Replik zum Streit um die Vorbildfunktion des Präventionsmodells Schweiz

Alles nichts ohne Zähneputzen

Das Schweizer Präventionsmodell wird in der aktuellen Systemdiskussion von der zahnärztlichen Standespolitik Deutschlands als ein nachahmenswertes Beispiel angeführt. Ein in der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift – DZZ veröffentlichter Beitrag der Professoren Dr. Dr. H. J. Staehle, Heidelberg, und Dr. Kerschbaum, Köln, („Mythos Schweiz – Meinungen und Fakten zur Mundgesundheit in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland“, DZZ vom Juni 2003) stellte die Vorbild-Funktion des Schweizer Modells in Frage. Zu Unrecht, so die Reaktionen aus der deutschen Standespolitik wie auch seitens der Schweizer Zahnärzte-Gesellschaft SSO.

Das Präventionsmodell Schweiz – nur ein Mythos? Die Erstveröffentlichung der Thesen von Prof. Dr. Dr. Staehle und Prof. Dr. Thomas Kerschbaum (siehe dazu Artikel Seite 26) im DGZMK-Organ DZZ vom Juni vergangenen Jahres fiel in die Zeit intensiver Diskussionen um die jüngste Gesundheitsreform – und auf „fruchtbaren“ Boden in der parlamentarischen Auseinandersetzung zur Gesundheitsreform.

So nutzte SPD Gesundheitsexperte und ausgewiesener Sachleistungsbefürworter Klaus Kirschner den aktuell veröffentlichten Beitrag in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung zum Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz am 30. Juni 2003 in Berlin. Seine kritischen Fragen, unter anderem an die Bundeszahnärztekammer, stützten sich direkt auf die Aussagen aus dem DZZ-Beitrag.

Von den Autoren politisch so gewollt? „Dieser Beitrag .... verfolgt keine bestimmte politische Konzeption“, heißt es in der Langfassung des Beitrags von Staehle/Kerschbaum, der in zm-online.de dokumentiert ist. Er sollte, so die Autoren, „auch die präventiven Pionierleistungen der Schweiz in keiner Weise schmälern“. Vielmehr appellierten Staehle und Kerschbaum daran, „vermehrt vergleichbares und repräsentatives Datenmaterial zur Mundgesundheit in Deutschland, der Schweiz und weiteren Ländern“ zu erheben und darauf basierend zu ermitteln, ob und wo im Detail Unterschiede bestehen.

Mythos Sachleistung

Eine Argumentation, die der Bundesvorstand des FVDZ massiv in Frage stellt. „Wer heute für eine Renaissance des ‘Mythos Sachleistung’ argumentiert, unterstützt den Weg in die Staatsmedizin“, konterten Dr. Wilfried Beckmann und seine Stellvertreter Dr. Kerstin Löwe und Dr. Karl-Heinz Sundmacher im Freien Zahnarzt (DFZ vom September 2003). Die Schlussfolgerung der Professoren, dass es zwischen der Schweiz und Deutschland hinsichtlich der Mundgesundheit der Bevölkerung keine wesentlichen Unterschiede, folglich auch keinen Hinweis dafür gebe, dass „sich finanzieller Druck infolge Selbstzahlerleistungen auf das aktive Mundgesundheitsverhalten der Bevölkerung positiv auswirken würde“, sei pure Interpretation zur Rettung der sachleistungsbefürwortenden Position.

Das Zahlenmaterial lege, so der FVDZ, eine ganz andere Interpretation nahe: „Die Mundgesundheit ist in beiden Ländern bei ungefähr gleichen Pro-Kopf-Ausgaben in etwa gleich, bei ebenfalls vergleichbaren sozioökonomischen Daten. Unterstellt, der Deutsche würde bei einer Privatisierung der zahnmedizinischen Behandlung das gleiche Verhalten an den Tag legen wie der Schweizer – eine Eingewöhnungsphase einmal ausgeblendet –, dann würden sich die Daten so gleichen wie vor dem Systemwandel.“

Sinnvoller wäre es gewesen, so der Bundesvorstand des FVDZ in seiner Replik zu den Ausführungen der Professoren Staehle und Kerschbaum, „die Auswirkung der Ausgliederung zahnmedizinischer Leistungen aus dem Katalog eines Solidarsystems auf die Mundgesundheit zu untersuchen“. Von den Kollegen aus den Niederlanden und Schweden, die unter diese Kategorie fallen, werde entsprechend Positives berichtet.

