Gastkommentar

Chancen vertan

Heftarchiv Meinung
Die politischen Parteien verbreiten wieder einmal ihre Wahlkampfprogramme – die Bundestagswahl am 22. September macht es möglich. Aber die Inhalte sind relativ substanzlos. Außerdem: Nach
der Wahl wird doch eine andere Gesundheitsreform kommen, als sie jetzt im Wahlkampf aufgezeigt wird.

Die Parteien stehen in den so genannten Startlöchern, um sich für den Wahlkampf bis zur Bundestagswahl am 22. September zu positionieren. Ein gesundheitspolitisches Wahlkampfprogramm muss her, wird landauf und landab gefordert. Und die Parteien sagen denn auch dem einmal in vier Jahren umworbenen Wähler, was sie ihm alles Gutes antun möchten.

Dennoch sind die Wahlkampfprogramme nichts als Placebo. Sie sollen vorgaukeln, der geneigte Wähler könne sich aus den Programmen das Passende aussuchen und dann richtig wählen – und die Parteien können nach der Wahl ihre Aussagen wieder vergessen und eine Gesundheitsreform betreiben, die nichts, aber auch gar nichts mit ihrem vorherigen lautstarken Getue zu tun hatte. So ist nun mal Politik.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat der Öffentlichkeit ein Programm vorgestellt, das ihre Reform nach den Bundestagswahlen deutlich machen soll. Sie hat erst einmal dem politischen Gegner Union unsoziales Handeln vorgeworfen und von Solidarität und Leistungsfähigkeit gesprochen. Dann begründet sie mit einem geistigen Salto quer: Die Erhöhung der Beitragsbesmessungsgrenze in der GKV will sie nicht, um mehr Geld in die leeren Kassen der Kassen zu bekommen. Vielmehr sei die Erhöhung notwendig, um die Abwanderung der jungen guten Risiken in die private Krankenversicherung aufzuhalten. Als ob 92 Prozent der Bevölkerung das Gesundheitssystem sanieren könnten, wenn es derzeit 90 Prozent nicht können.

Kollektivverträge und Einzelverträge bei den Ärzten soll es geben. Die integrierte Versorgung muss ausgebaut werden, Hausärzte sind zu stärken, ebenso die Patientenrechte. Prävention ist zu verbessern, die europäischen Aspekte sind bei der Gesetzgebung zu beachten.

Hört sich alles gut an – gibt aber mit Sicherheit nicht das wieder, was nach der Bundestagswahl als Gesundheitsreform von den Sozialdemokraten kommen wird.

Da hält dann die Unionsfraktion – die Parteimitglieder werden erst gar nicht gefragt – kräftig dagegen. Sie wirft in ihrem Wahlkampfpapier – natürlich auch – dem politischen Gegner Versagen vor. Die Leute, die Budgets ins Gesundheitswesen gebracht haben, kritisieren nun die SPD dafür. Dann kommen nach sechs Seiten Haut-den-Lukas (respektive die Bundesregierung) zwei Seiten gesundheitspolitische Zielvorstellungen. Vier Säulen soll es geben: 1. Prävention (wie die SPD); 2. Transparenz (wie die SPD); 3. Wettbewerb (wie die SPD); 4. Freiheit und Selbstbestimmung des Versicherten durch größere Wahlleistungen (nicht wie die SPD).

Auch die Liberalen haben etwas zu sagen. In ihrem Wahlkampfprogramm feiern ihre Aussagen von vor vier und vor acht Jahren fröhliches Wiederauferstehen.

Mit der Forderung nach mehr Selbstbestimmung und mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem (wie SPD und Union) zieht die FDP in den Bundestagswahlkampf. Der Krankenversicherungsschutz soll über unterschiedliche Tarife, Selbstbeteiligungen und das Leistungspaket frei gestaltbar sein (wie die Union).

Grundsätzlich soll das Kostenerstattungsan die Stelle des Sachleistungsprinzips treten. Ein Anheben der Pflichtversicherungsgrenze lehnen die Liberalen ebenso ab wie die Erweiterung des Risikostrukturausgleichs. Das Wettbewerbsverbot für Heilberufe soll gelockert werden, die Vorgabe einheitlicher und gemeinsamer Verhandlungen der Krankenkassen mit den kassen- (zahn)ärztlichen Vereinigungen fallen. Statt Budgets werden feste Leistungspreise angestrebt. Die Wirtschaft soll den Arbeitgeber-Beitragsanteil zur Krankenversicherung steuerlich neutral als Lohnbestandteil an den Versicherten auszahlen. Was im Übrigen wegen der damit verbundenen Führung von Einzelkonten für jeden Versicherten rund 4,5 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben der Krankenkassen bewirken würde.

Na, kommt da die Erinnerung?

Alles ist schon zigfach gefordert worden – im Wahlkampf. Verwirklicht wurde außerordentlich wenig. Die Umstände, heißt es dann, machen das nicht möglich. Keiner spricht von „besseren Erkenntnissen“ nach der Wahl. Denn dann würde man ja zugeben, dass das Wahlkampfprogramm von weniger guten Erkenntnissen geprägt war.

Im Zweifelsfall hat der Koalitionspartner Schuld, dass nicht alle ehrenwerten Ziele durchzusetzen sind. Die FDP hat darüber geklagt, die Union hat darüber geklagt, die SPD ebenfalls.

Vergessen, Chancen vertan, auf ein Neues. Fragt sich nur, worauf tatsächlich. Die Wahlkampfprogramme geben darüber keine Aufklärung.

Rainer VollmerGesundheitspolitischerParlamentskorrespondent Berlin

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