Dialog und Widerstand
Der Einstieg in die Hauptversammlung geriet zum politschen Paukenschlag: Mit weit überzogener Haltung eines frisch bestätigten Wahlsiegers sorgte SPD-Vertreter Horst Schmidtbauer in seinem Grußwort für harschen Protest: Der Abgeordnete verbuchte die zahnärztliche Prophylaxe als Erfolg der Gesundheitsreform 2000, bekräftigte die Ablehnung von befundorientierten Festzuschüssen und Kostenerstattung und stigmatisierte die Einbeziehung der psychomentalen Belastung in die Neubewertung des Bema als „trojanisches Pferd der Zahnärzte“. Die zahnärztlichen Konzepte seien „Ideen, wie man Patienten und Patientinnen in den Geldbeutel langen könnte“. Schmidtbauer wertete den Begriff Eigenverantwortung „als so schillernd, abgetragen und fadenscheinig, dass man ihn nicht zu Tode strapazieren dürfe“. Trotz dieser Angriffe forderte der SPD-Mann von Deutschlands Zahnärzten eine „ebenso hochwertige wie kostengünstige Zahnheilkunde“ und warnte noch dazu vor einem „Verharren im Wolkenkuckucksheim der Wissenschaft“.
Radikales Umdenken
Die erforderliche Replik kam prompt, aber sachlich durch den Leiter der FVDZ-Hauptversammlung: „Die Erfolge in der Prophylaxe sind allein den Zahnärzten zuzuschreiben“, korrigierte der konstruktiv durch die Hauptversammlung führende Dr. Gunther Lichtblau die Schmidtbauersche Fehleinschätzung. Erhofft habe man sich Aussagen zur weiteren Herangehensweise der Regierung. Dazu habe der SPD-Abgeordnete „leider wenig gesagt“.
Eine schonungslose, Schmidtbauers Aussagen entlarvende Analyse des Gesundheitswesens bot Prof. Klaus Bergdolt, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik an der Universität Köln, mit seinem Festreferat zum Thema „Ökonomie, Naturwissenschaft, Menschlichkeit – Widersprüche im aktuellen Paradigma der Medizin“: „Wir alle wissen, dass das Paradigma der Ökonomie das Gesundheitssystem zu revolutionieren droht. Arzt zu sein macht keinen Spaß mehr.“ Erforderlich sei radikales Umdenken. Gestufte, individuell taxierte Versicherungen seien unausweichlich, ihre Verzögerung werde die Zweiklassenmedizin nur verschärfen. Die Kritik des Wissenschaftlers Bergdolt an der Vollkasko-Mentalität der Deutschen war direkt: „Nichts gegen Sport, Gymnastik und Freude an körperlicher Übung, doch hier Privatgelder zu verschleudern, bei minimaler Erhöhung von Kassenbeiträgen aber zu verzweifeln, erscheint unglaubwürdig. Für unsere Gesellschaft ist dies allerdings charakteristisch.“
Vor diesem Hintergrund wirkten die Vorschläge des FVDZ-Bundesvorsitzenden Beckmann um so dringlicher: „Handeln Sie, Herr Schröder,“ forderte er in seinem Bericht vor den 180 Delegierten des 24 000 Mitglieder zählenden Berufsverbandes. Die „Großbaustelle Gesundheitswesen“ müsse „Chefsache mit höchster Priorität“ werden: „Wir brauchen jetzt eine durchgreifende Strukturveränderung. Unser zukunftsfähiges Konzept für eine präventionsorientierte Zahnmedizin, die nur unter Mitwirkung und Selbstbestimmung des Bürgers und Patienten realisierbar ist, liegt auf dem Tisch.“ Ziel des Verbandes müsse jetzt sein, die Optionen für eine freie Patienten-Zahnarzt-Beziehung zu mehren. Dazu müssten „manche“ im Verband bisher „tabuisierte Themen auf aktuellen Sinngehalt abgeklopft werden“: „Simple Schwarz-Weiß-Betrachtungen werden der komplexen Entwicklung sicher in Zukunft nicht mehr gerecht werden.“ Mit Blick auf die Delegierten forderte Beckmann: „Wir müssen uns im Verband freimachen von dem Denken in dem geschlossenen Rahmen des uns aufgezwungenen falschen Systems.“ Wo Widerstand erforderlich sei, wo Entscheidungen getroffen werden, „die Behandlungen betriebswirtschaftlich signifikant unterfinanzieren oder mit Scheinlösungen Reformstau unterlaufen werden soll,“ müsse dieser intelligent – das heißt zeitlich, regional, inhaltlich differenziert und solidarisch – organisiert werden. Entscheidend sei, dass nicht der einzelne Kollege an der Basis die Last der kollektiven Verantwortung des Widerstandes trage. Vielmehr müsse das Konzept gemeinsam von den zahnärztlichen Organisationen realisiert werden. Und: Dies müsse zum Wohle der Patienten und zum Nutzen der zahnärztlichen Versorgung erfolgen.
