Alterspyramide und demografischer Wandel

EU sucht nach Auswegen aus dem Dilemma

Heftarchiv Gesellschaft
Die europäische Gemeinschaft hat sich auf die Suche nach Lösungen begeben, um den demografischen Herausforderungen – immer mehr alte Menschen bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten – zu begegnen. Doch die Antworten fallen bislang dürftig aus und münden in einem fast schon verzweifelt klingenden Appell an Regierungen und Bevölkerungen, eine neue Solidarität zwischen den Generationen herzustellen.

Staatssekretär Peter Ruthenstroth-Bauer vom Bundesfamilienministerium versuchte auf einem internationalen EU-Fachkongress zum Thema „Demografischer Wandel“ in Brüssel, vorsichtigen Optimismus zu verbreiten: Eine Gesellschaft des langen Lebens sei „kein Schreckgespenst“ und die gestiegene Lebenserwartung müsse als Chance begriffen werden, um Wachstum, Bildung und Innovationen zu fördern.

Angesichts der Zahlen zur demografischen Entwicklung in Europa mutet diese Aufforderung dennoch fast ein wenig zynisch an. Nach Hochrechnungen der Europäischen Union (EU) wird der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen bis 2050 von heute 17 auf 30 Prozent ansteigen. Die unter 24-Jährigen wiederum werden dann nur noch knapp ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Grob gesagt werden im Jahr 2030 somit zwei Erwerbstätige zwischen 15 und 65 Jahren für einen Nichterwerbstätigen über 65 Jahre aufkommen müssen. „Diese Entwicklung wird sich auf alle Bereiche des Lebens auswirken“, betonte EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla auf dem Fachkongress in Brüssel. Förderung des aktiven Alterns, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Steigerung der Geburtenraten sowie eine verbesserte Integration von Einwanderern sind die zentralen Schlagworte, mit denen die EU die Debatte auf nationaler und europäischer Ebene anheizen will.

Den Crash verhindern

Über das Ziel waren sich in der belgischen Hauptstadt dabei alle einig: Der Arbeitsmarkt muss so umgestaltet werden, dass ein Crash der Sozialversicherungssysteme verhindert wird und die Wirtschaft neuen Schwung bekommt. Dass ein solcher Umgestaltungsprozess zudem nicht ohne grundlegende Reform der Sozialversicherungssysteme selbst ablaufen kann, ist inzwischen auch allen Regierungen klar.

Gelingt es nicht, das Ruder in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik herumzureißen, sieht die EU düsteren Zeiten entgegen. „Europas potenzielles Wachstum wird von derzeit zwei Prozent schon bis 2015 auf 1,5 Prozent zurückgehen und bis zum Jahr 2040 auf 1,25 Prozent sinken“, so die nüchterne Prognose des Sozialkommissars. Unmissverständlich daher auch seine Botschaft: „Wir müssen alle Register ziehen, um der demografischen Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Und entweder, es packen alle mit an oder wir schaffen es nicht.“

Doch das ist leichter gesagt als getan. Zwar haben einzelne Länder, wie die nordischen Staaten, recht erfolgreiche Ansätze entwickelt, um zum Beispiel sowohl die Beschäftigungsraten von Frauen als auch die Geburtenraten zu steigern. „Allerdings lässt sich dieses Modell nicht so ohne weiteres auf alle 25 Mitgliedstaaten der EU übertragen“, mahnte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

Traditionell gewachsene Unterschiede in den familien-, sozial- und beschäftigungspolitischen Strukturen der einzelnen Staaten sowie kulturell und religiös geprägte Differenzen in den Mentalitäten stehen einer Lösung nach dem Prinzip „one size fits it all“ entgegen.

Kein Zweifel herrschte in Brüssel jedoch darüber, dass es den europäischen Nationen gelingen muss, auch Menschen jenseits des heutigen Renteneintrittsalters sowie mehr Mütter in den Arbeitsmarkt zu integrieren, bei gleichzeitig hoher gesellschaftlicher Akzeptanz solcher Maßnahmen. Das wiederum setzt voraus, dass die zunehmend längere Lebenserwartung der Menschen mit einer entsprechenden Lebensqualität, in sozialer wie gesundheitlicher Hinsicht, einhergehen muss. „Die Bedeutung präventiver medizinischer Maßnahmen bei jungen wie alten Menschen wird in der öffentlichen Diskussion noch zu sehr vernachlässigt“, kritisierte Alan Walker, Professor für Sozialpolitik an der Universität von Sheffield. Politische Strategien zur Gesunderhaltung müssten aber schon im Kindesalter ansetzen. „Denn der Grundstein für die Ausprägung der meisten chronischen Leiden, wie Herz-Kreislauferkrankungen oder Diabetes mellitus, wird oftmals schon in den frühen Lebensjahren gelegt und dann durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst“, erklärte Walker.

Auch das Thema Familienplanung ist, das wurde auf dem Kongress deutlich, längst keine private Angelegenheit mehr. „Wenn wir das Thema Renten öffentlich diskutieren, muss das Gleiche auch für die Geburtenraten gelten“, merkte Professor Wolfgang Lutz vom Internationalen Institut für Angewandte System Analysen (IIASA) in Laxenburg, Österreich, an.

Denn von Ausnahmen wie Frankreich abgesehen, fehlt Europa die demografische Antriebskraft. Die durchschnittliche Geburtenrate in der EU ist seit dem Ende des Babybooms Mitte der 60er Jahre auf 1,4 Kinder pro Frau gefallen. Der Schwellenwert, der erforderlich ist, um das Bevölkerungsniveau zu halten, liegt hingegen bei mindestens zwei Sprösslingen pro Familie. Ursache für den rückläufigen Fortpflanzungstrend ist allerdings weniger mangelnde Lust am Kinderkriegen. Europäische Studien belegen sogar, dass viele junge Paare in der EU durchaus gerne mehr Kinder hätten. Vielmehr ist es in der Regel eine Kombination mehrerer Faktoren, die den Wunsch nach Nachwuchs im Keim erstickt. Hierzu zählen in erster Linie fehlende Kinderbetreuungsleistungen, eine Stigmatisierung berufstätiger Mütter oder von Männern, die sich zeitweilig auf ihre Vaterrolle beschränken, sowie zu unflexible Arbeitszeitmodelle.

Dabei versteht es sich von selbst, dass politische Maßnahmen nicht nur kurzfristige Zielsetzungen vor Augen haben dürfen. „Ansonsten landen wir in einer Sackgasse, aus der wir nur ganz schwer wieder herauskommen“, mahnte Lutz.

Petra SpielbergRue Colonel Van Gele 98B-1040 Brüssel

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