Piercing im Mundbereich
Für das Piercing werden Objekte aus unterschiedlichen Materialien verwendet: Meistens bestehen sie aus Metall, es wurden aber auch schon Gegenstände aus Holz, Elfenbein, Terrakotta, und in jüngerer Zeit aus synthetischen Materialien, wie Teflon und Nylon, eingesetzt. Grundsätzlich können alle Körperbereiche ein Piercing erfahren; in den letzten Jahren sind indes der Mund und seine Umgebung zum bevorzugten Ziel geworden. So beobachtet man in zunehmendem Maße Piercings vor allem der Zunge und der Lippen in Höhe der Labiomentalfalte, gelegentlich aber auch der Wange oder gar der Uvula. Zurzeit sind die häufigsten Piercing-Objekte aus chirurgischem Stahl, Niobium oder Titan gefertigt, und haben die Form von Ringen, Nägeln oder Stiften in Hantelform mit Ansätzen an beiden Enden. Der am meisten angegebene Grund, diese speziellen Schmuckstücke zu tragen, ist die Ästhetik [De Moor et al. 2000]. Alle in Körpergewebe eingesetzten Gegenstände, zum Beispiel auch Ohrringe, sind solange als Fremdkörper im Innern der perforierten Strukturen zu betrachten, bis eine vollständige Epithelialisierung der Wunde stattgefunden hat, die den Gegenstand von den tieferen Schichten isoliert. Solange eine epitheliale Auskleidung fehlt, oder falls diese traumatisch bedingt wieder einreißt, besteht eine offene Türe für Krankheitserreger ins Körperinnere. Außer akuten Infektionen können auch chronische Entzündungen, Hypersensibilitäten auf chemische Komponenten von eingesetzten Objekten oder Allergien auftreten. Fremdkörperreaktionen auf Piercings sind gleichermaßen beschrieben worden [Ng et al. 1997]. Gewebetraumen entstehen sowohl unmittelbar beim Einsetzen des Piercings, als auch später, zum Beispiel aufgrund des Gewichts oder anderer Spannung verursachender Faktoren.
Parallel zur wachsenden Anzahl von Personen, die eine solche Art Schmuck trägt, müssen wir in der Zahnarztpraxis damit rechnen, mit Komplikationen eines Piercings konfrontiert zu werden. Bisher sind diese Probleme in der Literatur noch nicht systematisch beschrieben worden. Meistens waren es nur Darstellungen isolierter Fälle [Chen & Scully 1992, Er et al. 2000].
Im vorliegenden Artikel werden fünf Piercings beschrieben, drei an der Zunge und zwei an der Unterlippe, und die dadurch verursachten Verletzungen der Hart- und Weichgewebe aufgezeigt. Die Diskussion behandelt die beobachteten sowie andere mögliche Komplikationen.
Falldarstellungen
Patient Nr. 1: Herr B. B., 1974
Der Patient ist bei der ersten Konsultation 26 Jahre alt. Er ist Schweizer, ohne Arbeit und ohne Berufsausbildung.
Infolge von Zahnschmerzen suchte Herr B. die Poliklinik der Zahnmedizinischen Kliniken auf, um sich zahnärztlich behandeln zu lassen. Die allgemeine Anamnese erbrachte keinerlei Besonderheiten außer der regelmäßigen Einnahme eines anxiolytischen Medikaments. Mit Ausnahme der unteren Inzisiven und Eckzähne wiesen sämtliche Zähne entweder eine Füllung auf oder waren kariös. Die Parodontalsondierung ergab keine erhöhten Sondierungstiefen. Der Patient wies eine generalisierte Gingivitis auf. Abgesehen von einigen Zahnsteinentfernungen war bisher keinerlei Parodontaltherapie durchgeführt worden. Der Patient trug auf der Höhe der Labiomentalfalte ein hantelförmiges Piercing-Objekt , das aus einer Kugel von vier Millimetern Durchmesser im Mund, einem die Unterlippe durchquerenden Stift mit einem Durchmesser von zwei Millimetern, und einer zweiten, außen an der Lippe aufgeschraubten Kugel bestand. Die Gesamtlänge des Objekts betrug 1,5 Zentimeter.
