umfeld. Dabei steht das Informationspotential der Anamnese hinter anderen diagnostischen Instrumenten oftmals nicht zurück und ihre ökonomische Kosten-Nutzen-Relation ist – bei gezielter Erhebung – häufig günstiger.
Im Hinblick auf die speziellen Bedürfnisse der Zahnmedizin existiert bislang nur wenig Literatur zur Anamnese. Abgesehen von einigen allgemeinen Arbeiten [Sala-din 1975, Brägger 1994, Blomgren und Hogevik 1994] wurden dabei spezielle Fragen der Prothetik [Kobes 1974, Langer 1974] und Oralchirurgie [Schroll 1974, Waldhart 1974] oder Einzelaspekte, wie Dokumentation [Kotschy 1979], Ernährung [Toors et al. 1978] und Psychosomatik [Duinkerke et al. 1984, Steinbrecher und Friedrich 1990], behandelt; Fisker und Brinch-Iversen [1975] legten einen allgemeinen Anamneseleitfaden vor.
Für die Zahnmedizin ist, sofern nicht der Verdacht auf eine psychosomatische Problematik vorliegt, unter dem Gesichtspunkt der Informationsgewinnung eine komprimierte Form der Anamnese ausreichend. Hierdurch lässt sich zudem die Patientenzufriedenheit steigern [Eijkman und Kieft 2001].
Wie die sozialwissenschaftliche Forschung zur Datenerhebung mittels Befragung gezeigt hat, kommt es darauf an, eine möglichst geringe Anzahl möglichst aussagekräftiger Fragen zu identifizieren, mit deren Hilfe die notwendige Information ökonomisch erhoben werden kann. Neben der intuitiven klinischen Erfahrung stehen hierfür auch wissenschaftliche Instrumente, wie die statistische Regressions- beziehungsweise Diskriminanzanalyse zur Verfügung [Helfenstein und Steiner 1994]. Die Evaluation der Prädiktoren erfolgt dann durch Followup Untersuchungen oder den Vergleich mit anderen (validen) Informationsquellen und drückt sich in der Angabe von Sensitivitätsund Spezifitätsraten aus. Für epidemiologische Zwecke wird dieses methodische Vorgehen bereits länger angewendet.
Kariesrisikoprognose bei Kindern
Risiko ist definiert als die Wahrscheinlichkeit bestimmter zukünftiger Entwicklungen negativer Ausprägung. So wenig eine Wahrscheinlichkeit in exakten Zahlen erfasst werden kann, so wenig kann auch ein Risiko – hier das Risiko an Karies zu erkranken – mit präzisen Messmethoden und -werten ganz genau bestimmt werden.
Dennoch erschien in den vergangenen Jahren eine Reihe von Publikationen, in denen entsprechende Ergebnisse zu Risikofaktoren oder besser Risikoindikatoren im Hinblick auf die Mundgesundheit berichtet werden [vergleiche Zero et al. 2001]. Dabei spielen erwartungsgemäß die Faktoren Ernährung und Oralhygiene eine herausragende Rolle [Treasure et al. 2001, Wandera et al. 2000]. Die Gewinnung aussagekräftiger Prädiktoren ist oftmals nur gruppenspezifisch möglich. Für eine prophylaxeorientierte Kariesrisikoabschätzung bei Kindern und Heranwachsenden ist hier selbstverständlich das Lebensalter von entscheidender Bedeutung, da sich Faktoren, wie das Konsumverhalten (Süßigkeiten, Rauchen ...), das Hygieneverhalten sowie das Ausmaß der Selbststeuerung, im Entwicklungsverlauf gravierend verändern [Messer 2000].
Bereits Holst und Mitarbeiter [1994, 1997] schlugen vor, das künftige Kariesrisiko bei Kindern anhand der klinischen Untersuchungsbefunde im Alter von einem, zwei und drei Jahren sowie der systematischen Elternbefragung abzuschätzen. Sie bestimmten im Hinblick auf die Aussagekraft dieser prognostischen Merkmale eine Sensitivität, also korrekte Vorhersage eines im Alter von vier Jahren vorliegenden Kariesbefalls, von 58 bis 100 Prozent und eine Spezifität, also korrekte Vorhersage eines im Alter von vier Jahren nicht vorliegenden Kariesbefalls, von 70 bis 99 Prozent. Die häufigsten Risikofaktoren bei den Zweijährigen waren mangelnde Mundhygiene (Plaque), tiefe Fissuren in den Molaren sowie häufiger Konsum gezuckerter Getränke [Holst et al. 1997].
Alanen et al. [1994] untersuchten die Fähigkeit zahnärztlicher Praktiker, das individuelle Kariesrisiko von Kindern ohne Hilfe von Speicheltests zu bestimmen, im Rahmen einer umfangreichen Studie an fast 8 000 Kindern zwischen fünf und 16 Jahren. 77 Untersucher prognostizierten nach der jährlichen Kontrolluntersuchung und Behandlung, ob das Kind während des nachfolgenden Jahres neue Karies entwickeln würde. Insgesamt lag die Sensitivität bei 44 Prozent und die Spezifität bei 90 Prozent.
