Psychosomatik in der Zahnheilkunde jetzt wieder mit Professur

Der Blick über den Tellerrand

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Dreizehn lange Jahre war er unbesetzt, der Lehrstuhl für Psychosomatik in der Zahnheilkunde an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Jetzt ist die bundesweit einzige Professur für dieses Fach wieder vergeben. Der Neue: Prof. Dr. Stephan Doering. Zusammen mit seiner Kollegin PD Dr. Anne Wolowski leitet der Humanmediziner außerdem die zahnärztliche Ambulanz für Psychosomatik. Für die Zukunft haben die beiden vor allem ein Ziel: die noch stärkere Verankerung ihres Spezialgebiets in der Zahnmedizin.

Körper und Seele sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist die Grundthese der Psychosomatik. Für die medizinische Diagnostik und Behandlung bedeutet das, beide Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen. Aus ihrer langjährigen Erfahrung an der Münsteraner Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik weiß Anne Wolowski: „Jede Krankheit hat eine psychische Komponente.“ So rufen starke Gefühle wie Angst physische Reaktionen wie Zittern, Herzklopfen und kalten Schweiß hervor. Umgekehrt können sich körperliche Erkrankungen auf die seelische Gesundheit auswirken. Alle Faktoren sauber voneinander zu trennen, ist eine echte Herausforderung für Mediziner. Gefordert ist dabei vor allen Dingen, so die Prothetikerin, „über den eigenen fachlichen Tellerrand hinauszuschauen.“

Ein großer Irrtum

„Viele Menschen sind der Meinung: Psychosomatik schön und gut – aber doch nicht beim Zahnarzt! Das ist ein großer Irrtum“, heißt es in einer Broschüre der Münsteraner Ambulanz. Begründung: Der Zahnapparat ist ein hoch sensibler Bereich. Leidet ein Mensch unter Stress oder anderen seelischen Problemen, kann die daraus resultierende körperliche Belastung unter anderem zu Bruxismus führen. Weitere typische Krankheitsbilder sind Prothesenunverträglichkeit oder Schmerzen im Gesichts-, Mund- und Kiefergelenksbereich. Allgemein gilt: Sind keine organischen Ursachen zu finden, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein psychosomatisches Problem. Für diese Patienten sind Wolowski und Doering da. Ergänzt wird das Team durch eine Psychologin und eine Physiotherapeutin. Die unterschiedlichen fachlichen Qualifikationen der Mitarbeiter verankern die Zahnmedizin fest in einem interdisziplinären Gefüge. Wolowski freut sich über die personelle Aufstockung der Abteilung: „Früher habe ich diesen Bereich alleine betreut. Meistens konnte ich nur die Diagnose stellen und musste dann an die entsprechenden Spezialisten überweisen. Heute sitzen wir alle unter einem Dach und machen vieles selbst.“ Auch Doering ist mit der Organisation zufrieden: „Die Zusammenarbeit ist sehr unkompliziert. Die Wege sind kurz, so dass wir uns jederzeit über Fälle austauschen können.“

Zerknirscht und ängstlich

Gesprächsstoff gibt es reichlich, denn der Fachbereich betreut verschiedene Projekte und hat einige mehr in Planung. Zum Behandlungsspektrum gehört zum Beispiel das Biofeedbackverfahren zur Therapie von Bruxismus. Dabei wird über Elektroden auf der Wange die Anspannung des Kaumuskels gemessen. Die Daten werden auf einem Bildschirm visualsiert. Patienten können so den jeweiligen Druck genau verfolgen und lernen, den Muskel durch gezielte Übungen zu entspannen. „Die Reaktionen auf das Biofeedback sind gut“, berichtet Doering, „es melden sich immer mehr Interessenten.“

Die Kapazitäten, allen Patienten diesen Service anzubieten, hat die Ambulanz jedoch nicht. Deshalb ist es nach Ansicht des Mediziners wichtig, dass Zahnärzte den Bedarf regional auffangen. Das setze eine Kompetenzerweiterung der Kollegen voraus.