Obgleich die Kugel im Mund zur Hälfte in der Lippe eingebettet war, ragte sie im Bereich der mittleren unteren Schneidezähne hervor (Abb. 1a). Zahn 31, und in geringeren Maße auch Zahn 41, wiesen vestibuläre Rezessionen Typ I [Miller 1985] auf (Zahn 31: drei Millimeter; Zahn 41: ein Millimeter, siehe Abbildung 1b, Pfeile). Andere Ursachen dieser Rezessionen als das Piercing, zum Beispiel ein eventueller früherer mukogingivaler Eingriff, eine orthodontische Behandlung oder traumatisierendes Zähneputzen, konnten ausgeschlossen werden. Extraoral wurden keinerlei pathologische Befunde, insbesondere keine Anzeichen auf eine Fremdkörperreaktion oder vergrößerte submandibuläre Lymphknoten, registriert.
Der Patient hatte die Gingivaläsionen bisher selbst nie beachtet. Er glaubte nicht, dass „das so schlimm sein könnte“, versicherte aber, über unseren Vorschlag, das Piercing-Objekt endgültig zu entfernen, nachzudenken.
Herr B. ist bis heute nicht mehr erschienen. Er hat seine Termine aus medizinischen Gründen abgesagt, ohne dass uns weitere Einzelheiten bekannt wären.
Patient Nr. 2: Herr B. G., 1974
Der männliche Patient B. G. war beim ersten Besuch 25 Jahre alt. Er ist Schweizer und arbeitet in einem Fitnesszentrum als Instruktor für Krafttraining. Wegen Zahnfleischrückgangs an den unteren Schneidezähnen suchte er einen Parodontologen auf. Der Patient war allgemeinmedizinisch gesund, der Zustand seiner Zähne war gut (es war eine einzige Zahnfüllung vorhanden) und es waren keine Parodontaltaschen vorhanden.
Herr G. trug ein Piercing von imponierender Größe aus Stahl in der Zunge (Abbildung 2a und b): Ein Stab mit einem Durchmesser von fünf Millimetern verband zwei Kugeln von zehn Millimetern Durchmesser; die totale Länge betrug 3,5 Zentimeter. Der Stab durchquerte die Zunge im Bereich des Zungenbändchens, welches einen Druck nach rechts gegen die untere Kugel ausübte (Abbildung 2b).
Die Zähne 31 und 41 wiesen lingual ausgeprägte Gingivarezessionen von drei und sechs Millimetern Tiefe auf (Abbildung 2c). Diese waren vom Typ I bei 31 und von Typ II bei 41 [Miller 1985]. Aufgrund des Verlustes der angewachsenen Gingiva konnte mit der Parodontalsonde bis auf das Niveau des Mundbodens vorgedrungen werden. Bei Ruhestellung der Zunge trugen die Weichgewebe in diesem Bereich das volle Gewicht des Piercing-Objekts, dessen Eindruck man zwischen den Zähnen 32 und 42 (Abb. 2c, Pfeile) wahrnahm. Am apicalen Teil der Rezession war die Wurzel von Zahn 41 mit Zahnstein bedeckt. Diese Ablagerungen waren vermutlich eher die Folge als die Ursache der Rezession, die eine Nische mit schwierigem Zugang für die Zahnreinigung darstellte. Es gab keine weiteren natürlichen oder iatrogenen Gründe, die die Läsionen erklären konnten.
Dem Patienten wurde empfohlen, das Piercing-Objekt zu entfernen. Dieser wollte „sich das überlegen“. In der Folge verschob er einige Male seine Termine. Erst ein Jahr später wurde der Patient wiedergesehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Piercing-Objekt seit fünf Monaten nicht mehr getragen. Die Läsionen waren jedoch immer noch vorhanden (Abb. 2d).
Patient Nr. 3: Herr S. B., 1975
Herr B. war bei seinem ersten Besuch 25 Jahre alt und bei guter Gesundheit. Er ist Schweizer und von Beruf Modedesigner. Molaren und Prämolaren waren teilweise mit Amalgamfüllungen versorgt, die Mundhygiene war zufrieden stellend.
Drei Jahre zuvor hatte sich Herr B. die Zunge piercen lassen, „des Gefühls wegen“ und weil er „an anderen Stellen schon welche hatte“ (Augenbrauen). Das Objekt war zwei Zentimeter lang und durchbohrte die Zunge genau auf der Mittellinie (Abbildung 3a). Es war so weit hinten wie möglich, direkt beim Ansatz des Zungenbändchens plaziert worden (Abbildung 3b).
