Zeit der Versprechen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
„In der Politik müsste gelten, was in der Medizin gilt: Wer nicht aufklärt, haftet,“ soll Jürgen Borchert, Richter am hessischen Landessozialgericht, mit Blick auf unsere Volksvertreter einmal gesagt haben. Borcherts Forderung wird sich nicht erfüllen, erst recht nicht zu Zeiten eines Bundestagswahlkampfs. Bis zum Tag der Wahrheit am 18. September zählt – weit mehr als gesunder Sachverstand, nüchterne Analyse oder ergebnisorientierte Argumentation – allenfalls das attraktive Versprechen, das gefällige Parteiprogramm, die große Geste.
Und da jeder Polit-Profi zu wissen meint, was dem Wahlvolk gefällt, sind die Angebote der Volksparteien sich weit ähnlicher als es ernst zu nehmenden Fachleuten lieb sein kann. Vielleicht hält deshalb couragiert Originäres wie die ursprüngliche Form der CDU-Gesundheitsprämie selten Stand und wird schnellstens verwässert. Der typische Volksvertreter schwimmt lieber mainstream abwärts, als dass er sich in Gefahr begibt, selber den Bach abzugehen.
Also schielt das Gros der potenziellen Parlamentarier auf die Ausschläge der Seismografen unserer Meinungsforscher, reagiert dann schnell und/oder heftig, hofft aber inständig auf ein kurzes Gedächtnis der Deutschen nach der Wahl. Fachlich korrekte Diskussionen, gar Denkmodelle oder Forderungen von Sachkundigen wie sie beispielsweise Betroffene aus dem Gesundheitswesen immer wieder konsequent einbringen, haben im Zuge dieser inszenierten Selbstdarstellungen keine Chance. Es ist nicht die Zeit der großen Würfe. Wer einen ehemaligen Verfassungsrichter und mittlerweile respektierten Steuerreformer in sein Kompetenzteam hofiert, um ihn schon zwei Tage später als Utopisten ins Abseits zu stellen, der schielt offensichtlich nur auf die Quote. Aber trotz Wahlkampfspektakel dreht sich die Welt weiter. Und die ist aus Sicht der zahnmedizinischen Versorgung zur Zeit erfrischend übersichtlich. Denn das seit Anfang des Jahres – übrigens auch von besagten Politikern – eingeführte System befundbezogener Festzuschüsse ist alles andere als mainstream, gerät aber auch im Wahlkampf nicht in Turbulenzen.
Das System hat – entgegen immer wieder aufwabernder Kritik manch unwilliger Insider – einen besonderen Charme: Es stellt erst einmal die Versicherten in der Regel nicht schlechter als bisher. Es löst zudem die Aufgaben der solidarischen Krankenversicherung besser als alle bisherigen Ansätze des Sachleistungssystems. Der Patient wird nicht vom medizinischen Fortschritt ausgegrenzt. Und trotzdem gibt es – zumindest von dieser, unserer Seite aus – keine Kostenexplosion, sondern eher eine Entlastung des GKV-Finanzierungsproblems.
Für uns Zahnärzte ist es – angesichts der voraussichtlich auch weiterhin gespannten Finanzlage der GKV-Versorgung – immens wichtig, das Festzuschusssystem in der Prothetik erfolgreich zu implementieren und langfristig zu etablieren. Was jetzt als kleiner Schritt gilt, könnte bald zur Blaupause für andere zahnmedizinische Bereiche werden. Dieser Weg gäbe uns Zahnärzten und unseren Patienten Stück für Stück die Freiräume zurück, die wir für eine sachgerechte, qualitativ beständige zahnmedizinische Versorgung brauchen. Gelingt es uns, Patienten, Beteiligte und politische Entscheider durch gute Arbeit in der Praxis von den Vorteilen des Systems zu überzeugen, ist zumindest für die Zahnmedizin möglich, dass Mainstream wird, was heute noch als exotisches Experiment kritisch beäugt wird. Und wer versteht, dass mit Festzuschüssen in der GKV eine saubere Trennung von „need“ und „want“ möglich wird, begreift auch die Chance, die das Modell zur grundlegenden Umsteuerung der gesetzlichen Krankenversicherung haben kann: Elementare Risiken, notwendige Behandlungen bleiben versichert, was darüber hinaus geht, gehört allein in die Verantwortung des Versicherten.
Dieser Weg der kleinen Schritte ist erfolgreich und ohne Risiken gangbar. Er braucht – selbst in Zeiten des Wahlkampfes – keine großspurigen Versprechen, an die sich später niemand mehr erinnern will. Was er braucht, ist die entsprechende Geduld, den Prototypen laufen zu lassen, zu beobachten und nach Erfahrung nur dort feinzusteuern, wo es – allerdings im Sinne aller Beteiligter – auch tatsächlich nötig ist.
Für Politiker ist das in den mondänen Zeiten des Wahlkampfes kein Thema. Aber es funktioniert – und das zählt.
Mit freundichen kollegialen Grüßen
Dr. Jürgen FedderwitzVorsitzender der KZBV