Gastkommentar

Schlusslicht Deutschland

Beim Umbau der Sozialsysteme setzt die Regierung auf welterfahrene Innovationsberater. Erfahrene Fachleute aus der traditionellen Selbstverwaltung lassen sich aber nicht ins Abseits drängen. Ihre Gesamtverantwortung darf die Politik nicht beliebig an Experten delegieren.

Martin Eberspächer
Leiter der Abteilung Wirtschaft und Soziales des Bayerischen Rundfunks

Die Zeit der runden Tische ist vorbei. Nach drei Jahren Stagnation lassen sich Konflikte der Interessengruppen nicht mehr in gemütlichen Runden am Kamin lösen. Es gibt nichts zu verteilen wie einst in der Bonner Republik und fast alle haben viel zu verlieren. Als Schlusslicht in der EU wird Deutschland aus dem Ausland mit gut oder schlecht gemeinten Ratschlägen reichlich bedient. „Benchmarking“ ist angesagt. Auf Auslandsreisen mit Spitzenmanagern hat Gerhard Schröder erlebt, was in China und anderswo ohne lästige Rücksichten auf Verbände und Parteifreunde möglich ist. Nachdem das Bündnis für Arbeit in Berlin an unvereinbaren Positionen der Tarifpartner gescheitert war, musste der Bundeskanzler Farbe bekennen. Parteisoldat Florian Gerster wurde auf die Großbaustelle in Nürnberg versetzt. McKinsey und Roland Berger setzten neue Maßstäbe. Ein Dauerkonflikt vor allem mit den Gewerkschaftern in der Selbstverwaltung war programmiert. Dabei ging es nicht nur um politische Richtungen, sondern auch um handfeste Interessen diverser Bildungsträger. Florian Gerster suchte keine Verbündeten und machte unnötige Fehler. Am Ende standen Ursula Engelen-Kefer und die Arbeitgeberverbände in seltener Einheitsfront gegen Gerster und die Bundesregierung. Mit Frank-Jürgen Weise wurde ein unabhängiger Nachfolger gewählt, der nur Erfolg haben kann, wenn er sich – wie einst Jagoda – um Konsens in der Sache bemüht. Bemerkenswert, dass Schröder selbst Reformarbeit und Parteiamt jetzt trennen will.

Das sollte der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt zu denken geben, die verstärkt Zielscheibe der unzufriedenen Genossen wird. Zweifellos gibt es auch Fehlentwicklungen bei Selbstverwaltungen im Gesundheitswesen. Die Politik bleibt aber angewiesen auf den Sachverstand und eine ideologiefreie Zusammenarbeit mit den Beteiligten, wenn sie Reformen in diesem System umsetzen will. Das gilt nicht nur in der Krankenversicherung, sondern auch für die Heilberufe. Notwendig ist eine Balance der relevanten Kräfte. Denn der Gesetzgeber kann nur den allgemeinen Rahmen setzen und das Verfahren demokratisch legitimieren. Der Einsatz von neuen Therapien und Medikamenten lässt sich dagegen nicht durch Beamte regeln, die im Zweifel Rechtspositionen vertreten und auf Nummer sicher gehen. Wenn es darum geht Kosten, Nutzen und Ethik bei neuen Entwicklungen in der Medizin abzuwägen, sind einsame Berater überfordert.

Es gibt keine vernünftige Alternative zu einem gemeinsamen Gremium von Heilberufen und Krankenkassen. Dabei zeigen Ereignisse der letzten Wochen, dass der Reformeifer in Wahljahren nachlässt. Im Zweifel drückt sich die Politik gerne um Verantwortung für unbequeme Entscheidungen. Wenn das eigene Wählerpotential betroffen ist, sind Gefälligkeitsatteste ohne Praxisgebühr gefragt – selbst wenn der Beitragssatz darunter leidet. Dann drückt sich die Politik um Verantwortung und der „Schwarze Peter“ wird der Selbstverwaltung zugespielt.

Nach jeder Wahl kommt die Stunde der wirtschaftlichen Wahrheit. Wichtiger als eine „Bierdeckelsteuer“ für die Stammtische bleibt das Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt zu senken. Mit mehr als vierzig Prozent werden Arbeitsplätze in Deutschland nie wieder wettbewerbsfähig. Dann wird der Wohlstand weiter schwinden. Zu Recht fragen Arbeitgeber immer lauter, warum sie überhaupt Beiträge für ihre Mitarbeiter bezahlen sollen. Anders als bei der Gründung der Kassen vor 120 Jahren haben die meisten Krankheiten heute nichts oder nur wenig mit dem Beruf oder Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz zu tun. Wie gerecht sind Solidargemeinschaften, wenn eine Minderheit abhängiger Arbeitnehmer unter der Beitragslast fast zusammenbricht, während andere nicht arbeiten und durch verbilligte Beiträge subventioniert werden? Solange die gesetzlichen Krankenversicherungen keine solidere finanzielle Grundlage erhalten, sind jeder Selbstverwaltung Grenzen für eine notwendige Versorgung gesetzt. Auch deshalb bleibt die individuelle, private Vorsorge eine grundsätzliche Alternative.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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