Auch in jüngster Zeit wurden zur Kariesrisikovorhersage einige interessante Ergebnisse vorgelegt, insbesondere durch die flämische Arbeitsgruppe um Vanobbergen [2001a,b], die ein umfangreiches Sample untersuchten. Sie stellten fest, dass die tägliche Zahnputzfrequenz (</> 1x täglich), das Alters bei Beginn der Zahnreinigung, der Fluoridgebrauch, der tägliche Konsum gezuckerter Getränke zwischen den Mahlzeiten sowie der Konsum von gezuckerten Snacks (£/>2 Snacks) im Alter von sieben Jahren einen signifikanten Zusammenhang mit dem Kariesrisiko im Alter von zehn Jahren aufwiesen. Allerdings lagen die Sensitivitäts- und Spezifitätsraten mit 59 bis 73 Prozent eher niedrig.
Bei Vorschulkindern wurden für die Kariesvorhersage im Schulalter die Faktoren Gebrauch der Nuckelflasche, das Alter bei Beginn der Zahnreinigung (vor/nach zwei Jahren), und der tägliche Konsum von gezuckerten Snacks und Getränken (</3 x) sowie die Häufigkeit des Zähneputzens als bedeutsam identifiziert [Clarke et al. 2001, Mattila et al. 2001].
Altersspezifische Anamnese in der Prophylaxepraxis
Es lag nahe, diesen bisher bereits in der Epidemiologie verwendeten Ansatz auf die individuelle Kariesrisikobestimmung zu übertragen und für die Zwecke der Prophylaxepraxis die Erhebung einer altersspezifischen Anamnese einzuführen.
In unserer Praxis erhalten daher die Eltern der bis zu zwölfjährigen Kinder beziehungsweise Jugendliche ab zwölf Jahren und Erwachsene bei der Anmeldung einen zweiseitigen Anamnesebogen ausgehändigt. Er liegt in altersspezifischen Versionen
• für Kleinkinder (zwei bis sechs Jahre)• Kinder (sechs bis zwölf Jahre)• Jugendliche (zwölf bis 18 Jahre)• Erwachsene
vor und enthält neben den persönlichen Daten des Patienten beziehungsweise Versicherten jeweils Fragen zu den Komplexen
• Ärztliche und zahnärztliche Anamnese• Häusliche Mundhygiene• Fluoride• Ernährung• Rauchen (nur bei Jugendlichen und Erwachsenen)• Funktion (Habits und parafunktionelle Beschwerden)• Zahnarztbesuch/frühere Behandlungen
Die Antworten auf bestimmte, altersspezifisch besonders prognostisch valide Fragen des Anamnesebogens werden anschließend in einem Kariesbefund-Erhebungsbogen mit einer Punktzahl (Score) bewertet oder mit der Software „Dentodine“ digital erfasst und digital ausgewertet [Bastendorf 2002]. Weiterhin enthält der Erhebungsbogen diagnostische Punktbewertungen aus
• Mundhygiene-Indizes (VPI nach Ainamo bei Kleinkindern und Kindern; API und ABI bei Jugendlichen und Erwachsenen)
• weiteren klinischen Befunden.
Aus der Summe der anamnestischen und diagnostischen Punktbewertungen wird das Vorliegen des individuellen Kariesrisikos dichotom (ja/nein) bewertet, das im Hinblick auf die Indikationsstellung individualprophylaktischer Maßnahmen ausreichend erscheint.
Die Abbildungen 1a bis c und 2a bis c geben beispielhaft die in unserer Praxis bei Kleinkindern und Jugendlichen verwendeten Anamnese- und Kariesbefund-Erhebungsbögen wieder.
Schlussbemerkung
Die „Wiederentdeckung“ der Anamnese für die prophylaxeorientierte Zahnarztpraxis in Form einer gezielten Erhebung verspricht die gleichzeitige Erfüllung verschiedener Zielkriterien. Eine knappe, teilstandardisierte und altersspezifische Anamnese vermag nicht nur hinreichende Informationen über dem allgemein-medizinischen Hintergrund des Patienten zu liefern, sondern stellt auch spezifisch-prophylaxeorientierte Entscheidungsdaten von höchstmöglicher Aussagekraft bei zugleich maximaler Einfachheit (Ökonomie) zur Verfügung. Unter dem Aspekt der Kosten-Nutzen-Relation gewährleistet sie also bei wesentlich geringerem Aufwand eine praktisch gleich hohe prognostische Treffsicherheit bei der Karies-Riskobestimmung wie eine Batterie diagnostischer Verfahren, insbesondere Speicheltests [vergleiche Zimmer 2000].
Bereits Isokangas et al. [1993] und Alanen [1994] waren zu dem Schluss gelangt, dass der zahnärztliche Praktiker auch ohne Verwendung von Speicheltests, also allein gestützt auf klinische und soziodemographische Informationen, die er während der Kontrollbesuche erhält, zu einer sehr verlässlichen Kariesrisikoprognose in der Lage ist, wobei in Einzelfällen Sensitivitätsund Spezifitätsquoten weit über dem statistischen Durchschnitt erreichbar sind. Auch Messer [2000] wies neuerdings darauf hin, dass für die heute gebotene Hochrisikoprognose ein altersspezifischer Faktorensatz heranzuziehen ist, wobei die frühere Karieserfahrung nach wie vor den besten Prädiktor darstelle. Hingegen könnten die kostenintensiven Speicheltests das individuelle Kariesrisiko nicht mit hinreichender Präzision vorhersagen.
Zusammenfassend lässt sich durch den Ansatz einer alterspezifischen Anamnese unter den Bedingungen der prophylaxeorientierten Zahnarztpraxis eine Abschätzung des Kariesrisikos vornehmen, die einerseits zeitrationell und Kosten sparend und andererseits valide und klinisch trennscharf ist.
Dr. Klaus-Dieter BastendorfGairenstrasse 673054 Eislingen