Genetische Aberrationen im Vorfeld bedenken
Es ist bereits heute möglich, einen großen Teil der etwa 5 000 beschriebenen Erkrankungen mit genetischer Komponente anhand von prädiktiver DNA-Diagnostik zu untersuchen. Für elf Aberrationen stehen seit diesem Sommer genormte Testkits zur Verfügung. Die Kenntnis der veränderten Erbanlagen hat Konsequenzen für die Versorgung des betroffenen Neugeborenen oder Kleinkindes. An der Verfügbarkeit solcher Präventionsstrategien entscheidet sich der Sinn einer genetischen Analyse. Das heißt in der Regel, dass für die betroffenen Kinder wirksame Vorsorge- oder Therapiestrategien zur Verfügung stehen müssen, durch welche die drohenden gesundheitlichen Konsequenzen vermieden oder vermindert werden können.
Nicht alle technisch möglichen Untersuchungen machen Sinn. „Je eindeutiger durch die Diagnose eine spätere Erkrankung vermieden werden kann oder je relevanter ein möglichst frühzeitiger Therapiebeginn für den Behandlungserfolg ist, desto wertvoller ist die DNA-Diagnostik“, sagte Prof. Theodor Dingermann, Frankfurt, als Biotechnologiebeauftragter des Landes Hessen bei der Einführungspressekonferenz von „humatrix DNA-Diagnostik Baby“.
Verankert in der Praxis des Frauenarztes
Das postnatale Diagnostikpaket wurde speziell für die Frauenarztpraxis entwickelt. Das Screening der Neugeborenen und die erforderlichen Schritte zur Prävention der diagnostizierten Erkrankungsrisiken soll möglichst einfach und unkompliziert sein. Das Paket ermöglicht dem Arzt die Einhaltung der strengen Datenschutzbestimmungen, gibt ihm Hilfen für die eingehende Beratung der (werdenden) Mutter und der Angehörigen und wird nur in einer engen medizinischen Kooperation mit dem Arzt, der die Beratung im Vorfeld und im Nachgang der Analyse durchführt, angeboten.
Die moderne, qualitätsgesicherte DNA-Diagnostik von Neugeborenen stellt eine innovative Untersuchungsmethode dar, urteilte der Allgemeinarzt Dr. Gerd W. Zimmermann, Hofheim/Taunus. Neue medizinische Leistungen dieser Art stehen in der Regel nur als individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) zur Verfügung, für die privat gezahlt werden muss. Gesetzliche Kassen zahlen für solche Leistungen bislang nur bei gegebenem Verdacht, der bei Neugeborenen kaum begründet werden kann. Privatkassen zahlen meist die ärztliche Leistung, nicht aber die Laborkosten. Wie Dr. Zimmermann ausführte, sollte man werdenden Eltern, die jede vermeidbare Gefährdung ihrer Kinder ausschließen wollen, die neuen Gen-Analysen nicht vorenthalten, sondern in der allgemeinen Beratung während der Schwangerschaft mit anbieten.
