Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand
Im 18. und 19. Jahrhundert bildeten sich in der Gegend um Beauvais und Compiègne, rund 80 Kilometer nördlich von Paris im Département l’Oise viele Fabriken, die sich der Bürstenmanufaktur widmeten. Dazu gehörte auch die Herstellung von Zahnbürsten. Zuvor war der Markt weitgehend von den Engländern beherrscht.
Die Gegend ist geprägt durch die Flüsse Oise – ein Nebenfluss der Seine – und Thérain, die das nötige Wasser für die Bürstenherstellung und die Energie für den Betrieb der Maschinen lieferten. Allein am Fluss Thérain gab es zu dieser Zeit rund 100 Wassermühlen. In der Mühle in Saint Félix nahe Beauvais befindet sich heute ein Museum, das die traditionelle Bürstenherstellung der damaligen Zeit veranschaulicht. Ferner gibt es im Öko-Musée in Beauvais viele zeitgeschichtliche Informationen.
Ein Kunsthandwerk
Die Bürstenmacherei basiert auf der Kunstdrechslerei, die zunächst kleine Schreibtäfelchen, Pfeifen, Kruzifixe, aber auch Bürsten und Kämme aus den verschiedensten Materialien wie Knochen, Elfenbein, Holz oder Perlmutt herstellte. Die Kunstdrechslerei gehörte zur Innung der Möbel- und Elfenbeinschnitzer. Im Jahre 1659 wurden für diese Innung neue Statuten durch die Patentbriefe von Louis IV erlassen. In diesen heißt es unter anderem: „Mit Hilfe der künstlerisch verzierten Zahnbürsten lassen sich schreckliche Schmerzen im Kopf vermeiden...“. Dazu muss man wissen, dass Louis IV lebenslang unter Zahnabszessen zu leiden hatte.
Historische Studien belegen, dass die erste Zahnbürste 1498 von den Chinesen hergestellt wurde. Die im rechten Winkel auf einem Holz- oder Elfenbeingriff angeordneten Borsten stammten vom Wildschwein. Davor wurden büschelförmige Bürstchen benutzt, die aus aufgefaserten Pflanzenstielen hergestellt waren. Auch die Japaner benutzten in der EDO-Ära büschelförmige Zahnstocherbürstchen – Fusayoji – genannt. Diese Bürsten jedoch waren ausgesprochene Luxusartikel, wurden aus hochwertigen Materialien hergestellt und waren mit kostbaren Steinen verziert.
Wann die erste Zahnbürste nach Europa und damit auch nach Frankreich kam, ist schwierig zu sagen. Fest steht: Zunächst war sie ein reiner Luxusartikel und nicht für die Massen vorgesehen. Angeblich wurde die erste Zahnbürste schon 1570 dem französischen Hof durch den spanischen Botschafter vorgestellt. Es gibt Hinweise in den „Mémoires de la famille Verney“, in denen 1649 Sir Ralph Verney von einem Freund gebeten wird, sich nach den kleinen Bürsten für die Sauberkeit der Zähne in Paris zu erkundigen. Kurz zuvor wurde im Hôtel Drouot – einem bekannten Versteigerungshaus – erstmalig eine Zahnbürste verkauft. Letztere wurde in einer Schatulle aus goldfarbenem Saffianleder präsentiert, die im „trompe l’oeil“-Stil in Form eines Buches gestaltet war.
In Großbritannien liest man von der trägen und verwerflichen Lebensweise der Studenten vom „All Souls College“ in Oxford, die angeblich den ganzen Vormittag nichts anderes taten, als sich die Zähne zu putzen, was damals bei Männern als dekadent und weibisch galt.
In Frankreich hatte Pierre Fauchard zu Beginn des 18. Jahrhundert empfohlen, die Zähne mit Urin zu reinigen, da die damals gebräuchlichen Bürsten aus Rosshaar zu weich waren. Urin enthält Ammoniak, der sich auch heute noch in chemischen Verbindungen in der Zahnpasta findet.
Die erste „moderne“ Zahnbürste wurde 1780 von William Addis entworfen und in seiner Firma „ADDIS Ltd., Brushworks, Hertford hergestellt. Sie bestand aus einem handgefertigten Holzgriff, der vorn perforiert war, um die Schweineborsten aufzunehmen, die mit verknoteten Fäden befestigt waren.
Auch Napoleon war sehr bedacht auf Körperpflege und benutzte regelmäßig eine Zahnbürste, was damals eher die Ausnahme war. Die Bürste war fester Bestandteil seines Reisenecessairs, von Martin-Guillaume Biennais mit einem Griff aus vergoldetem Silber und einem austauschbaren Kopf mit Wildschweinborsten gefertigt. Deshalb erteilte Napoleon auch 1818 das erste französische Patent zur Bürstenherstellung dem Kunstdrechsler Naudin, der mit Biennais zusammenarbeitete. Ferner trug die Marine zur breiten Einführung der Zahnbürste bei, indem sie die Zahnbürste 1872 zum „militärischen Objekt“ erklärte und verfügte, dass sie fester Bestandteil der Seemannsausrüstung wurde.