Im Gebiet der unteren Schneidezähne fand sich zwar keine Gingivarezession, hingegen wiesen die Inzisalkanten mehrere kleine Defekte auf (Abbildung 3c). Ein Substanzverlust im Bereich der Inzisalkanten war auch bei den oberen zentralen Schneidezähnen klar zu erkennen (Abbildung 3d, Pfeile). Diese Läsionen waren nicht empfindlich und schienen nur den Zahnschmelz zu betreffen.
Der Patient informierte uns, dass er oft mit seinem Piercing spiele, indem er es zwischen seinen oberen und unteren Frontzähnen drehe oder es entlang der Kerben im Schmelz, deren Form kongruent zur Form des Stifts war, zwischen den oberen und unteren Inzisiven hin und her schiebe (Abbildung 3d).
Herr B. war sich der Schäden bewusst, die er seinen Zähnen durch diese Angewohnheit zufügte. Er meinte jedoch, die Konsequenzen seien nicht „allzu gravierend“, und wollte nicht auf das Piercing verzichten, geschweige denn die Defekte im Zahnschmelz restaurieren lassen.
Patient Nr. 4: Frau S. H., 1979
Die Patientin, eine Studentin, war bei ihrer ersten Konsultation 22 Jahre alt. Sie war in unserer Klinik im Rahmen einer Reihenuntersuchung zur Rekrutierung von Probanden für eine klinische Studie untersucht worden und erfüllte die Teilnahmevoraussetzungen: Guter allgemeiner Gesundheitszustand, chronische Gingivitis, aber keine tiefen Parodontaltaschen.
Abgesehen von der Einnahme eines oralen Kontrazeptivums wies ihre allgemeine Anamnese keine Besonderheiten auf. Es bestanden keine unversorgten kariösen Läsionen aber einige Zähne wiesen Füllungen auf. Die Mundhygiene war schlecht, Plaque und Zahnstein waren insbesondere im Bereich der unteren Schneidezähne lingual deutlich zu erkennen (Abbildung 4a). Ihr Piercing-Objekt aus chirurgischem Stahl konnte mit verschiedenen austauschbaren Kugeln im Durchmesser von 5,5 ±0,5 Millimeter versehen werden (Abbildungen 4b und c). Das Setzen dieses Schmucks war sehr schmerzvoll gewesen; die Patientin erinnerte sich, „sehr geweint“ zu haben.
Zahn 41 wies lingual eine Gingivarezession auf (Abbildung 4a). Die Patientin berichtete, dass diese Läsion schon größer gewesen sei. Nach verschiedenen Änderungen des Piercing-Objekts schien sie sich zurückgebildet zu haben. Das erste, ziemlich lange Objekt hätte innerhalb eines Monats einen Rückgang das Zahnfleischs hervorgerufen. Der „Piercer“ hätte daraufhin den männlichen Teil geändert, wobei eine Kugel durch ein abgeplattetes Endstück ersetzt wurde (Abbildung 4d).
Die scharfen Kanten dieses zweiten Piercing-Objekts verbesserten jedoch die Situation nicht, denn das Zahnfleisch war nun, gemäß der Patientin, ständig gereizt. Eine weitere, dritte Variante mit einem kürzeren Stab schien schließlich zufrieden stellend, und Frau H. bemerkte, dass das Zahnfleisch seitdem „zurückkehrte“ – eine Feststellung, die von ihrem Zahnarzt allerdings nicht bestätigt worden ist.
Patient Nr. 5: Frau P. H., 1979
Frau H. war bei guter Gesundheit. Abgesehen von einer allergischen Rhinitis wies ihre allgemeine Anamnese keine Besonderheiten auf. Sie betrieb eine gute Mundhygiene und war kariesfrei, zwei Zähne waren mit Füllungen versorgt.
Bei dieser Patientin wurden im Zusammenhang mit dem Tragen eines Piercings fortgeschrittene Gingivarezessionen festgestellt. Eine vorgehende orthodontische Behandlung war fotografisch dokumentiert worden. Es bestand somit in diesem Fall die Möglichkeit eines longitudinalen Vergleichs der Situation vor und nach dem Setzten des Piercings. Abbildung 5a zeigt eine harmonische Gingivakontur im Alter von 17 Jahren, unmittelbar nach entfernen der festsitzenden orthodontischen Apparatur.
