GKV: Ein Auslaufmodell
Professor Dr. Meinhard Heinze von der Universität Bonn ist ein Freund deutlicher Worte: „Es ist erstaunlich, wie ignorant man im deutschen Gesundheitswesen mit den rechtlichen Konsequenzen des Europarechts umgeht.“ Zwar werde die Zuständigkeit des jeweiligen europäischen Mitglieds-Staates für das eigene Gesundheitssystem – gemäß Maastricht-Vertrag – bestehen bleiben. Doch sei es trotzdem Pflicht aller EU-Staaten, ihre Systeme so auszurichten, dass sie nicht gegen europäisches Recht verstoßen, betonte Heinze. Dafür sorge nämlich der Europäische Gerichtshof. Da in Europa das Recht auf freien Austausch von Waren und Dienstleistungen gilt, darf also folglich jeder EU-Bürger Gesundheitsleistungen überall in der EU in Anspruch nehmen.
Folgenschwer seien etwa neuere Urteile des EuGH, die sich auf die stationäre Behandlung beziehen. Demnach müssen Krankenkassen – auch ohne vorherige Genehmigung – einen stationären Aufenthalt im Ausland bezahlen, wenn die Gesundheitsleistung im Heimatland nicht abrufbar ist – und das gilt ausdrücklich auch bei Wartezeiten im Heimatland. Als „Tretmiene sondergleichen“ bezeichnete der Rechtsexperte ein Urteil, demzufolge die Kasse auch zahlen muss, wenn die Leistung auf „international anerkannt hohem Niveau“ im Heimatland nicht zu bekommen ist. „Diese Rechtsprechung des EuGH zwingt uns eine Diskussion über die Leistungen auf – wir können uns nicht mehr nur über die Kosten Gedanken machen“, erklärte Heinze die weitreichenden Folgen dieses Urteils. Eine Konsequenz aus diesem Urteil: das Problem der Inländerdiskriminierung. In einer deutschen Privatklinik, die in einer bestimmten Gesundheitsleistung europaweit führend ist, dürfe jeder EU-Bürger Leistungen in Anspruch nehmen, nur nicht der deutsche Kassenpatient. „Das Sachleistungsprinzip sowie nationale, dirigistische Beschränkungen des Gesundheitswesens bezüglich der Leistungserbringung gehen einem europarechtlichen Ende entgegen“, so Heinze.
Explosiver Reformdruck
„Es gibt zurzeit keinen Bereich, in dem der Reformdruck so hoch ist wie im Gesundheitswesen“, konstatierte auch der FDP-Gesundheitspolitiker Detlev Parr. Er kritisierte die aktuellen rot-grünen Reformvorhaben als „ordnungspolitisch falsch“. Das Anheben der Versicherungspflichtgrenze etwa sei „aus Sicht der FDP ein riesiger Fehler“, so Parr. Ein weiteres Versäumnis: die weiterhin paritätische GKV-Finanzierung über die Lohnnebenkosten. „Wir hätten durchgesetzt, dass der Arbeitgeber einen festgelegten GKV-Anteil einkommensteuerneutral ausbezahlt.“
Den Versicherten müssten schnellstmöglich mehr Wahlmöglichkeiten angeboten werden, die Menschen wollten mehr Einfluss, „das haben Patientenbefragungen eindeutig ergeben“, so Parr. Und sie seien auch bereit, mehr Geld für ihre Gesundheit auszugeben, wenn sie dafür eine hochklassige Versorgung bekämen. „Ich frage mich, warum wir in Deutschland vor diesem riesigen Wachstumsmarkt die Augen verschließen.“
Mythos Wettbewerb
„Seit sechs Jahren gibt es in Deutschland die freie Krankenkassenwahl – aber dass es einen Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt, ist nur ein Mythos.“ Es gebe zwar die Wahlmöglichkeit der Kasse für den Versicherten, allerdings ohne dass sich dabei die Produktpalette ändere. Mit diesen Worten machte Hans-Dieter Korting, stellvertretender Vorsitzender der Techniker Krankenkasse, auf den eingeschränkten Kassenwettbewerb in Deutschland aufmerksam. Aufgrund des gesetzlichen Auftrages müssten alle GKV-Kassen ein einheitliches Produktspektrum anbieten – ein grundsätzlicher Widerspruch gegen die freien Kräfte des Marktes im Wettbewerb. Sein Vorschlag für eine wettbewerbsorientierte und trotzdem solidarische Krankenversicherung: „Kassenwettbewerb durch Leistungsdifferenzierung bei gesetzlich definiertem Mindestschutz.“
Zunächst sieht der Vorschlag Kortings eine Versicherungspflicht für alle Bürger vor. Die Kassen haben Kontrahierungszwang – der Kassenbeitrag ist dabei prozentual lohnabhängig und somit solidarisch. Alle Krankenkassen haben einen einheitlichen Beitragssatz für die medizinischen Grundleistungen. Diese Einnahmen werden in einem Pool gesammelt und dann an die Krankenkassen je Versicherten individuell morbiditätsabhängig ausgeschüttet. „Das wäre quasi ein vorgeschalteter Risikostrukturausgleich“, so Korting. Darüber hinaus könnten alle Kassen freie Zusatzleistungen zu freien Preisen anbieten. „Das bedeutet einen echten Wettbewerb der Kassen, der durch die Qualität der angebotenen Tarife zustande kommt.“