Gegen Rationierung

Kein Verständnis zeigt der FVDZ für das offensichtliche Anliegen der Autoren Staehle und Kerschbaum, „die für die Bürger und Patienten untragbare Situation schönzureden“. Hier gehe es keinesfalls darum, wie im Beitrag verkürzend suggeriert werde, „dass man sich auch in Deutschland von einer Förderung der ökonomischen Eigenverantwortung keine Kostenreduktion, sondern positive Impulse für ein Wachstum im Zahnmedizin-Markt erhofft“. Die Situation sei anders: Heute zahlten die Bürger, so der FVDZ, im budgetierten Sachleistungssystem hohe Zwangsbeiträge und erhalten eine versteckte Leistungsrationierung. Zahnärzte müssten notgedrungen budgetorientiert untersuchen und behandeln.

Das Anliegen der verfassten Zahnärzteschaft gehe deshalb dahin, „dass unter einem Regime von Bürokratie und Fremdeingriffen, wie der GKV in Deutschland, eine fachlich und ethisch verantwortungsbewusst ausgeübte Zahnmedizin immer stärker in die Defensive gerät und deshalb das Sachleistungssystem überwunden werden muss, wenn wissenschaftlich begründete und innovative Zahnmedizin in Deutschland eine Zukunft haben soll“.

An der Praxis vorbei

Empört reagierten zahnärztliche Standesvertreter auf den Vorwurf, „bei zahnärztlichen Standesvertretern sei es bis heute sehr verbreitet, die Prävention oraler Erkrankungen auf ,Zähneputzen’ zu reduzieren“. Hier werde die Debatte auf ein theoretisches Laboratoriums-Niveau verlagert, das weit an der gelebten und erlebten Wirklichkeit der zahnärztlichen Praxis vorbeigeht. Der FVDZ-Bundesvorsitzende Dr. Wilfried Beckmann: „Für über 50 000 praktizierende Zahnärztinnen und Zahnärzte gilt: Eine regelmäßige und konsequente Mundhygiene ist zwar nicht alles, aber alles ist nichts ohne regelmäßige und konsequente Mundhygiene.“ Auch nur den Eindruck zu erwecken, dass „mechanisches Zähneputzen“ für die Gesunderhaltung oraler Gewebe nicht mehr von entscheidender Bedeutung ist, könne in seiner psychologischen Wirkung als gar nicht gefährlich genug für die Mundgesundheit der Bürger eingeschätzt werden.

Das entscheidende Anliegen der Zahnärzte müsse vielmehr sein, schon vom ersten Kontakt mit dem Patienten im Kleinkindalter an ein gemeinsames Handeln, eine individuelle Beziehung von Patient und Zahnarzt, als Fundament erfolgreicher Prävention zu vermitteln. Der Patient müsse informiert und überzeugt werden, Eigenverantwortung zur Prävention gegen Karies und Parodontopathien zu übernehmen. Dass neben diesen Faktoren selbstverständlich auch die genetische Disposition oder eine schwer beherrschbare Keimflora von Bedeutung für die Erkrankung sind, bedürfe keiner weiteren Diskussion.

Wer sich „für Prävention und Eigenverantwortung“ einsetze, so der FVDZ in seiner Replik auf die Thesen von Staehle und Kirschbaum, „schafft Voraussetzungen für die Finanzierbarkeit solidarischer Leistungen dort, wo der Einzelne überfordert wäre“.

Keine Anreize in die falsche Richtung

Differenziert betrachtet auch Prof. Dr. Michael J. Noack, Köln, die aktuelle Diskussion um den in Frage gestellten präventiven „Mythos“ der Schweiz. Mit dem Hinweis, dass die Zahnärzteschaft eigentlich stolz darauf sein kann, dass der Begriff Prävention ganz allgemein „ mit zahnmedizinischer Prävention assoziiert ist“, so der Chefredakteur der Fachzeitschrift Quintessenz (Ausgabe 8/2003), verweist er darauf, dass viele Konzepte, die mittlerweile in Deutschland für eine bessere Zahngesundheit sorgen, in der Schweiz entwickelt und optimiert worden sind. Es habe sich gezeigt, „dass präventive Maßnahmen zunächst zu mehr Mundgesundheit wie auch Lebensqualität führten. Solange die äthiologischen Faktoren kontinuierlich präsent seien, „ist es offenbar auch eine dauerhafte Aufgabe, sich für orale Gesundheit zu engagieren“, meint Noack.