Mit 18 Jahren ließ sich die Patientin die Unterlippe auf Höhe der Labiomentalfalte piercen (Abbildung 5b). Das Piercing-Objekt, das von einem Goldschmied hergestellt worden war, bestand zu 92,5 Prozent aus Titan. Vier Monate nach Einsetzen zeigten sich Rezessionen der Gingiva der unteren zentralen Inzisiven (Abbildung 5c), die in direktem Zusammenhang mit dem inneren, abgeplatteten Endstück standen (Abbildung 5d und 5e). Auf Anraten des Orthodonten konsultierte Frau H. einen Parodontologen, der vorschlug die Läsionen mit einem Gingivatransplantat zu decken, vorausgesetzt, dass das Piercing-Objekt nicht mehr getragen würde. Diesen Vorschlag lehnte die Patientin ab. Ein Jahr später waren die Gingivaläsionen noch weiter fortgeschritten (Abbildung 5f).
Diskussion und Literaturübersicht
Patienten mit Piercings im Mundbereich sind zwar vielleicht in der Zahnarztpraxis nicht sehr häufig, stellen aber heute auch immer weniger eine Ausnahme dar.
Piercings werden normalerweise ohne Anästhesie gesetzt. In der Regel gehört der Piercer nicht dem medizinischen Berufsstand an und übt seine Arbeit als Autodidakt aus. Im besten Falle arbeitet er in einer Tätowier- und Piercing-Boutique und hält sich an gewisse Regeln der Hygiene (Handschuhe, Einwegmaterial, Autoklav). Vor der Penetration der Zunge wird diese normalerweise mit einem Schreibstift auf der Mittellinie vor dem Zungenbändchen markiert. Von einer Pinzette gehalten wird sie dann mittels einer Nadel mit einem großem Durchmesser ventro-dorsal durchstochen. Eine biegsame Plastikkanüle wird sodann entlang der Nadel eingeführt. Nachdem diese Kanüle die Zunge von oben nach unten durchquert hat, wird die Nadel zurückgezogen und durch den stabförmigen Teil des Piercings ersetzt. Anschließend wird auch die Kanüle herausgezogen und am Ende des Stabs wird eine Kugel aufgeschraubt. Das primäre Piercing-Objekt hat meistens die Form einer Hantel mit einem Abstand zwischen den beiden Kugeln von ungefähr zwei Zentimeter (ist es kürzer so besteht das Risiko einer Inkorporation des Objekts in die Zunge). Eine Woche lang wird die Zunge beträchtlich anschwellen und die Heilung dauert, wenn keine Komplikationen auftreten, drei bis fünf Wochen [Boardman & Smith 1997]. Das endgültige, kürzere „Schmuckstück“ mit einem etwa 15 Millimeter langen Zwischenstück kann einige Wochen später getragen werden.
Die eingesetzten Objekte sind in der Regel beweglich und sollten nach Abschrauben eines Endstücks jederzeit leicht entfernt und wieder eingeführt werden können. Wird das Objekt eine gewisse Zeit nicht getragen, so kann sich der Penetrationskanal spontan schließen. Dies kann im Falle der Zunge manchmal innerhalb einiger Stunden geschehen.
Die Prozedur des Piercing ist nicht harmlos. Komplikationen können sofort oder später auftreten. Sie können sich auf die Mundhöhle beschränken oder systemische Folgen haben. Die unerwünschten Auswirkungen sind in Tabelle I aufgezählt, in der linken Spalte die lokalen Komplikationen, in der rechten die möglichen Folgen auf den Organismus. Die Liste möglicher Komplikationen ist gewiss lang, doch sind die meisten dieser Probleme nur in Einzelfällen beobachtet worden.
Die bei der Zunge häufigsten sofortigen - Lokaleffekte sind Schmerzen und Ödeme [Farah & Harmon 1998, Scully & Chen 1994]. Sie befinden sich in der Tabelle I oben links: Da ein Piercing ohne Anästhesie gesetzt wird, ist Schmerz unvermeidlich. Er ist manchmal sehr stark, wie wir es bei Patient Nr. 4 beschrieben haben. Der verursachte Schmerz ist unter anderem abhängig von der Erfahrung und Geschicklichkeit des Piercers. Aufgrund der reichlichen Vaskularisation entwickelt sich das Ödem in der Zunge schnell. Es beeinträchtigt die normale Nahrungsaufnahme, zumindest während der ersten Tage. In seltenen Fällen kann das Ödem eine Obstruktion der Luftund Atemwege verursachen (Tabelle I, Seite 56, rechte Spalte). Bei starker Ausprägung kann dies lebensgefährlich sein und eine Intubierung nötig machen [Hardee et al. 2000]. Um das Ödem zu begrenzen, empfehlen die Piercer ihren Klienten, während des ersten Tages Eiswürfel zu lutschen. Einige raten auch zur Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten [Farah & Harmon 1998].
