Notoperation statt großer Wurf
Als „Dokument der Mutlosigkeit“ bezeichnete Dr. Frank Ulrich Montgomery vom Marburger Bund den rot-grünen Koalitionsvertrag. „Statt die wirklich drängenden Zukunftsfragen anzupacken, erschöpfen sich die gesundheitspolitischen Aussagen in Detailfragen.“ Die Bundeszahnärztekammer fand noch knappere Worte: „Weiterwurschteln wie bisher.“
Für das deutsche Gesundheitswesen sieht es düster aus, doch ein echter Reformwille ist im Koalitionsvertrag nicht zu erkennen. Die Kassen werden dieses Jahr voraussichtlich mit einem Defizit von rund 1,5 Milliarden Euro beenden. Und das, obwohl der durchschnittliche Kassenbeitrag erst zu Beginn des Jahres auf einen Allzeitrekordwert von 14 Prozent geklettert ist. Weitere Erhöhungen sind quasi unvermeidlich. Trotzdem bleibt Rot-Grün bei seinem Kurs: das solidarische, einnahmenorientierte Prinzip bleibt erhalten, die Finanzierung wird auch in Zukunft paritätisch zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber geteilt.
Statt langfristig zu reformieren, will die rotgrüne Koalition nun mit einer Notoperation die größten Löcher stopfen. Um kurzfristig Geld ins System zu pumpen, werde die Versicherungspflichtgrenze auf das Niveau der Rentenbeitragsbemessungsgrenze heraufgesetzt, gab Müntefering zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen bekannt. Zu diesem Zeitpunkt war dementsprechend noch die Rede von 4 500 Euro, eine Woche später allerdings wurde das Anheben der Rentengrenze auf 5 100 Euro bekannt gegeben. Erst ab einem Einkommen jenseits dieser Grenze dürfen also in Zukunft neu dazukommende Versicherte – in der Regel also Berufsanfänger – in die Private Krankenversicherung ausweichen. Damit wird die PKV künftig von einem Großteil des Nachwuchses abgeschnitten. Und ob die Beitragsbemessungsgrenze in der GKV tatsächlich unangetastet bei 3 375 Euro bleibt, wie von Ulla Schmidt angekündigt, ist zumindest fraglich. Derzeit gehen die Diskussionen hin und her. Aber eins ist klar: Die Einnahmen-Basis der GKV soll durch das Anheben der Grenzen vergrößert werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die „Besserverdienenden“ in der GKV zur Kasse gebeten werden.
„Die geplante Anhebung der Versicherungspflichtgrenze für Berufsanfänger ist ein Affront gegen die PKV“, reagierte der Verband der Privat-Versicherer. Eine Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze beseitige schrittweise den funktionsfähigen Wettbewerb zwischen PKV und GKV. So werde selbst finanziell erfolgreichen Berufsanfängern über Jahrzehnte die Perspektive des Wechsels zur PKV genommen, heißt es von Seiten der PKV. Und auch die Bundeszahnärztekammer kritisiert das Vorgehen von Rot-Grün: „Die Lösung der eigentlichen Hausaufgabe, substantielle Wege aus der Finanzkrise der GKV und des Gesundheitswesens insgesamt zu finden, erschöpft sich bislang in der Erweiterung der Zwangs-Rekrutierung zur Mitgliedschaft.“
Pharmabranche soll bluten
Immerhin, es gibt noch eine zweite zentrale Neuerung der Gesundheitsministerin: ein gesetzliches Sparpaket für die Pharmabranche. Das so genannte Vorschaltgesetz sieht vor, dass Pharmahersteller in Zukunft Großkundenrabatte gewähren und die Apothekenzuschläge für hochpreisige Mittel gekürzt werden. Eine weitere Entlastung soll die Kappung der Verdienstspannen von Arzneimittel-Großhändlern bringen. Wann dieses Vorhaben in Tat umgesetzt wird, ist unklar, vermutlich aber nicht vor der hessischen Landtagswahl im Februar.
Als „völlig unverständlichen Generalangriff auf die Apotheke“ bezeichnete der Deutsche Apothekertag in einer Resolution die Pläne der Regierungskoalition. 70 000 Apotheker-Arbeitsplätze seien in Gefahr, heißt es weiter.
Die Ärzteschaft hat es mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, dass es jetzt vor allem der Pharmabranche an den Kragen gehen soll. Noch vor kurzem hatte die KBV die Arzneimittelhersteller für einen überproportionalen Anstieg der Arzneimittelkosten ver-antwortlich gemacht, der „einzig der Bereicherung diene“. Und noch einen Lichtblick sieht die Kassenärztliche Bundesvereinigung: der Verzicht auf die Wiedereinführung des Kollektiv-Regresses. Doch auch die Ärzte sollen nicht ungeschoren davonkommen: Vor allem die SPD drängt darauf, den Standesorganisationen der Ärzte und Zahnärzte das Wasser abzugraben. „Die Organisationen der Leistungserbringer werden zu wirksamen Dienstleistern fortentwickelt“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Im Klartext: Das Vertragsmonopol der KZVen und KVen soll gebrochen werden, damit die Kassen neben Kollektivverträgen auch Einzelverträge mit Ärzten und Zahnärzten abschließen können.
Nullsummenspiel
Der Verband der freien Berufe appellierte an die Regierung, im Sektor der Gesundheitsberufe mit möglichen Wachstumspotentialen sorgsam umzugehen. Der Hartmannbund, Ärzteverband der niedergelassenen Ärzte, kritisierte „die Pläne der Koalition als unsinnig“. Die Einführung so genannter Patientenquittungen etwa sei eine „weitere Nebelkerze“ und die geplante Anhebung der Versicherungspflichtgrenze „ein Nullsummenspiel“, sagte der Vorsitzende des Hartmannbundes, Hans Jürgen Thomas. Ein Wille für echte Reformen sei nicht zu erkennen.
Schlechte Noten für das Gesundheitsministerium: durch die Bank kritisieren die Lobbyverbände das Machwerk der neuen Regierung. Und natürlich hält sich auch der einflussreiche Verband der forschenden Arzneimittelhersteller nicht zurück: „Die geplante zusätzliche Kosten-Nutzen-Bewertung neuer Arzneimittel lehnen wir ab“, kritisierte Verbandschefin Cornelia Yzer und nannte solche Versuche „innovations- und patientenfeindlich.“ Mit dem geplanten Vorschaltgesetz wäre es vor allem die Pharma- und Apothekerbranche, die die aktuellen Verluste in der Krankenversicherung decken soll. Doch den Arzneimittel-Lobbyisten werden Kontakte bis direkt ins Kanzleramt nachgesagt. Auf Ulla Schmidt wartet eine schwere Legislaturperiode mit vielen Auseinandersetzungen. Konflikte mit den Lobbygruppen sind vorprogrammiert. Dass sie diesen Konflikt als Sieger übersteht, davon ist zumindest sie selbst fest überzeugt: „Ich werde meine Ziele durchsetzen.“