Schnauze voll
Andreas Mihm
Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Berlin
Deutsche sind fleißig und ordnungsliebend, pünktlich und korrekt. Deshalb streiken sie auch nicht. In der internationalen Arbeitskampfstatistik rangierten die deutschen Arbeitnehmer im unteren Drittel, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund feststellt. Und wenn einer die Arbeit niederlegt, um auf der Straße seinen Protest zu demonstrieren, dann ist es ein Autobauer oder Stahlkocher von der IG Metall, vielleicht auch ein öffentlich bediensteter Müllkutscher oder Busfahrer mit dem Ver.di-Mitgliedsbuch in der Tasche. Einige Berufsgruppen streiken überhaupt nie. Dazu gehören die Ärzte. Denn die dürften ihre Patienten schließlich nicht im Stich lassen, weil das unmoralisch und unethisch wäre. Und zweitens geht’s denen sowieso gut. Arbeitskampf haben die gar nicht nötig.
Soweit die Fernsehfassung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Arbeitsbedingungen für Mediziner in Praxis und Krankenhäusern haben sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Protestkundgebungen niedergelassener Ärzte, wie unlängst auf der Kölner Domplatte, und Protestzüge von Klinikärzten auf den Straßen von immer mehr Städten wirken wie ein Ventil, aus dem der aufgestaute Überdruck mit schrillem Pfeifen entweicht. Die ärztlichen Verbände und Organisationen registrieren überrascht eine seit den frühen 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gekannte Protesthaltung: Die Ärzteschaft wird radikaler. In aller Öffentlichkeit vollzieht sich die Entzauberung eines Berufsstands, der für seine Mitglieder immer mehr von seinem Zauber verloren hat. Viele Mediziner haben – schlicht gesagt – die Schnauze voll.
Dabei geht es nicht allein um die Höhe des Geldbetrags, der am Monatsende beim Einzelnen auf dem Konto ist. Es geht um Arbeits- und Vertragsbedingungen, um Dienstzeiten, nicht bezahlte Überstunden und immer mehr Bürokratie, es geht um wachsende Leistungsanforderungen bei knapper werdenden Mitteln, um Finanzbudgets, die Praxen strangulieren und Krankenhäusern das Leben schwer machen. Es geht um gebrochene Versprechen, wie bei der von der neuen Regierung nochmals hinausgezögerten Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes, nach dem Bereitschaftsdienste im Krankenhaus von Januar an als Arbeitszeit zu gelten hätten. Es geht auch darum, ob und in wie weit der niedergelassene Arzt noch ein freier Beruf sein darf, der die Höhe seines Einkommens auch durch die Menge der eingesetzten Arbeitszeit variieren kann. Da ist einiges zusammengekommen.
Letztlich steht dahinter die Frage, was einer Gesellschaft ihre medizinische Versorgung wert ist, und wie sie mit dem dafür benötigten Personal umgeht. Sie geht schlecht mit ihm um. Zumindest gewährt sie ihm nicht die Fürsorge, die sie dem medizinischen Personal schon aus purem Eigennutz zukommen lassen sollte. Denn die alternde Gesellschaft ist auf motivierte und gut ausgebildete Mediziner angewiesen. Das gilt für heute, für morgen und auch für übermorgen. Aber warum sollen sich junge Menschen künftig noch für den Arztberuf entscheiden, wenn der immer weniger attraktiv wird? Und wie um alles in der Welt soll der Medizinbetrieb, der gut zehn Prozent der inländischen Wertschöpfung erwirtschaftet, als Wachstumsmotor brummen, wenn der Keilriemen die Kraft nur unzureichend überträgt?
Der Gesetzgeber hat das deutsche Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einem immer strikteren Kurs des Zwangssparens unterzogen. Und so wie es aussieht, hält hier auch die große Koalition Kurs. Doch wer glaubt, bei Pharmaindustrie und Ärzten ließen sich mühelos noch Milliarden herauspressen, ohne dass die Versorgungssicherheit in Mitleidenschaft gezogen würde, der irrt. Das Gegenteil ist der Fall. Gute Leistung muss sich auch in der Bezahlung und den Arbeitsbedingungen widerspiegeln. Das wissen auch die Patienten, die Sympathie für die Ärzteproteste zeigen: Wer Discountpreise bezahlt, darf keine Erste-Klasse-Qualität erwarten. Erste- Klasse-Qualität wird aber das bestehende Finanzierungssystem der Krankenversorgung künftig immer weniger produzieren. Wer wirkliche Verbesserungen will, muss deshalb die Systemfrage stellen. Vor allem an deren Beantwortung wird sich die neue Regierung messen lassen müssen: Will sie mehr Freiheit und Wettbewerb oder mehr Regulierung und Rationierung?
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