Deutsches Kammersystem – Vorbild für Europa
Sehr verehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege,
mit der Europawahl am 13. Juni 2004 wird Geschichte geschrieben. Erstmals bestimmen 25 Staaten gemeinsam das Europäische Parlament und dessen Zusammensetzung. Dieses Ereignis lässt auch uns Heilberufler nicht kalt. Zum einen rücken wir nun als Deutsche in die Mitte des neuen Europas, zum anderen merken wir immer deutlicher, dass unser Berufsstand von den Entwicklungen aus Brüssel beeinflusst wird (siehe Titelgeschichte).
Ich begrüße die Dynamik, die von diesem Einigungsprozess ausgeht, sehr. Sie ist Garant dafür, dass Elemente wie Liberalität, Marktwirtschaft und Wettbewerb in unserem nationalen Bereich, vor allem im Gesundheitswesen, weiter Fuß fassen werden. Andererseits sehe ich ein wenig mit Sorge in die Zukunft. Regulierungen, Verordnungen und eine überbordende Bürokratie sind auch Dinge, die aus Brüssel kommen und die uns in der täglichen Praxis das Leben schwer machen.
Europa birgt Chancen wie Risiken, und dieses Spannungsverhältnis wird uns auf längere Sicht begleiten. Eines steht fest: Wir werden umdenken müssen, denn tradierte Strukturen werden derzeit in Brüssel auf den Prüfstand gehoben.
Damit greife ich die Initiative von Wettbewerbskommissar Mario Monti heraus, der bei seiner Bestrebung, bestehende Wettbewerbshindernisse zu beseitigen, scharfe Kritik an den Berufsverbänden geübt hatte, sodass die Befürchtung aufkam, er wolle dem Korporatismus in Deutschland den Garaus machen. Inzwischen wird diese Denkrichtung von vielen Seiten beanstandet, natürlich auch von uns.
Die Bundeszahnärztekammer hat sich mit dieser Problematik intensiv auseinandergesetz. In der Tat sind die Perspektiven des Korporatismus und damit des Kammerwesens in Deutschland keineswegs so düster, wie es von interessierten Kreisen gern dargestellt wird. In Gegenteil – das Modell der Kammer selbst ist der Weg in die Zukunft. Das wurde anlässlich der letzten Sitzung des BZÄK-Strategieausschusses ganz deutlich. Diese Perspektive bestärkt die Impulsreferate der BZÄK-Consiliumsmitglieder Prof. Dr. Peter J. Tettinger und Prof. Dr. Dr. Wilfried Wagner ebenso wie die Ergebnisse der BZÄK-Arbeitsgruppe „Kammer der Zukunft“, vorgetragen vom Sprecher der Kammern, Dr. Markus Schulte, Hauptgeschäftsführer der Landeszahnärztekammer Hessen. Kammern erweisen sich nicht nur unter Zugrundelegung des nationalen Rechts, sondern auch im Rahmen des durch Grundfreiheiten wie der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit geprägten europäischen Binnenmarktes als zukunftsfähig. Sie sind anzusehen als in Form von Selbstverwaltung betriebene Agenturen der Qualitätssicherung. Viel mehr noch: Kammern sind die Kompetenzzentren der Freien Berufe. Entscheidend für deren Zukunft ist die Gestaltungskompetenz. Das betrifft die Bereiche Fortbildung, Qualitätssicherung und Gesundheitsziele, die stärkter in den Vordergrund gerückt werden sollten.
Derzeit werden Überlegungen angestellt, auf nationaler wie auf europäischer Ebene die Kompetenz von Kammern im Rahmen eines „Benchmarking-Konzeptes“ im Vergleich zu Kontrastmodellen herauszuarbeiten. Vergleichsobjekte liegen auf der Hand, zum Beispiel Privatorgantisationen mit Aufsichtsfunktionen oder ein staatlicher Regulator.
Rückenwind bekommen wir im Übrigen auch von der Europäischen Kommission aus der Generaldirektion Binnenmarkt. Im Richtlinienvorschlag über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist den Selbstverwaltungsorganisationen eine hervorgehobene Rolle gegeben. Die Berufsorganisationen werden aufgefordert, europäische Verhaltenskodizes auszuarbeiten. Die Kommission habe die besonderen Belange und die Tradition der Freien Berufe im Auge, erklärte kürzlich auch Alexander Schaub, Generaldirektor Binnenmarkt der EUKommission, anlässlich des Tages der Freien Beruf in Berlin. Er erklärte: „Wir wissen um die Bedeutung, die Ihre Dienstleistungen für die weitere Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und damit für die Erreichung der ehrgeizigen Ziele hat, die Europa sich gesetzt hat.“
Das alles gibt mir Anlass zu der These, dass das deutsche System eine Vorreiterrolle hat. Wir fühlen uns in der Auffassung bestärkt, dass eher das deutsche Kammerwesen als Vorbild für Europa taugt, als dass andere Vorstellungen von uns übernommen werden sollten.
Auf jeden Fall wird sich die Bundeszahnärztekammer weiter auf allen Ebenen für eine Stärkung und Entwicklung des deutschen Kammermodells einsetzen – im Sinne der freiberuflichen Tätigkeit des Zahnarztes.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dr. Jürgen WeitkampPräsident der Bundeszahnärztekammer