Der Hindernislauf zur richtigen Police
Versetzen wir uns ein Lebensalter zurück in die Vergangenheit. Damals, vor 80 Jahren, war es eher die Ausnahme als die Regel, wenn ein Arbeiter oder auch ein Arzt das offizielle Rentenalter von 65 Jahren erreichte. Ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung starb vorzeitig. Doch dank des medizinischen Fortschritts ist heute vielen, auch den chronisch Kranken, ein längeres Leben beschert. Damit verbunden ist aber immer häufiger das Attest „vorzeitig berufsunfähig“. Zwar ist die deutsche Versicherungswirtschaft auf die Absicherung des Todesfalls in allen Spielarten bestens gerüstet. Aber für eine wirklich bedarfsgerechte und nutzbringende Versicherung der Berufsunfähigkeit engagieren sich erst wenige Unternehmen.
Auf eigene Faust versichert
Hinzu kommt: Während der Nachkriegsjahre wurde im Zuge der Technisierung der Arbeitswelt die körperliche Arbeit stark reduziert. Dafür aber nahm die Arbeitsintensität und die damit verbundene Überbeanspruchung bestimmter Körperteile und Organe wie auch die geistige und nervliche Konzentration auf die Arbeit ständig zu. Die Folgen: Die Fälle von Invalidität weit vor dem Pensionsalter nehmen kontinuierlich zu. Außerdem genießen gesetzlich Versicherte, die nach dem 2. Januar 1962 geboren sind, nur noch einen rudimentären staatlichen Invaliditätsschutz. In diesem Punkt hat der Staat sein Rentensystem schon gnadenlos rationalisiert und sich als Garant von Rentenzahlungen davongestohlen.
Selbstständige und jüngere Festangestellte sind also gleichermaßen gezwungen, sich auf eigene Faust gegen Berufsunfähigkeit zu versichern. Die Ursachen hierfür sind nicht mehr als belanglos vom Tisch zu wischen. Sie verteilen sich prozentual wie folgt:
• Rund 22 Prozent und damit der größte Anteil resultiert aus der Erkrankung des Bewegungsapparats.
• Knapp 20 Prozent der Berufsunfähigen leiden an Herz- und Kreislaufbeschwerden.
• Bei genau 16 Prozent ist Krebs der Grund.
• Gut 15 Prozent der Fälle basieren auf psychischen und neurologischen Leiden; diese verzeichnen eine stark steigende Tendenz.
• Jeweils rund zwei Prozent entfallen auf Infektionen und Allergien, wobei die Allergiefälle ebenfalls stark zunehmen.
• Der Rest von gut zehn Prozent wird unter „Sonstiges“ subsumiert. Darunter fällt auch mit einem Minianteil Invalidität durch Unfall. Für diesen relativ seltenen Fall hat die Assekuranz eigens eine Versicherung kreiert – für sie ein gutes Geschäft mit der Angst.
Doch die Assekuranz als Branche ist auf die fortschreitende Berufsunfähigkeit als Folge von zumeist chronischen Erkrankungen wenig vorbereitet. Ob geplant oder ungewollt lässt sich nicht klären. Fest steht jedenfalls , dass nur recht wenige Versicherer kundengerechte und kostengünstige Angebote zur lebenswichtigen Versicherung der Berufsunfähigkeit offerieren. Mit folgenden Hindernissen auf dem Weg zu einer optimalen Police muss der Interessent rechnen, wenn er bei einer Versicherungsgesellschaft ein schriftliches Angebot einholt:
■1.Die meisten Versicherer bieten eine Berufsunfähigkeitspolice nur in Verbindung mit einer Risikolebensversicherung an. Dann wird die BU (für Berufsunfähigkeit) als BUZ (Berufsunfähigkeitszusatzversicherung) bezeichnet. Mit dieser Konstruktion bagatellisiert die Versicherungsbranche das größte Lebensrisiko eines Berufstätigen, der vielfach auch der Ernährer einer Familie ist, zu einem Anhängsel. Befindet sich eine reine BU im Policenprogramm, ist diese oft wesentlich teurer in der Prämie als etwa eine Police, mit der das Todesrisiko in beschränktem Maße mitversichert ist. Das heißt: Versicherte, die gar keinen Todesfallschutz benötigen, Singles etwa, müssen sich aus Kostengründen zwangsweise auf eine Risikolebensversicherung einlassen.
