Auszug aus dem Schlaraffenland
Andreas Mihm
Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Berlin
Kurz vor der erwarteten Bundestagswahl hat das Bundeskabinett den Sozialbericht 2005 verabschiedet. Das von Sozialministerin Ulla Schmidt erstellte Opus liest sich wie eine einzige Rechtfertigung für die Agenda 2010.
Doch wer sich durch 188 Seiten gelangweilt hat, weiß nicht nur, dass auch die „Bekämpfung von Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Gewalt“ eine Spielart rot-grüner Sozialpolitik ist. Er wird doch noch belohnt: Mit dem statistischen Anhang. Da sind in langen Kolonnen kleiner Ziffern die großen Zahlen des deutschen Sozialbudgets versteckt. Die anzusehen lohnt. Denn wer sie gesehen hat, wird nicht mehr darüber klagen, dass hierzulande zuwenig Geld für „Soziales“ ausgegeben wird.
2003, neuere Zahlen liegen noch nicht vor, wurden für Sozialleistungen – von der Rente bis zur Sozialhilfe und von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zum Wohngeld – in Deutschland 696,6 Milliarden Euro ausgegeben. Das ist eine neue Rekordmarke, die keine Jubelschreie hervorruft.
Vom Bruttoinlandsprodukt, das ist die Summe aller im Inland erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen, entfielen damit im vorvergangenen Jahr 32,2 Prozent auf Sozialausgaben. Das ist fast ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung. Die Zuwachsrate des Sozialbudgets lag einmal mehr über der des Wirtschaftswachstums. Für jeden Einwohner – vom Neugeborenen bis zum Greis – ergibt das für das Jahr 2003 rechnerisch Sozialausgaben in Höhe von 8 441 Euro. Für das Geld bekommt man beinahe einen fabrikneuen Kleinwagen.
Binnen 40 Jahren haben sich die Sozialleistungen pro Kopf damit um den Faktor elf erhöht. 1963, als für Rente und Krankenkasse, Familien- und Arbeitsmarktpolitik 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben wurden, beliefen sie sich noch auf 749 Euro pro Kopf. Seither haben sich die staatlich veranlassten Wohltaten stetig vermehrt, absolut, aber auch relativ zur Wirtschaftskraft. Das war solange kein Problem, als dies aus wachsender Geschäftstätigkeit der Wirtschaft und damit steigenden Einkommen der Beschäftigten problemlos finanziert werden konnte. Aber seit Jahren wächst die Wirtschaft nicht mehr oder nur noch in Trippelschritten – allein die Sozialausgaben florieren.
An die 40 Prozent des Sozialbudgets werden aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, 60 Prozent durch Beiträge auf das Arbeitseinkommen aufgebracht, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen. Das sind sechs Punkte weniger als 1991 aber acht mehr als in den 60er Jahren. Zudem hat sich seither die Zusammensetzung des Einkommens geändert. Anders als vor 40 Jahren erzielen die Deutschen heute höhere Einkommen aus Zinsen und Dividenden – auf die keine Beiträge fällig werden. Im Ergebnis ist die Finanzierung über Beiträge eine Sondersteuer auf Arbeit. Dabei ist Arbeit in Deutschland heute schon vielfach teurer als in der wachsenden Zahl von Konkurrenzländern.
Wir leben nicht nur über unserer Verhältnisse, sondern bürden einem immer kleineren Teil der Bevölkerung wachsende Lasten auf. Dass dies genau jener Teil der arbeitenden Bevölkerung ist, von dem darüber hinaus erwartet wird, für sein eigenes Alter privat vorzusorgen, macht das Vorgehen noch absurder.
Weil in den vergangen Jahren nicht rechtzeitig und beherzt genug umgesteuert wurde, fällt es nun umso schwerer. Wer den kranken Zahn nicht früh genug behandelt, muss ihn später ziehen. Später ist jetzt. Die nächste Regierung muss beherzt gegensteuern, den Aus-Zug aus dem Schlaraffenland unter Dampf setzen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Dies gilt umso mehr, als das Sozialbudget 2005, nach einem leichten Dämpfer im vergangen Jahr, erneut angestiegen sein dürfte. Noch so ein trauriger Rekord.
Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.