Seltene Differentialdiagnose einer Osteolyse

Primär enossales malignes B-Zell-Lymphom des Unterkiefers

228058-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin

Kasuistik

Es handelte sich um eine 57- jährige Patientin, bei der in der Vorgeschichte der Zahn 36 entfernt worden war. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Sensibilitätsstörung im Sinne einer Hypästhesie im Versorgungsgebiet des N. alveolaris inferior vorhanden. Die nachbehandelnde Fachärztin für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vermutete auf Grund der unmittelbaren Beziehung der Osteolyse zum Zahn 37 eine radikuläre Zyste (Abb. 1). Sie entfernte den Zahn 37, nahm eine Revision der Osteolyse vor und veranlasste eine erste histologische Untersuchung. In der histopathologischen Beurteilung wurden zunächst ausgeprägte entzündliche Infiltrate mit Granulationsgewebsneubildung beschrieben und der Befund in erster Linie als stark entzündlich alterierte radikuläre Zyste interpretiert. Zu diesem Zeitpunkt sah der Pathologe keinen Anhalt für Malignität. Nachdem sich in der Folgezeit in der offen nachbehandelten Resthöhle keine reguläre Granulation, sondern ein grauglasiges Gewebe gebildet hatte, nahm die Kollegin erneut eine Gewebeprobe in der gleichen Region. Die mittels immunhistochemischer Methoden erweiterte histopathologische Beurteilung ergab nun einen malignen, nicht epithelialen monomorphzelligen Tumor. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Patientin umgehend zur weiteren Diagnostik und Therapie der Klinik zugewiesen. Zum Aufnahmezeitpunkt lag in der Region 36/37 lediglich ein kleiner, in Granulation befindlicher Residualbefund vor (Abb. 2). Zeitgleich mit dem Beginn der erweiterten bildgebenden Diagnostik bestätigte die Referenzuntersuchung am Lymphknotenregister Kiel (Prof. Dr. Dr. h.c. R. Parwaresch) ein diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom. Die Abbildung 3 zeigt unter A die immunhistologische Darstellung von CD20, einem Oberflächenmarker der B-Zell-Reihe auf nahezu sämtlichen malignen Zellen. Die unter Abbildung 3 B dargestellte immunhistologische Markierung von CD3, einem Oberflächenmarker der T-Zell-Reihe ist nur vereinzelt für Zellen ohne morphologische Malignitätszeichen positiv. Nach Diagnosesicherung wurde die Patientin zur Therapie an die Klinik für Hämatologie der Universität weitergeleitet.

Diskussion

Maligne Lymphome bezeichnen eine Gruppe von Krankheitsbildern, die auf der Basis klonaler Expansion von Zellen unterschiedlicher Entwicklungsstadien des hämatopoetischen beziehungsweise lymphatischen Systems entstehen. Bei der weitaus überwiegenden Zahl (> 90 Prozent) handelt es sich um Neoplasien der B-Zell-Reihe, rund zehn Prozent sind der T-Zell-Reihe zuzuordnen [Hartmann et al., 2002]. Obwohl das führende Symptom maligner Lymphome im Kopf-Hals-Bereich die Lymphknotenschwellung ist, entstehen hier rund 30 Prozent der Lymphome primär extranodal und betreffen dann vor allem die lymphatischen Gewebe des Waldeyer-Rachenrings, die Nasennebenhöhlen und die Kopfspeicheldrüsen. Mit Ausnahme des Plasmozytoms, das typischerweise und fast ausschließlich im Knochen entsteht, sind ossäre Primärmanifestationen maligner Lymphome ausgesprochen selten [Ludwig, 2002].

Es ist daher keinesfalls verwunderlich, dass im vorliegenden Fall der osteolytische Befund mit topographischer Beziehung zur Wurzel des 37 zunächst als radikuläre Zyste angesprochen wurde, zumal diese Diagnose mit der (ersten) histologischen Artdiagnose abgesichert erschien. Retrospektiv lässt sich im primären Orthopantomogramm allerdings ein durchaus interessanter radiologischer Hinweis auf eine nicht dentogene Genese der Osteolyse erkennen. Verfolgt man die Konturen des Kanalis mandibularis (Abb. 1), so fällt bei genauer Betrachtung auf, dass der Alveolarkanal sowohl anterior als auch posterior spindelförmig aufgetrieben erscheint. Diese Röntgenmorphologie kann den (Anfangs-)Verdacht auf ein nicht dentogenes, neoplastisches Geschehen lenken.

Entscheidend für die zügige Diagnosefindung im vorliegenden Fall war, dass der ausbleibende Erfolg der scheinbar „adäquaten” Therapiemaßnahme zusammen mit einem klinisch ungewöhnlichen Befund (grauglasige Gewebevermehrung anstelle von Granulation) zum Hinterfragen der primären Arbeitsdiagnose führte und folgerichtig eine erneute Biopsie zur Überprüfung der Histologie vorgenommen wurde. Für die zahnärztliche Praxis soll diese Falldarstellung noch einmal deutlich herausstellen, dass auch eine histologisch abgesicherte Diagnose überprüft werden muss, wenn der Krankheitsverlauf oder ein konkreter klinischer Befund nicht durch die bisherige Arbeitsdiagnose erklärbar ist.

PD Dr. Dr. Martin KunkelProf. Dr. Dr. Torsten E. ReichertKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieJohannes-Gutenberg-UniversitätAugustusplatz 255131 Mainz

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