Damit gelte auch in der Kariologie, was in der Parodontologie schon länger feststehe: Nach erfolgter Therapie ist eine kontinuierliche bedarfsorientierte Individualprophylaxe offenbar notwendig. Ein optimaler Zugang, so Noack mit Blick auf die Sachleistungsdebatte, hieße aber, diesen Zustand resigniert zu zementieren und Anreize in die falsche Richtung zu geben. Und: „Was die politische Debatte der Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen betrifft, wird man allein mit epidemiologischen Studien nicht weit kommen.“

Noacks Kritik am Sachleistungssystem: „Die von Politikern so gern benutzte Formel, wir müssten die Mittel effektiver einsetzen, indem wir die Heilkunde präventiver orientieren, wird nicht automatisch zu einem geringeren Bedarf an Heilkunde führen.“ Sein Resümee: „Bleibt die politische Frage, was solidarisch finanziert werden soll.“ Bis zur Lösung des Problems oder zum Import der Lösung, zum Beispiel aus der Schweiz, „können wir uns ja weitere Jahrzehnte über die sozialverträgliche Finanzierung von Körperersatzteilen streiten“, meint der Kölner Professor zum Vorstoß seiner wissenschaftlichen Kollegen Staehle und Kerschbaum.

Willkommen im Club

Und die Schweizer selbst? Die Zahnärzte-Gesellschaft SSO reagiert mit Verwunderung auf die Debatte des Nachbarn Deutschland und verweist darauf, dass die Wurzeln der Schweizer Prophylaxe-Erfolge in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts liegen – und auf dem Einsatz damals experimenteller Maßnahmen von Privatpraktikern beruhen. „Während in den meisten Ländern mit Kassensystemen die Prophylaxe noch während Jahrzehnten kaum beachtet wurde, reduzierte sich in der Schweiz der Kariesbefall zunehmend – zur Freude der Kinder und Eltern“, meint die SSO und konstatiert mit Blick auf Deutschland: „Wenn Deutschland es nun – und in unglaublich kurzer Zeit – geschafft hat, das Niveau der ‘Pioniernationen’ zu erreichen, so kann man nur sagen: ‘Willkommen im Club’.“

Berücksichtigt werden müsse in der Debatte, so die Schweizer Gesellschaft, wie weit solche Werte durch erst seit kurzem ansässige Ausländer verfälscht beziehungsweise angehoben werden: In Deutschland zählte man im Jahr 2000, so die erhobenen Daten, 8,9 Prozent Ausländer, während sich dieser Prozentsatz in der Schweiz im selben Jahr auf 23 Prozent belief. Also keine vergleichbare statistische Basis für einen Vergleich. Die Tatsache, dass die Pro-Kopf-Kosten im Kassensystem Deutschlands zurzeit etwa gleich hoch sind wie im freiheitlichen System der Schweiz, lasse, so die Kritik an den Thesen der Autoren Staehle und Kerschbaum, „noch keine Rückschlüsse auf die Effizienz der Systeme zu“. Allerdings ließen die Rückmeldungen aus der Praxis in der Schweiz den Rückschluss zu, dass ein sehr erheblicher Teil der Behandlungskosten auf komfort- und ästhetikbedingte Arbeiten entfalle. Die SSO: „Wie weit dies auch für Deutschland zutrifft, können wir natürlich nicht beurteilen.“

Füllhorn GKV

Die Schweizer Bürger hatten sich 1994 im Rahmen der Revision des Krankenversicherungsgesetzes dafür ausgesprochen, dass nur die Behandlung von nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems in die soziale Krankenversicherung einbezogen werden sollte. Durch Prophylaxe vermeidbare Schäden sollten hingegen weiterhin durch die Patienten finanziert, beziehungsweise durch eine private Zusatzversicherung abgedeckt werden.

Die SSO hält die Diskussion um das Für und Wider des Sachleistungssystems für „wenig fruchtbar“. Tatsache sei, dass sich die meisten Zahnschäden durch Prophylaxe vermeiden ließen. „Wenn dies dem sozial Benachteiligten nicht so leicht gelingt wie dem Durschnittsbürger“, so die SSO in ihrer politischen Conclusio zum Beitrag der Professoren Staehle und Kerschbaum, „kann die Lösung wohl kaum darin bestehen, aus dem Füllhorn der Krankenversicherung Geld zu verteilen.“

Somit reduziere sich der Systemunterschied zwischen Deutschland und der Schweiz auf die politische Präferenz und damit auf die Fragen: „Will man jedem Bürger optimale orale Verhältnisse auf Kosten der Allgemeinheit verschaffen? Oder versucht man, die Kosten durch Prophylaxe zu minimieren, die Bürger im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Verantwortung zu nehmen und das eingesparte Geld für andere Zwecke zu verwenden?“

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