Die umfangreiche Gefäßversorgung der Zunge impliziert das Risiko von starken Blutungen. Hardee et al. [2000] haben von einem Fall einer massiven Blutung bei einer jungen Patientin berichtet, die vier Stunden nach Zungen-Piercing das Bewusstsein verlor. Die Perforationsstelle, leicht exzentrisch zur Mittellinie, hatte während dieser Zeit kontinuierlich geblutet. Um eine Hämostase herbeizuführen musste die Patientin hospitalisiert werden.
Wenn man die Fülle von Mikroorganismen in der Mundhöhle bedenkt, überrascht nicht, dass im Bereich der Perforationsstelle auch eine Infektion auftreten kann [Chen & Scully 1992]. Die Häufigkeit einer solchen Komplikation ist nicht genau bekannt. De Moor et al. [2000] haben in einer Gruppe von 15 Patienten einen einzigen Infektionsfall beschrieben, während Boardman & Smith [1997] zwei von 51 befragten Personen zählten. Ramage et al. [1997] haben auf einen Fall infektiöser Endokarditis infolge des Einsetzens eines nasalen Piercing-Objekts aufmerksam gemacht. Wie zwei kürzlich erschienene Publikationen gezeigt haben, sind sich gefährdete Patienten eines solchen Risikos nicht unbedingt bewusst. Die eine Veröffentlichung betraf eine junge Frau mit einem Mitralisprolaps [Ram & Peretz 2000], die andere eine Patientin mit einer interventrikulären Kommunikation [Er et al. 2000]. In beiden Fällen waren weder ein Arzt noch ein Zahnarzt zu Rate gezogen und keine antibiotische Abschirmung für das Piercing vorgesehen worden.
Die häufigsten lokalen Effekte sind, wie auch bei unseren fünf Patienten beobachtet, Traumen der Gingiva sowie Beschädigungen des Zahnschmelzes, ferner eine gestörte Aussprache sowie Zahnsteinablagerung auf dem Piercing-Objekt.
Erst seit kurzem wird den gingivalen Traumen in der Literatur Beachtung geschenkt [Bethke & Reichart 1999, Boardman & Smith 1997]. Bei unseren Patienten waren die Rezessionen offensichtlich, sowohl bei den Patienten mit einem Piercing an der Unterlippe (Patienten Nr. 1 und 5) als auch bei den Trägern von Zungen-Piercings (Patienten Nr. 2 und 4). Im Falle der Lippenpiercings waren die Läsionen durch hervorstehende Objekte im Bereich der Umschlagfalte, entweder einer Kugel (Patient Nr. 1) oder einem abgeplatteten Endstück, hervorgerufen worden (Patient Nr. 5). Die Bilder des Falls Nr. 5 sind besonders interessant, weil sie, unseres Wissens das erste Mal, die Entwicklung einer gingivalen Rezession in Gegenwart eines Piercings innerhalb eines Jahres belegen. Abbildung 6 zeigt die anatomische Beziehung zwischen dem Piercing-Objekt und den unteren Inzisiven auf einer Fernröntgenaufnahme.
Piercings der Zunge verursachen Rezessionen der Gingiva auf der Lingualseite der Inzisiven. Diese Lingualläsionen scheinen bisher in der Literatur wenig beschrieben worden zu sein [Boardman & Smith 1997]. Sie sind offenbar umso ausgeprägter, je länger (Patient Nr. 4) und je massiver (Patient Nr. 2) das Piercing-Objekt ist und je weiter vorne es platziert wird. Traumen der Zahnhartgewebe, insbesondere Schmelzrisse und Frakturen, wurden bereits vor einigen Jahren beschrieben [Scully & Chen 1994]. Solange solche Läsionen lediglich den Zahnschmelz betreffen, ist eine Restauration nicht unbedingt angezeigt. Wird das Piercing-Objekt nicht abgesetzt, ist eine solche Intervention ohnehin langfristig zum Scheitern verurteilt [De Moor et al. 2000, Ram & Peretz 2000]. Patient Nr. 3 wies asymptomatische Schmelzdefekte auf. Bei Dentinexposition, dem Auftreten von Zahnüberempfindlichkeiten oder bei Vorliegen eines tiefen Risses können adhäsive Restaurationen nötig werden. Cobb et al. [1998] haben für solche Fälle eine adhäsive Restaurationstechnik mittels Komposit-Inlays empfohlen. Bei ausgedehnten Defekten kann der Zahn ernsthaft gefährdet werden. De Moor et al. [2000] haben drei derartige Fälle mit Zungen-Piercings dokumentiert, wobei es bei zwei der drei Fälle zum Verlust des gefährdeten Zahns kam. Dieselben Autoren haben berichtet, dass auch prothetische Elemente, speziell keramische, durch Piercings beschädigt werden können [De Moor et al. 2000].
