Gastkommentar

„Die größte Gefahr droht von der Politik“

Die Finanzierung der Krankenversicherung ist nicht zukunftsfähig. Ein neues System muss nicht nur die Demografiefestigkeit berücksichtigen, sondern auch die Bezahlbarkeit des medizinischen Fortschritts für alle mit einbeziehen. Keine Partei hat zurzeit eine politisch umsetzbare Antwort darauf.

Dr. Rudi Mews,
Parlamentskorrespondent in Berlin

Die Diskussion um eine zukunftsfähige Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems ist trotz der Einigung der großen Volksparteien im vorigen Jahr auf eine „Notlösung“ (Horst Seehofer, CSU) nie abgerissen. Zwei Schlagworte, „Bürgerversicherung“ und „Kopfpauschale“, stehen dabei einander plakativ gegenüber. Mehrere Modelle vermischen einzelne Elemente daraus, und kein Vorschlag bezieht schon glaubwürdig die Finanzierung mit ein. Sie ist das Hauptproblem. Die Übergangszeiten kosten Milliarden. Werden alle Bürger einbezogen, so müsste nicht zuletzt das gesamte Besoldungssystem der Beamten radikal verändert werden. Das ist nur in zwei bis drei Generationen zu bewältigen.

Eine Aussage des Bundeskanzlers kennzeichnet die verworrene Lage. Ihm sei das Solidarprinzip in der Krankenversicherung wichtig, ließ Gerhard Schröder verlautbaren. Auf Nachfrage fügte ein Regierungssprecher in der Bundespressekonferenz hinzu, der Kanzler habe zwar eine Meinung, sei aber nicht festgelegt. Wer immer will, mag das für eine Präzisierung halten. Ohne Zweifel eignet sich der Name „Bürgerversicherung“ für die Wahlkampf-Sozialsemantik besser als andere. Auch CSU-Chef Edmund Stoiber hat bis vor kurzem daran festgehalten, obwohl die Schwesterpartei CDU sich nach dem Vorschlag der Herzog-Kommission für die Kopfpauschale entschieden hat.

Auch in der SPD gibt es widerstreitende Meinungen. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hält die Bürgerversicherung für nicht ausreichend durchdacht. SPD-Chef Franz Müntefering setzt neuerdings andere Akzente. Er steht unter dem Druck des linken Flügels seiner Partei und der Gewerkschaften, die sich von der Bürgerversicherung mehr Beitragsgerechtigkeit versprechen. Nicht nur alle Staatsbürge, sondern auch alle Einkünfte sollen in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Die private Krankenversicherung (PKV) fürchtet sowohl von den Schwarzen als auch von den Rot-Grünen den Tod auf Raten.

Müntefering kündigte – zusammen mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt – kurzfristig schon einen Gesetzentwurf bis zum nächsten Jahr an. Das war nur eine Eintagsfliege. Die Grünen, im Prinzip seit langem für die Bürgerversicherung, sehen realistisch mit Teilen der SPD zusammen, dass ein Gesetzentwurf der Regierungskoalition im Bundesrat mit seiner Unionsmehrheit nicht die geringste Chance hätte. Die Genossen wollen nun bis zum Herbst ein Eckpunktepapier vorlegen. Die bisher uneinige Union will, vorausgesetzt, sie gewinnt die Bundestagswahl 2006, ihre Vorstellungen so schnell wie möglich danach umsetzen. Im Laufe der Legislaturperiode bröckelt erfahrungsgemäß im Bundesrat der Rückhalt für die Regierung. Die größte Gefahr der Umsetzung drohe von der Politik, sagt Horst Seehofer und meint damit selbstkritisch die Abhängigkeit der Parteien von Lobbyisten und Pressure-Groups. Hat die Wissenschaft eine Antwort? Der Kronberger Kreis, ein wirtschaftsnahes Gremium angesehener Wirtschaftswissenschaftler und Juristen, schlägt vor, mit individuellen Gesundheitsprämien das System von den Arbeitskosten abzukoppeln und damit die zurzeit wie eine zusätzliche Lohnsteuer wirkenden GKV-Beiträge abzulösen. Eine Vorsorgekomponente soll die fehlende Kapitaldeckung der GKV auffangen. Die PKV hat auch bei den Kronbergern keine Überlebenschance.

Das Gesundheitswesen sei ein Wachstumsmarkt, sagen alle Modellbauer. Und alle wollen Wettbewerb, meist aber zu Gunsten der eigenen Klientel. Jedenfalls müsste jedes neue System nicht nur die Demografiefestigkeit, sondern auch die Finanzierung des medizinischen Fortschritts mit einbeziehen. Die Parteien geben darauf bisher keine schlüssige Antwort. Wissenschaftler, wie der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach und der Darmstädter Finanzwissenschaftler Bert Rürup, beide Multiberater der Politik, machen sich den Sieg von Bürgerversicherung und Kopfprämie streitig. Rürup hat inzwischen Gehör bei der CSU gefunden. Aber rechnen soll er noch, sagt Stoiber. – Wer durchschlägt den gordischen Knoten? Kommt dazu womöglich ein ungewohnter Impuls von einem Bundespräsidenten Horst Köhler, der – noch gar nicht im Amt – schon den Umbau der Gesellschaft angemahnt hat?

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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