Ein mutiger Schritt
Schon seit rund 25 Jahren schwebt der politischen Führung in den Niederlanden das Modell einer Bürgerversicherung vor, bei dem die Trennung zwischen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung aufgehoben ist. Zwei Anläufe sind bereits fehlgeschlagen. Nun soll es im dritten Versuch klappen. Die gesetzgeberischen Hürden hat die christdemokratisch-liberale Regierung unter Ministerpräsident Jan Peter Balkenende inzwischen auch genommen. Ab Januar nächsten Jahres kann die Reform für die Krankenversicherung der medizinischen Akutversorgung somit endlich in Kraft treten.
Unberührt von der Modernisierung bleiben zunächst die beiden anderen Säulen des niederländischen Versorgungssystems: die solidarisch finanzierte Pflege- und Langzeitversicherung (AWBZ) sowie der Markt der privaten Zusatzversicherungen.
Versicherungspflicht
Die wesentlichen Elemente der Reform sind eine allgemeine Versicherungspflicht sowie die Änderung der Finanzierungsgrundlage. Das heißt: Durchschnittlich 1 100 Euro jährlich muss jeder Niederländer fortan in seine medizinische Grundversicherung investieren. Um den Wettbewerb anzukurbeln, stellt es die Regierung den Versicherern allerdings frei, die Höhe ihrer Prämien selbst festzulegen. „Im Gegenzug verpflichten wir die Unternehmen, jeden Antragsteller zu versichern, unabhängig von seinem Alter, Geschlecht oder seinem individuellen Krankheitsrisiko“, erklärt Geert Jan Hamilton, Direktor für Gesetzgebung und Rechtsangelegenheiten im niederländischen Gesundheitsministerium.
Die andere Hälfte der Beiträge müssen die Arbeitgeber über die Lohnkosten aufbringen. Der Einkommensanteil beträgt 6,25 Prozent. Kinder sowie finanziell schlechter gestellte Personen erhalten vom Staat einen Zuschuss aus Steuermitteln. Für die Transferzahlungen stellt die Regierung ein Budget in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung, so Hamilton. Schätzungen zufolge werden etwa sechs Millionen Niederländer Ausgleichszahlungen benötigen. Für die bereits existierenden privaten Versicherungen ändert sich im Grunde nichts. Sie müssen sich künftig lediglich dem allgemeinen Wettbewerb sowohl bei den Basis- als auch Wahlleistungen stellen.
Auch bei den zahnärztlichen Behandlungen bleibt alles beim Alten. Niederländer unter 18 Jahren genießen weiterhin vollen Versicherungsschutz bei zahnärztlichen Leistungen. Erwachsene hingegen müssen die Versorgung ihres Gebisses, abgesehen von Routineuntersuchungen, auch unter der Bürgerversicherung entweder aus eigener Tasche bezahlen oder sich hierfür zusätzlich privat versichern. „Die meisten Niederländer haben sich schon in der Vergangenheit für eine private Zusatzversicherung entschieden“, bestätigt Hamilton.
Mehr Eigenverantwortung
Aber nicht nur die Krankenversicherungen sollen künftig mehr Handlungsspielraum haben. Auch den Versicherten will die Regierung mehr Eigenverantwortung und Wahlmöglichkeiten zugestehen. So sollen sie zwischen Kostenerstattung oder Sachleistungsprinzip oder unterschiedlichen Tarifen mit oder ohne Selbstbehalt wählen dürfen. Auch soll es Tarife geben, über die Patienten Zugang lediglich zu einem ausgewählten Kreis von Ärzten erhalten. Versicherte, die innerhalb eines Jahres keine medizinischen Leistungen in Anspruch nehmen, haben zudem Anspruch darauf, dass ihnen ihre Versicherung einen Teil ihrer Prämien erstattet.
Heftige Kritik
Dennoch erntet die Regierung nicht nur Lob für ihre Reform. Vor allem bei der linken Opposition sowie bei zahlreichen Bürgern stößt das Konzept auf heftige Kritik. In Leserbriefen in der niederländischen Tagespresse bezeichnen Patienten das neue System als russisches Roulett, da niemand vorhersehen könne, gegen welche potenziellen Leiden er sich zusätzlich versichern muss. Auch fürchten einige Niederländer, dass die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird.
Hausärzte wiederum monieren, dass sich mit dem Start der Bürgerversicherung auch ihre Vergütung ändern soll. Statt der bisherigen grundsätzlich für jeden eingeschriebenen Patienten von den Kassen ausgezahlten Kopfpauschale in Höhe von 76 Euro im Jahr erhalten Hausärzte demnächst nur noch 48 Euro zuzüglich sieben Euro pro Konsultation. Darüber hinausgehende Vergütungsanteile müssen die Ärzte mit den Krankenversicherern aushandeln.
Umstritten ist das System zudem unter europarechtlichen Gesichtspunkten. Zwar hat die Europäische Kommission grundsätzlich keine Bedenken gegen die Reform. Dennoch ist zweifelhaft, ob die Änderungen im Falle eines Falles vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben werden. Ausländische Krankenversicherungen könnten zum Beispiel argumentieren, dass die niederländischen Vorschriften ihnen den Zugang zum Markt erschweren oder gar unmöglich machen, was sowohl dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs als auch den europäischen Versicherungsrichtlinien widerspräche.
Petra SpielbergRue Colonel Van Gele 98B-1040 Brüssel