Myofunktionelle Therapie bei LKG-Spalten
Bei Patienten mit Spaltbildungen treten je nach Art und Schweregrad der Fehlbildung eine Vielzahl funktioneller Störungen auf. So sind durch die Kontinuitätsunterbrechung der Oberlippe sowohl die Gesichtsmimik als auch die Ernährung betroffen. Bei Gaumenspalten kommt es auf Grund der nicht vereinigten beziehungsweise fehlansetzenden Muskulatur und der fehlenden Trennung von Nasen- und Mundraum zu Störungen bei der Nahrungsaufnahme, der Atmung, des Sprechens und des Gehörs. Bei diesen Patienten liegt zusätzlich eine Zungenfehllage vor, die zur Verstärkung der Dysfunktionen führen kann. Insbesondere kommt der Muskelfunktion eine wesentliche Aufgabe sowohl in der Ausformung des Kieferknochens und der Zahnbögen als auch bei der gesamten Gesichtsentwicklung zu. Morphologische Abweichungen, wie Kontinuitätsunterbrechungen infolge von Spaltbildungen, führen daher zu zum Teil schwerwiegenden Wachstumsstörungen des Gesichtsschädels.
Auch nach den Primärverschlüssen von Lippe, Kiefer und/oder Gaumen und Segel kommt es auf Grund der postoperativen Narbenzüge zu Störungen der Gebissentwicklung und des Gesichtsschädelwachstums. Zusätzliche Fehlfunktionen der orofazialen Muskulatur (zum Beispiel Zungentieflage, anteriore Zungenposition mit Lage der Zungenspitze interdental oder interdental/ lateral in der Spaltlücke, viszeraler Schluckmodus, dabei Pressen der Zunge in die Spaltlücke, offene Mundhaltung) können bereits bestehende Zahnfehlstellungen, Okklusionsstörungen und Dysgnathien verstärken oder diese verursachen.
Nicht nur die Vielzahl der funktionellen Störungen stellt ein Problem in der Therapie von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen- Segel-Spalten und solitären Gaumenspalten dar, sondern auch deren wechselseitige Beziehungen. Auf Grund dieser Komplexität und Koinzidenz ist daher eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Seiten der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie, Logopädie, Humangenetik, Psychologie und Kinderheilkunde erforderlich.
Neben den kieferchirurgischen, kieferorthopädischen und sprachtherapeutischen Maßnahmen kommt der Normalisierung der Weichteilfunktion, das heißt dem Training einer feinkoordinierten Motilität der Kau- und perioralen Muskulatur, der Förderung der oralen Wahrnehmung und der Beseitigung muskulärer Fehlfunktionen, eine besondere Bedeutung in der Betreuung Betroffener mit Lippen-Kiefer- Gaumen-Segel-Fehlbildungen zu. Somit nimmt die myofunktionelle Therapie der orofazialen Dysfunktionen häufig eine wichtige Rolle in der Gesamtrehabilitation dieser Patienten ein.
Die Aufgaben der myofunktionellen Therapie bei Spaltträgern liegen in der Prävention der Fehlfunktionen, der frühzeitigen interzeptiven Intervention und auch in der Unterstützung bei der kieferorthopädischen und logopädischen Therapie. Folgende spezifische Indikationsbereiche sind hierbei zu nennen:
Bei Neugeborenen und Kleinkindern mit Lippen-, Kiefer- und/oder Gaumen- und Segelspalten zur Unterstützung der kieferorthopädischen Plattentherapie:
Manuelle orofaziale Regulationstherapie (zum Beispiel nach Castillo Morales) zur Harmonisierung des orofazialen Gleichgewichts:
• Verbesserung des Saugvermögens, Schluckens und Kauens;
• Verbesserung der Zungenlage zur Vorbeugung von Artikulationsstörungen;
• Stimulation der Lippenmuskulatur vor Lippenverschlussplastik; Vermeidung einer offenen Mundhaltung;
• Steigerung des Ganzkörpertonus;
• Prävention sekundärer Veränderungen wie Malokklusionen.
Bei Patienten mit Obstruktion der oberen Luftwege (zum Beispiel bei Patienten mit einer Pierre Robin Sequenz):
• Unterstützende Maßnahme bei der Therapie der Glossoptosis und der kongenitalen Mikrognathie des Unterkiefers (Therapie der Zungenfehllage, Reizsetzung im Bereich des Unterkiefers);
• Verbesserung des Saug- und Trinkvermögens.
Nach Lippenverschlussplastik:
• Vorbeugung einer sagittalen und transversalen Wachstumshemmung durch Förderung der Lippenbeweglichkeit und der Lippenfunktion;
• Training eines ungezwungenen Lippenschlusses.
