Gastkommentar

Illusions-Gesellschaft

Heftarchiv Meinung
Gewiss, dieses Deutschland vermittelt auf den ersten Blick immer noch den Eindruck einer bemerkenswerten Wohlhabenheit; relativ viele dicke Autos auf den Schnellstraßen, vergleichsweise gut funktionierende Infrastruktur, zumutbare Verschmutzungsgrade in den Kommunen. Doch die Fassade bröckelt und lässt zunehmend erahnen, welchen Grad an innerer Aushöhlung sie nur noch mühsam zu verdecken in der Lage ist.

Klaus Heinemann
Freier Journalist

Die Rentenversicherung muss erstmals seit 20 Jahren vorzeitig Mittel aus dem Etat des Bundes in der Größenordnung von einer halben Milliarde Euro in Anspruch nehmen. Andernfalls wäre die Auszahlung der Renten, auf die ein verfassungsrechtlich verbriefter Anspruch besteht, nicht zu gewährleisten. Aber es kommt noch schlimmer: Aller Voraussicht nach müssen im November „echte Kredite“ in Höhe von mehreren Millionen Euro aufgenommen werden, damit die Altersruhegelder pünktlich ausgezahlt werden können. Und das alles, obwohl zur Stabilisierung der Rentenfinanzen eine zusätzliche Steuer eingeführt worden ist, die gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagen abgeschmolzen, die Arbeitgeber zur frühzeitigen Beitragsüberweisung gezwungen und die Rentner selbst mit Nullrunden überzogen wurden. Fazit: Vertrauen weg!

Die gesetzlichen Krankenkassen nahmen, um dem politischen Druck auf die Beitragssätze zu entsprechen, Milliarden-Summen an Krediten auf, obwohl ihnen dies gesetzlich ausdrücklich untersagt ist. Nun sammelt die Politik bei allen, die sich dem nicht entziehen können, Gelder ein, um diese Lücken zu füllen. Dabei schreckt sie nicht vor Nacht-und-Nebel-Aktionen (voller Beitragssatz für Betriebsrenten und Versorgungsbezüge) oder verfassungsrechtlich extrem bedenklichen Manövern (Absicherung des Krankengeldes in Höhe von 0,5 Beitragssatzpunkten durch Rentner, die gar keinen Anspruch darauf haben) zurück.

Fazit: Vertrauen weg!

In der gesetzlichen Pflegeversicherung fahren die Pflegekassen angesichts dramatisch dahinschmelzender Rücklagen einen rigiden Sparkurs. Das merken die Betroffenen sowohl bei den Einstufungs-Begutachtungen durch den MDK als auch bei der Zuerkennung von Leistungen. Das inzwischen enorme Dimensionen annehmende Problem der Versorgung und Pflege Demenzkranker bleibt weiter ungelöst.

Fazit: Vertrauen weg!

Hinsichtlich der Dinge, die sich unter dem Stichwort Hartz IV im Bereich der Arbeitsvermittlung abspielen, fehlen dem Beobachter fast die Worte. Abgesehen von der Umbenennung der Arbeitsverwaltung hat sich qualitativ nichts verbessert. Es sind eben keine Jobs da, und die, welche vorhanden sind, werden zu einem Großteil mit ausländischen Kontingentarbeitnehmern besetzt, da für Deutsche nicht zumutbar. Die Stimmung auf den Fluren ist trostlos. Fazit: Vertrauen weg!

Eine Partei, die angesichts dieser durch und durch pessimistisch strukturierten Gemengelage die Wahrheit sagt, beweist zwar Mut, verspielt jedoch Zustimmung. Eine sozialistischlinksgewerkschaftliche Gruppierung hingegen, die weiterhin den Anschein erweckt, als gebe es einen bequemen Königsweg, erhält enormen Zulauf jener, die sich als Verlierer definieren. Ein Königsweg, der den Enttäuschten, Frustrierten und Gedemütigten vorgaukelt, es könne gelingen, mit weniger Arbeit, weniger Produktivität, weniger Investitionen sowohl betrieblicher wie privater Natur, mit weniger Kindern, mit blanker Selbstverwirklichung bei mehr Konsum, mit mehr Urlaub zugleich ausreichend Jobs, ein wünschenswertes Maß an gesundheitlicher sowie pflegerischer Fürsorge und hinreichender Sicherheit im Alter herbeizuführen.

Wer ein derartiges Bündel an Illusionen anbietet, ist des Zulaufs sicher. Ist diese Republik also immer noch nicht reif für Reformen? Das, so scheint mir, wäre wohl ein Trugschluss. Worauf es ankommt ist, den konkreten Vertrauensverlust der Bürger klar zu erkennen, darauf einzugehen und ihnen eine Aussicht auf politische Verlässlichkeit und Seriosität zu bieten. Daran hat es die Hip-Hop-Politik der vergangenen Jahre sträflich mangeln lassen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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