Patient Nr. 4 erklärte, dass er nach dem Einsetzen des Piercing-Objekts in die Zunge eine Woche lang Schwierigkeiten beim Sprechen hatte. Mittlerweile habe sich dies gelegt und nun habe er eher Probleme mit dem Sprechen, wenn er sein Piercing-Objekt nicht trage. Farah & Harmon [1998] haben dieses Phänomen ebenfalls beschrieben. Die Zeit der Adaptation und des Wiedertrainierens der Zunge beträgt offenbar generell ungefähr eine Woche. Dieselben Autoren haben auch auf auftretende Interferenzen beim Kauen hingewiesen. Piercing kann auch der Grund für Zahnwanderungen sein, falls der Patient sich angewöhnt, das Piercingobjekt zwischen seine Zähne zu stoßen. In den beiden Fällen, die von Bethke & Reichart [1999] beschrieben wurden, vergrößerten sich Diastemata über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren kontinuierlich, bis das Objekt im Interdentalraum Platz fand.
Gelegentlich beklagen sich Träger von Piercing-Objekten über erhöhten Speichelfluss und das Auftreten von galvanischen Strömen [Boardman & Smith 1997, De Moor et al. 2000]. Auf dem Metall kann sich Zahnstein ablagern [Farah & Harmon 1998]. Patient Nr. 3 zeigte in der Tat derartige Ablagerungen auf der unteren Kugel seines Zungenpiercings (Abbildung 3B). Patient Nr. 4 gab uns zu verstehen, dass er gezwungen sei sein „Schmuckstück“ regelmäßig abzunehmen, um es von Belägen zu säubern. Seltener erwähnte unerwünschte Lokaleffekte sind Narbenbildung, Hyperplasien, leichte Nervenschädigungen oder Lähmungen, eine Inkorporation des Piercing-Objekts im Gewebe und Interferenzen bei Röntgenaufnahmen.
Die allgemeinen Effekte sind in der rechten Spalte der Tabelle I aufgeführt. Die Behinderung der Luft- und Speiseröhre durch ein Ödem wurde bereits erwähnt. Bei Benutzen von nicht sterilisiertem Material besteht ein Risiko für die Übertragung von Krankheitserregern, beispielsweise von HIV, Herpes-, Hepatitis- oder Epstein-Barr-Viren [Farah & Harmon 1998]. Dyce et al. [2000] haben den Fall einer Patientin beschrieben, die nach Setzen eines Zungenpiercings an Tetanus erkrankte, mit Folgeerscheinungen, die bis sechs Monate nach der Behandlung anhielten. Als schwere infektiöse Komplikation eines Zungenpiercings ist in der Literatur außerdem ein Fall von Angina Ludovici beschrieben [Perkins et al. 1997]. In diesem speziellen Fall war eine intravenöse initiale Antibiotikatherapie ohne Erfolg geblieben. Erst die Entfernung des Piercing-Objekts, die Intubation des Patienten und das Setzen dreier extra-oraler Drainagen konnte den Mundboden heilen.
Allergien oder Überempfindlichkeitsreaktionen auf Bestandteile von Piercing-Objekten sind insbesondere bei der Verwendung von Metallteilen nicht auszuschließen, indes bisher noch nicht in der Literatur dokumentiert [De Moor et al. 2000]. Fremdkörperreaktionen in der Form einer Sarkoidose wurden bei zwei Personen beschrieben, die an einem religiösen Ritual teilgenommen hatten [NG et al. 1997]. In die Wangen eingesetzte Objekte hatten Läsionen in Knotenform ausgelöst. Die Läsionen wurden lokal und systemisch mit Corticoiden behandelt.