Zahnbürsten wurden großteils in Heimarbeit hergestellt. Die Männer fertigten die Griffe aus diversen Materialien, besonders Knochen, und die Frauen perforierten die Köpfe und montierten die Borsten, da sie schneller und genauer mit den Fingern waren. Die Arbeit war schlecht bezahlt und die Frauen verdienten nur etwa ein Drittel des Lohns der Männer. Kinderarbeit unter acht Jahren war per Gesetz verboten, aber dieses Gesetz fand wenig Anwendung.
Herstellung in großem Rahmen
Allgemein gebräuchlich für jedermann wurde die Zahnbürste in Frankreich erst im Laufe des Jahres 1830, in dem sich mit Louis Désiré Davarenne im Kanton Méru im Département l’Oise die Bürstenmanufaktur entwickelte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden große Manufakturen. Man findet die Namen Cossart, Bellanger, Dehamme, Delettre, Masse, gefolgt von Thévenot in Cauvigny. 1839 stellten die Gebrüder Chantepie in St. Sulpice Zahnbürsten mit dem Markennamen „Idéal Hygiénique“ aus Aluminium her. Die sich etablierende Feinbürstenindustrie siedelte im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Dreieck zwischen Beauvais, Méru und Noailles.
1845 gründete Alphonse Dupont eine kleine Kunstdrechslerei in Beauvais. Später schloss er sich mit seinem Freund Dechamps zusammen und baute eine Bürstenfabrik. Der Umsatz ging steil nach oben und erreichte 1874 rund 2 100 000 FF. Die Fabrik bediente sich zweier Dampfmaschinen und 1892 lag die Beschäftigtenzahl bei 2 000. Es gab sieben Montagemaschinen, 84 Kreissägen, 24 Polier- und 66 Lochmaschinen. Die Firma hatte Niederlassungen in London, Brüssel, Kopenhagen, Wien, Mailand, Madrid, Lissabon, Algier, New York und Montreal. Dupont hatte hohe politische Ämter und rief 1848 die Gesellschaft für gegenseitige Unterstützung „St. Hildevert“ ins Leben, die zu Gunsten seiner Arbeiter eine Altersrente aussetzte. Außerdem gab es einen Hilfsfond für Lebensmittel und Medikamente. Die Firma Dupont hatte diverse Markenzeichen, von denen das bekannteste l’Elephant ist.
Der Materialverbrauch einer großen Fabrik war hoch. Es wurden jährlich 250 Tonnen exotische Hölzer, 220 Tonnen einheimische Hölzer, 4 500 Tonnen Knochen und 100 Tonnen Schweine- und Wildschweinborsten für die Herstellung von 6 300 verschiedenen Bürstenmodellen benötigt. Mit der Entwicklung der Eisenbahn konnte der Markt von Paris gut bedient werden und der Rohstoffnachschub war gesichert. Das Gesundheitsbewusstsein wuchs und erfuhr 1848 mit der Gründung des „Comité Consultatif d’Hygiène Publique“ einen beträchtlichen Aufschwung. Zum ersten Mal kümmerte sich der Staat um die Gesundheit seiner Bürger mit der Einrichtung von Beratungszentren. 1892 war das Jahr der Einführung des Diploms für Zahnchirurgen, das dieser Berufsgruppe bestimmte Vorgaben machte. Diese waren dann auch Vorreiter für die Vorsorge.
Das Einsetzen des Maschinenzeitalters Ende des 19. Jahrhunderts brachte den Umschwung. Viele Manufakturen gingen in den Ruin, da sie sich die Umstellung auf teure Maschinen nicht leisten konnten. 1906 brauchte man für die Herstellung einer Bürste noch 20 Minuten, 1956 noch 54 Sekunden und 1996 noch 3 Sekunden.
Damals wurden für die Zahnbürstengriffe Knochen, Perlmutt, Elfenbein, Holz und später Celluloid genommen. Die Borsten waren meistens vom Schwein oder Wildschwein. Heute ist das Material durchweg aus Kunststoff. Auch bei den Borsten hat der Kunststoff die Naturborsten, die hygienisch problematisch waren, abgelöst. Die Fabrikation erfolgt vollautomatisch. Die heutige Zahnbürste ist nicht mehr ein Luxusgegenstand für gehobene Gesellschaftsklassen, sondern ein Wegwerfartikel des täglichen Gebrauchs.
Dr. Klaus SimonMitglied des Arbeitskreises Geschichte der ZahnheilkundeNordendstr. 6480801 München