■2.Der Versicherungsinteressent sollte sorgsam darauf achten, dass die nachgefragte mit der angebotenen Police übereinstimmt. Wer Berufsunfähigkeitsschutz wünscht, bekommt zuweilen eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung angeboten. Zwischen beiden Versicherungen besteht ein eklatanter Unterschied: Die BU wird (zumeist) fällig, wenn der Versicherte seinen Beruf zu 50 Prozent nicht mehr ausüben kann. Erwerbsunfähigkeit wird erst dann versichert, wenn beim Versicherten „kein messbares Restleistungsvermögen“ (Policenbedingung) mehr vorhanden ist.
Im Klartext: Die Versicherung zahlt erst die zugesagte Invalidenrente, wenn der Versicherte nur noch höchstens zwei Stunden am Tag auf eine ihm zumutbare Art (ein recht dehnbarer Begriff) zu arbeiten in der Lage ist. Der angestammte Beruf, der ja zumeist krank und berufsunfähig gemacht hat, kommt in der Regel nicht mehr in Frage. Mit den Verlockungen einer in der Tat recht kostengünstigen Police zur Absicherung der Erwerbsunfähigkeit unterschreibt der Versicherte nicht selten ahnungslos seine Verelendung.
■3.Versicherungsvertreter nach Möglichkeit aus dem Spiel lassen, auch wenn ihre Tätigkeit in der Prämie „enthalten“ ist. Zum einen sollte der Versicherungsberater wirklich sachkundig auf dem recht komplexen Gebiet der Berufsunfähigkeit sein, was leider selten der Fall ist. Zum anderen will auch ein kompetenter Berater auf jeden Fall und möglichst schnell eine Police mit einer Unterschrift unter Dach und Fach bringen. Eine Erörterung von Pro und Kontra bestimmter Policenkonditionen ist da nicht gerade verkaufsfördernd. So werden abgeheilte Krankheiten und bestehende Wehwehchen, die im Policenantragsformular detailliert abgefragt werden, in aller Regel vom Berater bagatellisiert. Wo eigentlich ein „Ja“- Kreuzchen fällig gewesen wäre, steht schnell, zumal wenn der Berater selber das Formular ausfüllt, ein „Nein“.
Das aber ist im Versicherungsfall fatal. Die Versicherung recherchiert dann auf jeden Fall bei den per Unterschrift von der Schweigepflicht entbundenen Ärzten und Kliniken. Deckt sie dabei ein nicht erwähntes oder im Prinzip nicht einmal relevantes Leiden auf, legt sie dies als vertragswidriges Verschweigen eines Risikos aus und verweigert jegliche Leistung. Die im Schnitt teuren Prämien waren dann umsonst gezahlt.
Ein unabhängiger Versicherungsberater berichtet: „80 Prozent aller Invaliditätsrenten werden wegen eines Verstoßes gegen die vorvertragliche Anzeigepflicht abgelehnt.“
■4.Eine Koppelung von BU mit einer Kapital bildenden Lebensversicherung sollte unbedingt vermieden werden. Wenn schon aus ganz banalen Kostengründen die Koppelung der BU mit einer Lebensversicherung unvermeidbar ist, sollte der BUInteressent unbedingt darauf achten, dass ihm nicht eine Kapitallebensversicherung untergeschoben wird. Diese Lieblingsversicherung der Assekuranten kostet viel, bringt aber nicht viel. Wer nämlich das Todesrisiko wirklich versichern will, muss als Versicherungssumme mindestens fünf Jahresnettogehälter einkalkulieren. Doch dafür wäre eine enorm hohe Jahresprämie zu zahlen.
Die meisten Vertreter werben gerne mit dem Argument, bei einer Kapitallebensversicherung seien die Prämien ja nicht verloren. Eine gezielte Irreführung! Denn in den Prämien einer Kapitalpolice ist im Verborgenen der Kostenanteil für die Versicherung des Todesrisikos enthalten. Wer hingegen eine Risikopolice in Verbindung mit einer BU abschließt, kennt seine Kosten und zahlt im Vergleich zur Kapitalpolice nur einen Bruchteil an Prämien.
Doch die Deutschen wurden überwiegend falsch beraten. Nur rund drei Millionen zahlen reine Risikoprämien; aber rund 60 Millionen Bundesbürger haben eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen, oft in Verbindung mit einer BU. Sie haben dabei den Todesfallschutz im Schnitt mit mageren 27 400 Euro versichert. Im Ernstfall viel zu wenig. Aber an dieser Versicherungsform verdienen die Versicherungsvertreter die höchsten Provisionen.
