Endodontologie in Deutschland - Status quo und Perspektiven
Vom oftmals – insbesondere aufgrund der angeblichen oder erfahrenen Komplikationsträchtigkeit – unbeliebten Anhängsel der Kariologie zu einer selbstständigen Disziplin mit dem Nimbus eines Aufsteigers.
Jedenfalls kann man so unter Anderem die zunehmende Zahl von Fortbildungsbeziehungsweise Weiterbildungsangeboten, nie gekannte Teilnehmerzahlen an endodontischen Symposia/Kongressen, gute Geschäftszahlen von Herstellern und Vertreibern endodontischer Produkte sowie die weiter steigende Anzahl abgerechneter endodontischer Leistungen interpretieren. Ein Strohfeuer oder eine längst überfällige „Wertberichtigung“?
Definitionen
Endodontologie ist die Wissenschaft, die sich mit Gestalt, Funktion, Gesundheit, Verletzungen und Erkrankungen der Pulpa und der periradikulären Strukturen sowie mit der Ätiologie und Diagnose des Zahnschmerzes und dentaler Erkrankungen beschäftigt [Europäische Gesellschaft für Endodontologie (ESE), 2004]. Endodontie wäre dann – in Analogie zum amerikanischen „Endodontics“ – der Sammelbegriff für praktische Ableitungen aus der Endodontologie (siehe Kasten).
Endodontologie und Zahnerhaltung
Traditionell wird die Endodontologie neben Kariologie, Parodontologie und Kinder- und Jugendzahnheilkunde der Fächergruppe Zahnerhaltung zugerechnet. Ihre Eigenständigkeit (und Gleichrangigkeit) wurde und wird in Deutschland, wie zum Beispiel jüngste Diskussionen über die Ausgestaltung der neuen Approbationsordnung für Zahnärzte belegen, teilweise in Frage gestellt. Dies mag zum einen daher rühren, dass der Begriff Endodontie oftmals mit Wurzelkanalbehandlung gleichgesetzt und damit auf eine einzige Therapieform mit der Konsequenz reduziert wird, dass die Endodontie häufig als technikorientierte und -dominierte Disziplin und eben nicht als biologisch-medizinische Fachrichtung mit breit gefächertem Maßnahmenspektrum (siehe Kasten) betrachtet wird.
Im Gegensatz zu anderen Ländern, insbesondere den skandinavischen, welche die Entwicklung der modernen Zahnheilkunde maßgeblich beeinflusst haben, wurde bei uns lange das wissenschaftliche Potenzial der Endodontologie unterschätzt, mit dem Ergebnis, dass viele, darunter auch namhafte Fachvertreter, die Endodontologie eher als Anhängsel der Kariologie denn als eigenständige wissenschaftliche Disziplin sehen.
Forschung
Orientiert man sich beispielsweise an der Zahl deutscher Beiträge für das International Endodontic Journal, der endodontologischen Zeitschrift mit dem mittlerweile höchsten „Impact Factor“, so hat bei uns international kompetitive Forschung in nennenswertem Umfang erst in diesem Jahrtausend eingesetzt. War in den 90er Jahren eine einzige Publikation aus Deutschland pro Jahr in etwa die Regel, so liegt in den vergangenen vier Jahren der Durchschnitt bei 14 [Dummer 2004]. Fasst man die vergangenen sechs Jahre zusammen, so liegt Deutschland in punkto Publikationen im International Endodontic Journal gleichauf mit Italien, Japan und Skandinavien, während Großbritannien, Türkei und USA etwa doppelt so viele Beiträge aufweisen.
Deutsche endodontologische Forschung auf internationalem Niveau lässt sich nur steigern (oder zumindest das aktuelle Niveau kontinuierlich sichern), wenn sich mehr universitäre Einrichtungen als bisher daran beteiligen, vielleicht auch Forschungsverbünde geschlossen werden. Das Forschungspotential der Endodontologie ist vielfältig und interessant: Konventionelle Fragestellungen rund um die Wurzelkanalbehandlung werden mit immer ausgefeilteren Techniken untersucht, endodontologische Problemkreise mit modernen Entwicklungen in Mikrobiologie und Immunologie angegangen. Sinnvolle Beschäftigung mit dentaler Traumatologie muss fächerübergreifend sein, Molekularbiologie und regenerative Medizin haben bereits Eingang in die endodontologische Forschung gefunden.
Weiterhin förderlich könnte die Gründung endodontologischer Sektionen sein (bisher nur in Gießen und Tübingen realisiert) und/oder die Etablierung von Weiterbildungsprogrammen [Löst 1999]. Es ist kein Geheimnis, dass ausländische Institutionen mit einer gewissen Kontinuität in endodontologischer Forschung auch solche sind, denen eine Postgraduiertenausbildung angegliedert ist.