Dreistufiger Test
In enger Abstimmung mit Kinderärzten und Präventivmedizinern hat der Hersteller die elf angebotenen Analysen in drei Paketen nach einem Stufenschema zusammengefasst. Das Basispaket forscht nach genetischen Veränderungen, die bereits sehr früh eine Intervention erfordern und von ihrer Häufigkeit her für eine solche erstrangige Analyse in Frage kommen. Es handelt sich hierbei um DNA-Tests auf Laktose-Intoleranz, Multi-Drug-Resistenz, Gefahr einer Medikamenten-induzierten Taubheit, Gluten- Intoleranz und Alpha-1-Antitrypsin (AAT-)-Mangel. Das Aufbaupaket erfasst Kinder, die unter einer besonderen Gefahr leiden, eine Osteoporose, Hämochromatose oder eine Parodontitis zu entwickeln. In einem dritten Schritt können noch folgende Einzelanalysen veranlasst werden: Mittelketten-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD-)-Defizienz, erhöhte Prävalenz einer Mukoviszidose oder Adipositas
Am Beispiel der Medikamenten-induzierten Taubheit lässt sich das Prinzip verdeutlichen: Irreversible Schädigungen des Innenohrs können durch Aminoglykosid-Antibiotika hervorgerufen werden. Besonders gefährdet sind Neugeborene, die eine Variante der mitochondrialen DNA (A1555GPolymorphismus) tragen. Zu den für diese Kinder gefährlichen Antibiotika gehören Streptomycin, Neomycin und Gentamycin. Diese Antibiotika sind aber bei Mittelohrentzündungen hoch wirksam. Sie werden auch gerne verordnet, weil sie inzwischen patentfrei und daher preisgünstig sind. Ihre Tücke liegt darin, dass sie schon bei der ersten Anwendung bei den disponiblen Kindern zur bleibenden Ertaubung führen können. Sucht man erst nach Eintreten dieser Nebenwirkung nach der Ursache und findet so die genannte genetische Aberration, ist es in den meisten Fällen zu spät, um dem Kind wieder zu einem ausreichenden Gehörsinn zu verhelfen. Dr. Roland Zeh, HNO-Arzt und Reha-Spezialist aus Bad Berleburg, forderte – auch als Betroffener einer Medikamenten-induzierten Taubheit –, dass Träger der Genvariante so früh wie möglich identifiziert werden sollten, da oft bereits im Neugeborenenalter Aminoglykoside eingesetzt werden.
Ethische Dimension
Entscheidend für die Sinnhaftigkeit einer DNA-diagnostischen Untersuchung ist also, ob sich hierdurch die Lebensqualität der Testperson steigern lässt. Dies sei in der Regel nur dann der Fall, so Dr. Anna Carina Eichhorn von der Herstellerfirma in Frankfurt/M., wenn für das diagnostizierte Risiko auch eine wirksame Vorsorge- oder Therapiemöglichkeit bekannt und verfügbar ist: „An diesem Punkt wird die prädiktive DNA-Diagnostik zur DNA-basierten Präventionsdiagnostik, denn sie verknüpft die Vorhersage von individuellen Gesundheitsrisiken mit Handlungsempfehlungen, wie entsprechende Beeinträchtigungen vermieden werden können.“
Diese Sinnkomponente ist jedoch nur einer der Bausteine, die aus ethischer Sicht bei solchen Test-Angeboten zu berücksichtigen sind. Rein rechtlich gesehen verfügt jeder Mensch über eine unantastbare informationelle Selbstbestimmung und die Möglichkeit, verfügbare genetische Informationen nicht wissen zu wollen (Recht auf Nichtwissen). Für einen Neugeborenen üben die Eltern dessen Rechte aus, sollten also sehr genau hinsehen, wie sich Nutzen und Risiken verteilen – etwa durch die Gefahr einer Stigmatisierung, durch berufliche und versicherungstechnische Nachteile, falls sonst unbekannt bleibende Risiken offen liegen.
An diesem Punkt sei ein Kommentar des Autors erlaubt: Das Zögern der gesetzlichen Kassen bei neuen präventivmedizinischen Angeboten bietet über das Auseinanderdriften der Versorgung durch die GKV beziehungsweise die Privatkassen hinaus noch ein weiteres Risiko, das diskutiert werden sollte. Ein Arzt, der einer ebenso zahlungskräftigen wie besorgten Mutter derartige Gen-Tests für ihr Neugeborenes anbieten kann, könnte aus kommerziellen Gründen geneigt sein, nicht so gründlich wie nötig abzusichern, dass die Eltern mit den Testergebnissen auch zum Wohle ihres Kindes umzugehen vermögen. Im Falle positiver Tests sollte der Arzt für sein Beratungsgespräch auf jeden Fall ein Maßnahmenpaket vorbereiten, das auch die psychologische und rechtliche Seite der Situation mit einschließt. Besser schiene es, wenn die Tests von der GKV angeboten würden. Dann ließen sich die Kriterien für Ärzte, durch welche die Beratung als Kassenleistung möglich ist, in aller Strenge durchsetzen.
Weitere Infos:keil@urban-vogel.de.
Till Uwe Keil