■5.Achtung: Die Normaltarife gelten nur ganz selten. Zuschläge bis zu 100 Prozent auf den im Angebot ausgedruckten Tarif sind gang und gäbe. Wie bei der Kapitallebensversicherung will die Assekuranz auch an der Berufsunfähigkeit kräftig verdienen. Erst allmählich führt ein zunehmend schärferer Wettbewerb dazu, dass die Assekuranz die BU-Anwärter mit niedrig kalkulierten Prämien anlockt, um sie dann aber kräftig zur Kasse zu bitten. Jeder Versicherungskandidat hat nämlich seine Krankengeschichte. Viele werden vor dem Abschluss einer BU-Police zu einer ärztlichen Untersuchung gebeten. Weichen beispielsweise die Blutwerte nur geringfügig von der Norm ab, ist dies für die Assekuranten oft ein Anlass, die Normalprämie um 25 Prozent zu erhöhen. Selbst definitiv und seit Jahren schon abgeheilte Krankheiten werden in ein kostenpflichtiges Risiko umgemünzt. Wer gar Raucher ist und zudem ein deutliches Übergewicht auf die Waage bringt, dürfte kaum einen Versicherer finden, der sich mit weniger als 100 Prozent Aufschlag begnügt. Um eine gewisse Transparenz bei der Risikoeinschätzung zu bekommen, sollte der BU-Interessent gleich von Anbeginn mehrere (Fachleute raten: mindestens zehn) Konkurrenzangebote einholen.
■6.Vorsicht beim Konditionenschacher. Um Aufschläge auf den Normaltarif zu reduzieren, bieten die Versicherer nicht selten eine Konditionenkombination an. Im Klartext: Der Risikoaufschlag reduziert sich, wenn der BU-Interessent mit dem Ausschluss bestimmter Krankheiten, wie etwa Sehschwäche oder Allergien, einverstanden ist. Angeboten wird auch, die Rentenberechtigung zu verlagern. Die Police wird preiswerter, wenn der Kunde nicht schon zu 50, sondern erst zu 75 Prozent berufsunfähig ist. Auch mit dem Leistungsalter wird gerne jongliert. Wer es auf 50 oder 55 statt auf 60 oder gar 65 Jahre eingrenzen lässt, zahlt weniger Prämie. Doch diese Denkart untergräbt den Grundgedanken der Versicherung. Denn wer sich Risiken abkaufen lässt, hat sie womöglich selber zu tragen. Ratsam ist auch, bei preisgünstig erscheinenden Angeboten das Leistungsalter zu kontrollieren. Denn nicht wenige, sogar renommierte Versicherungsgesellschaften beachten in ihren Angeboten nicht das Wunschalter von 60 oder 65 Jahren; sie kalkulieren von Anbeginn mit weitaus weniger Jahren. Wenn eine monatliche BU-Rente beispielsweise nur bis zum 50 Lebensjahr zu zahlen ist, bleiben zehn oder 15 kritische Jahre bis zur Zahlung der Altersrente aus dem Spiel. Vom Versicherer hingegen können in solchen Fällen die BU-Prämien nahezu ohne Leistungsrisiko kassiert werden.
Günstig ist oft wertlos
Fazit: Eine kundengerechte und zugleich kostengünstige Berufsunfähigkeitsversicherung ist in der Regel das Ergebnis eines aufreibenden Konditionenpokers. Dabei ist zu beachten: Das optisch günstigste Angebot ist oftmals wertlos, weil es die Leistungen so stark einschränkt, dass man im Fall des Falles zumeist gar nicht mehr oder nur noch in mageren Maßen versichert ist. Auf jeden Fall sollte die Berufsunfähigkeitsrente bis zum intendierten Rentenalter gezahlt werden. Sie sollte auf keinen Fall mehr als ein Jahrzehnt vorher eingestellt werden können. Und wenn schon gepokert werden muss, dann möglichst nicht um eine Einschränkung der BU-Police, sondern eher um eine Leistungsreduzierung bei der (zumeist zwangsweise an die BU gekoppelten) Lebensversicherung. Denn die Berufsunfähigkeit ist als Lebensrisiko höher einzustufen. Dass Versicherungen beim Aushandeln kundengerechter Konditionen oft die Lust an einer weiteren Korrespondenz verlieren, ist an der Tagesordnung und sollte einkalkuliert werden. Die Ausfallquote von Seiten der Anbieter ist jedenfalls enorm hoch. Deshalb auch der Rat, mindestens zehn Angebote einzuholen.
Der langjährige Autor unsererRubrik „Finanzen“ ist gernebereit, unter der Telefon-Nr.089/64 28 91 50Fragen zu seinen Berichten zubeantworten.Dr. Joachim KirchmannHarthauser Straße 2581545 München