In der Fachöffentlichkeit wahrgenommene Aktivitäten deutscher Hochschulen in endodontologischer Forschung und deren Präsentation auf nationalen und internationalen Kongressen dürfen als ein Garant dafür gesehen werden, dass das aktuell in der Kollegenschaft zunehmende Interesse an Endodontologie nicht erlahmt.
Lehre
Wie und in welchem Umfang Endodontologie an unseren Hochschulen gelehrt werden sollte, wurde erst kürzlich dargelegt [European Society of Endodontology 2001]. Die Umsetzung dieses Lehrkatalogs stößt in praxi vornehmlich auf zwei Limitierungen: Im (noch) fünfsemestrigen klinischen Studium konkurriert die Endodontologie mit den anderen zahnmedizinischen und medizinischen Fächern um Zeitkontingente. Auch kann nicht jede Ausbildungsstätte ausreichend erfahrenes Lehrpersonal aufbieten. Die Einbindung weiter qualifizierter Praktiker in die Lehre sowie der Aufbau eines Netzes postgradualer, möglichst ESE-zertifizierter Programme könnten die klinische Lehrsituation verbessern.
Patientenversorgung
Was die Wurzelkanalbehandlung anbetrifft, so geht man bei „vitalen“ Fällen von einer Erfolgsquote von über 90 Prozent, bei Zähnen mit apikaler Parodontitis von zirka 80 Prozent aus [Friedman 2002]. Die in praxi erzielten Ergebnisse divergieren davon jedoch erheblich [Weiger et al. 1997].
Die Qualität endodontischer Behandlungen zu steigern hieße,
• die Ausbildung so weit wie möglich den ESE-Anforderungen (siehe oben) annähern,
• die strukturierte und zertifizierte Fortbildung fördern und
• eine Spezialisierung im Sinne einer Weiterbildung etablieren.
Letztere muss vom Anforderungsprofil mit Spezialisierungen in anderen (zahn-) medizinischen Bereichen vergleichbar und sollte (zumindest europaweit) standardisiert sein.
Wirtschaftliche Überlegungen
In endodontische Expertise zu investieren erscheint auch wirtschaftlich sinnvoll. Weit mehr als zehn Millionen Wurzelkanalaufbereitungen, um nur eine endodontische Abrechnungsposition herauszustellen, werden pro Jahr in der Bundesrepublik Deutschland mit Primär- und Ersatzkassen abgerechnet [Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung 2004]. Eigenen, auf Hochrechnung von Weiger et al. 1997 basierenden Schätzungen zu Folge, liegt der aktuelle endodontische Behandlungsbedarf um Faktor zehn höher, wobei die Zähne unberücksichtigt bleiben, die extrahiert werden, aber grundsätzlich über endodontische Behandlungsmaßnahmen zu erhalten wären [Löst 2004].
Schlussbemerkung
Der geschätzte Bedarf an Wurzelkanalbehandlungen einerseits und maschinell einsetzbare NiTi-Instrumente andererseits, welche die Wurzelkanalaufbereitung erleichtern und einem ehemals „mühseligen Handwerk“ den Anstrich von Leichtigkeit und Eleganz geben, dürften das Interesse an Endodontie weiter steigen lassen. Zusätzlich eingesetzte Vergrößerungshilfen, miniaturisiertes Instrumentarium und verbesserte Materialien können zur Ergebnisoptimierung beitragen und vermitteln den Eindruck hoher Professionalität. So kann man die aktuelle endodontologische Aufbruchstimmung als eine (Wieder-)Besinnung auf ein zahnmedizinisches Kernfach unter günstigeren Bedingungen interpretieren. Aber flächendeckende, bessere Behandlungsergebnisse lassen sich mit diesen Errungenschaften neuerer Zeit nur in Kombination mit richtlinienkonformen Vorgehensweisen [ESE 2004], ausreichender Diagnostik und Dokumentation sowie mit einer möglichst evidenzbasierten Entscheidungsfindung im individuellen Fall erzielen.
In den nachfolgenden zwei Falldarstellungen werden zahlreiche der oben erwähnten Aspekte angesprochen.
Verantwortlich für dieInteraktive Fortbildung:
Prof. Dr. Elmar HellwigProf. Dr. Detlef HeidemannSusanne Priehn-Küpper
Prof. Dr. Claus LöstPoliklinik für Zahnerhaltungam Zentrum für Zahn-, Mund- undKieferheilkunde des UniversitätsklinikumsTübingenOsianderstr. 2-872076 Tübingen