Perkins et al. [1997] schließlich haben auf die Möglichkeit der Aspiration oder des Verschluckens von Piercing-Objekten, oder Teilen davon, aufmerksam gemacht. De Moor et al. [2000] haben von einem Patienten berichtet, der tatsächlich einen Teil eines Piercing-Objekts verschluckt hatte. Die Bestandteile von Piercing-Objekten sind fast immer von Hand zusammengeschraubt und können sich lösen. Der Träger sollte sich so oft wie möglich vergewissern, dass die Befestigung hält.
Andere in der Literatur erwähnte unerwünschte allgemeine Effekte sind septische Komplikationen und das toxische Schocksyndrom [Scully & Chen 1994].
Schlussfolgerung
Wir können bestätigen, dass das Einsetzen und Tragen von Piercing-Objekten in der Mundhöhle nebst einer Erschwerung der Mundhygiene weitere unerwünschte Folgen haben kann, deren Häufigkeit nicht bekannt ist, da die Mehrheit der zurzeit verfügbaren Veröffentlichungen sich nur mit Einzelfällen befasst. Obgleich ein Piercing wahrscheinlich meistens keine bleibenden negativen Folgen hat, können unerwünschte, zum Teil schwerwiegende Probleme auftreten. Piercing wird meistens unter schlecht kontrollierten hygienischen Bedingungen ausgeübt und eine postoperative Nachsorge fehlt. Dies ist mit den geltenden medizinischen Grundprinzipien nicht zu vereinbaren. Die Zahnärzte arbeiten an vorderster Front, um Komplikationen zu diagnostizieren und Patienten (und deren Eltern) zu informieren. Alles deutet darauf hin, dass Patienten mit oralen Piercings, ob sie ihr Schmuckstück während der Konsultation tragen oder nicht, in unseren Praxen in den nächsten Jahren vermehrt anzutreffen sein werden.
Zusammenfassung
Piercings im Mundbereich erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und werden daher auch in der Zahnarztpraxis vermehrt beobachtet. Diese Modeerscheinung ist medizinisch gesehen nicht unproblematisch, kann sie doch unerwünschte lokale und allgemeine Folgen haben. Die Zahnärzte sind an vorderster Front, Patienten über die Risiken zu informieren und Komplikationen abzuwenden. Im vorliegenden Artikel werden fünf Piercing-Fälle beschrieben, Piercings an der Unterlippe und an der Zunge, um die möglichen Schäden an Zahn und Gingiva zu illustrieren. Im Rahmen einer Literaturübersicht werden die beobachteten sowie andere, potentielle Komplikationen diskutiert.
Danksagungen
Wir danken den Kollegen Dr. N. Roehrich,
Dr. D. Plagnat und Dr. M.-A. Sigrist, die uns
erlaubten, die Fälle 2, 4 und 5 zu dokumentieren.
Pierre-Jean Loup
Abteilung für Orale Physiopathologie und
Parodontologie
Zahnmedizinische Kliniken der Universität
Genf
19, rue Barthélemy-Menn
CH-1205 Genf
E-Mail:
pierre-jean.loup@medecine.unige.ch
Übersetzt von A. Kieser und M.-H. Lafitte
Diese Publikation erfolgt mit freundlicher Genehmigung
der Schweizer Monatsschrift (Erstveröffentlichung:
SSO. Vol112: 5 / 2002)
Piercing der Mundhöhle
Komplikationen und potentielle unerwünschte Effekte
Lokale Effekte
Systemische Effekte
Schmerzen
Blockierung von Luft- und Speiseröhre
Ödeme
Übertragung von Krankheitserregern
Blutungen
Angina Ludovici
Infektionen
Allergie/Hypersensibilität
Traumen von Gingiva und Mukosa
Fremdkörper-Reaktion
Risse oder Frakturen in echten/künstli-
Aspiration/Verschlucken
chen Zähnen
Sepsis
Gestörte Aussprache
Toxisches Schock-Syndrom
Gestörtes Kauen
Zahnwanderungen
Starker Speichelfluss
Galvanische Ströme
Zahnsteinablagerungen auf dem Piercing-
Objekt
Narbenbildung, Hyperplasien
Lähmung, Nervenschädigungen
Inkorporation des Piercing-Objekts in die
Gewebe
Behinderung von Röngtenbildern