Das „Netzwerk Zahnarztangst“ ist ein weiteres Zukunftsprojekt. Der Hintergrund: In Deutschland haben etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung so große Panik vor einem Zahnarztbesuch, dass sie sich erst gar nicht in die Praxis trauen. An Prophylaxe ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Das habe auf Dauer enorme gesundheitsökonomische Folgen, warnt Doering und erläutert, wie das Problem angegangen werden kann: „Angstpatienten hilft man durch Desensibilisierung. Dazu gehört zum Beispiel, sie in die Praxis zu begleiten oder ihnen die gefürchteten Instrumente in die Hand zu geben.“ Am besten koordinieren lässt sich die Behandlung seiner Meinung nach, wenn ein Psychotherapeut und ein Zahnarzt eine dauerhafte Zusammenarbeit eingehen – also auf lokaler Ebene ein kleines Netzwerk bilden.

Exoten – im positiven Sinn

Schon während ihres Studiums in den achtziger Jahren hat sich Anne Wolowski mit psychosomatischer Medizin befasst. Das Ansehen der Disziplin habe sich über die Jahre verändert, sagt sie: „Früher wurde man von den Kollegen doch eher als Exot betrachtet. Trotzdem war die fachliche Anerkennung schon damals groß.“ Bei den Patienten stoße man öfter auf Unverständnis. Die Informationslage habe sich aber mittlerweile durch das Medieninteresse an psychologischen Themen verbessert. Viele Vorbehalte konnten abgebaut werden. Oft sei die Behandlung aber immer noch schwierig. Etwa wenn Patienten nicht akzeptieren wollten, dass ihre Krankheit keine somatische, sondern eine psychische Ursache hat, erzählen Doering und Wolowski. Dieser Konflikt mache eine Qualifikation für den Zahnarzt besonders wichtig: die richtige Kommunikation mit den Betroffenen.

Der Draht zum Patienten

Als ehemaliger leitender Oberarzt der Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Innsbruck weiß Doering, dass das persönliche Gespräch mit kranken Menschen der Schlüssel zu einer erfolgreichen Behandlung ist. Das beste Vorgehen: „Man sollte sein Gegenüber zunächst einmal erzählen lassen. Dann erfährt man sehr schnell sehr viel über mögliche Hintergründe der Krankheit.“

Die richtige Taktik dafür will gelernt sein. Deshalb muss, findet der Mediziner, die Kommunikation mit den Patienten – speziell solchen, die psychische Probleme haben – in der zahnärztlichen Ausbildung intensiver trainiert werden. Die ersten Schritte in diese Richtung sind bereits getan. Im Entwurf zur neuen Approbationsordnung ist für Studierende in der Vorklinik ein Praktikum sowie eine Vorlesung in medizinischer Psychologie und Soziologie Pflicht. Darin sind die Grundlagen der richtigen Gesprächsführung enthalten. „Ich finde es sehr gut, dass diese Punkte umgesetzt werden konnten“, sagt Doering. Wünschenswert wäre aber eine noch umfassendere Auseinandersetzung mit den typischen Krankheitsbildern. „Ich sehe, wie sehr die Kollegen das brauchen und wollen. Deshalb sollten sie es auch bekommen.“

Wege der Fortbildung

Einen guten Einstieg in das Fachgebiet bietet das Curriculum „Psychosomatische Grundkompetenz“ der Akademie Praxis und Wissenschaft (APW). Die Fortbildungsorganisation der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde bietet ein etwa 50-stündiges Seminar an, das Zahnärzten psychosomatische Grundkenntnisse vermittelt. Doch die Nachfrage ist groß. Allen, die keinen freien Platz mehr ergattern können, raten die beiden Experten, auf andere Weise an Praxiserfahrung zu kommen. Etwa im fachlichen Austausch mit Kollegen in Qualitätszirkeln oder Balint- Gruppen. Empfehlenswert seien zudem interdisziplinäre Schmerzkonferenzen. Dort kämen neben Fachleuten auch regelmäßig Betroffene zu Wort. Eine gute Gelegenheit also, Krankheiten aus einer anderen, der Patientenperspektive zu betrachten. Fazit: Um das Zusammenspiel von Körper und Seele besser zu verstehen, kann man viele Wege gehen. Letztendlich ist aber vor allem eins wichtig – der Wille zum Blick über den Tellerrand.

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