Beckmann betonte, Widerstand könne immer nur „ultima ratio“ sein. Das Ziel einer freien Patienten-Zahnarzt-Beziehung müsse in Zeiten des gesundheitspolitischen Umbruchs im Dialog verfolgt werden. Aber: „Wir dürfen uns nicht in die entwürdigende Ecke stellen lassen, dass zahnärztliche Behandlungstätigkeit, dass die Morbidität unserer Patienten irgendeinem bürokratisch definierten Budget folgt. Wir stellen fest, was zahnmedizinisch notwendig und möglich ist. Mögen andere feststellen, ob sie dieses finanzieren können oder nicht.“
Das Resümee aus der Beckmannschen Analyse: Eine vom Bundesvorstand vorgelegte Resolution, die die neue Bundesregierung auffordert, Fragmente gescheiterter Reglementierungen aus dem SGB V zu eliminieren, wurde von den Delegierten einstimmig verabschiedet. Dazu zählt der Freie Verband gesetzliche Maßnahmen wie Budget und Degression, die Einschränkung der freien Arztwahl und der ärztlichen Berufsfreiheit, die Verhinderung von Kostentransparenz, die Ausgrenzung innovativer Behandlungsmethoden, die Zwangspensionierung mit 68 Jahren, den Anti-Korb-Paragrafen und Eingriffe in die Privatautonomie (GOZ), aber auch die Einsetzung von Staatskommissaren, die wettbewerbsfeindliche Vergütung zahntechnischer Arbeiten und die unzulässige Verflechtung von Werk- und Dienstvertrag. Diese Regelungen seien „nicht geeignet, in irgendeiner Weise die Versorgung der Patienten zu verbessern“. Vielmehr belasteten sie „aufs Gravierendste allein die Berufsfreiheit der Zahnärzte“. Einstimmig verabschiedet wurde auch ein Antrag „für informationelle Selbstbestimmung von Patient und Arzt“. Diese dürfe nicht durch zentrale Datensammlungen ausgehöhlt werden.
Auf Antrag des Bundesvorstandes verabschiedete die Hauptversammlung einstimmig (bei einer Enthaltung) das „Projekt Zahnmedizin“. Das Konzept fordert, auf der Basis befundorientierter Festzuschüsse und Kostenerstattung die Rahmenbedingungen im Leistungsbereich der vertragszahnärztlichen Versorgung „sofort und grundlegend neu zu gestalten“.
EU-Signale
Mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde auch der Antrag des Bundesvorstandes zur Schaffung geeigneter „Rahmenbedingungen für einen EU-Gesundheitsmarkt“. Gefordert wird der Zugang der EU-Bürger auf grenzüberschreitenden Zugang zu gesundheitlichen Leistungen, eine europakompatible Gestaltung des nationalen Gesundheitssystems, freiberuflicher Wettbewerb als Garant für die Patientenorientierung (inklusive freier Arzt-, Behandlungs- und Versicherungswahl), aber auch die Wahrung der Pluralität unterschiedlicher Gesundheitssysteme im Rahmen eines EU-weiten Wettbewerbs.
Große Beachtung fand der Vortrag des ehemaligen DGZMK-Präsidenten Prof. Wilfried Wagner (Mainz) zum Thema „Fortbildung als Aufgabe des Berufsstandes für die Kollegenschaft“. Wagners Plädoyer für die Etablierung des gemeinsam von der DGZMK und der Bundeszahnärztekammer initiierten Modells der „strukturierten Fortbildung“ wurde auf der Hauptversammlung ausführlich diskutiert. Mit Blick auf die Forderungen der Gesundheitsministerkonferenz sprach sich die Hauptversammlung – wie die Bundesversammlung der BZÄK im vergangenen Jahr – gegen die Zertifizierung, Rezertifizierung und Zwangsfortbildung von Ärzten und Zahnärzten aus.
Ebenfalls forderten die Delegierten eine sofortige Anpassung des GOZ-Punktwertes sowie die Abschaffung des GOZ-Abschlages Ost. Abgelehnt wurde auch die Schaffung nicht durch Evidenz abgesicherter Leitlinien sowie die Ausweisung von Fortbildung auf dem Praxisschild.
Mit einfacher Mehrheit votierte die Versammlung gegen einen Antrag aus den Landesverbänden Niedersachsen und Nordrhein, gegen die für das Oligopol der Krankenkassen beabsichtigten Einkaufsmodelle ausdrücklich strukturelle Voraussetzungen für eine Vertragskompetenz der Zahnärzte zu schaffen. Stein des Anstoßes in der kontrovers geführten Diskussion waren Bedenken, dass die Wahrnehmung körperschaftlicher Aufgaben die politische Kompetenz des Verbandes einschränken könne. Beckmann verwies darauf, dass auf der Hauptversammlung 1998 bereits ein Beschluss gegen Einkaufsmodelle verabschiedet wurde, der eine Positionierung der Zahnärzteschaft gegen Einzel- und Gruppenverträge gewährleiste.
Grundsatzdiskussionen provozierte die nach den KZBV-Wahlen im Frühjahr entstandene Meinungsbildung über das künftige Prozedere zur Bestellung FVDZ-eigener Nominierungen für die künftigen Körperschaftswahlen. Beschlossen wurde, dieses bisher der Hauptversammlung zutehende Recht künftig dem erweiterten Bundesvorstand zu übertragen.