Bei Spaltträgern mit Abnormalitäten (a) der Zungenlage und -funktion, (b) der Lippenhaltung und -funktion:
Um die schädlichen Folgen der orofazialen Dysfunktionen auf das Oberkieferwachstum (sagittale und transversale Wachstumsbehinderung) und das Wachstumsmuster (verstärktes vertikales Wachstumsmuster mit der Gefahr eines frontal offenen Bisses und Förderung des Unterkieferwachstums) zu reduzieren, kann in Kombination mit der kieferorthopädischen Behandlung eine myofunktionelle Therapie indiziert sein bei:
a) Zungendysfunktion
Gerade die Zunge übt während der Entwicklung der Mundhöhle unentbehrliche formative und stimulierende Reize aus. Bei Spaltpatienten treten jedoch in hohem Maße Zungendysfunktionen auf. Ziel der myofunktionellen Therapie ist daher:
• Stabilisierung einer korrekten Zungenlage und -funktion (Lage der Zunge in allen Teilen der Mundhöhle, Korrektur der häufig zu beobachtenden tiefen oder interdental beziehungsweise interdental/lateralen Zungenlage, Korrektur des häufig zu beobachtenden viszeralen Schluckmodus und des frontalen Zungenpressens, Normalisierung des Zungendrucks);
• Ausreichender Kontakt der Zunge mit den palatinalen Flächen des Oberkiefers und mit dem harten Gaumen während des Schluckens.
b) Lippendysfunktion
Bei allen Spalttypen werden Veränderungen der Lippenkraft und des Lippendrucks gefunden. Ziel der myofunktionellen Therapie ist daher:
• Stärkung der Lippenkraft und Verbesserung der Lippenelastizität;
• Normalisierung des Lippendrucks.
Bei Spaltträgern mit offener Mundhaltung und Mundatmung:
Auch bei Patienten mit gegebener Nasenatmung ist häufig eine offene Mundhaltung zu beobachten. Ursache sind in der Regel Störungen des gesamten Körpertonus. Zur Formation und Stimulation der Oberkieferund Mittelgesichtsentwicklung und zur Vorbeugung eines Rezidivs des erreichten kieferorthopädischen beziehungsweise kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlungsergebnisses ist jedoch eine passive Lage der Zunge im oberen Bereich der Mundhöhle und somit eine geschlossene Mundhaltung Voraussetzung. Ziel der myofunktionellen Therapie ist daher die Steigerung des Ganzkörpertonus mit Erzielung eines ungezwungenen Mundschlusses.
Bei Sprechstörungen bedingt durch Fehlfunktionen:
Patienten mit velopharyngealer Insuffizienz unternehmen häufig den Versuch, den nasalen Luftausstrom während der Phonation bestimmter Konsonanten zu kompensieren. Die Folgen können sein: rückverlagerte Artikulation, hyperfunktionelle Stimmbildung und mimische Mitbewegungen. Als Vorbereitung und Unterstützung der Sprachtherapie ist Ziel der myofunktionellen Therapie:
• Verbesserung der Mundmotorik, insbesondere im Zeitraum zwischen Gaumenverschluss, und Beginn der eigentlichen
Sprachtherapie;
• Korrektur der Zungenfehllage;
• Herstellung eines orofazialen Muskelgleichgewichts.
Resümee
Bei Spaltträgern treten auf Grund der Kontinuitätsunterbrechungen im Bereich der Lippe, des Kiefers, des Gaumens und des Segels komplexe funktionelle Störungen auf, die nur durch eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zufrieden stellend korrigiert werden können. Die myofunktionelle Therapie stellt hierbei einen Bestandteil in der Gesamtrehabilitation von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Spalten dar. Ihre Bedeutung liegt insbesondere in der Prävention weiterer Störungen, der frühzeitigen interzeptiven Intervention und der Unterstützung der kieferchirurgischen, kieferorthopädischen und/oder logopädischen Therapie. Die Indikation einer myofunktionellen Therapie sollte nach Absprache im Rahmen der interdisziplinären Sprechstunde gestellt werden. Die in der Therapie von Spaltträgern eingebundenen Kieferorthopäden, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen, Hals-Nasen-Ohrenärzte, Phoniater und Kinderärzte sollten daher uneingeschränkt die Möglichkeit besitzen, bei gegebener Indikation myofunktionelle Behandlungen bei Patienten mit Lippen- Kiefer-Gaumen-Segel-Spalten zu verordnen und somit Fehlentwicklungen in ihrem Fachgebiet vorzubeugen.
Interdisziplinärer Arbeitskreis LKG
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