Betelgenuss in Vietnam

Kauen gegen den Hunger – ein Statusbericht

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Heftarchiv Zahnmedizin
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Wer schon mal eine Reise durch Asien gemacht hat, kennt den Anblick: Einheimische lächeln den Besucher fröhlich an und zeigen dabei meist für westliche Verhältnisse ziemlich desolate Zähne, die dunkelrot-schwarz verfärbt sind, ebenso farblich veränderte Zunge, Mundschleimhaut und Lippen. Die Tätowierung reicht sogar meist bis über den Lippenrand hinaus. Der Kiefer macht kleine Kaubewegungen, die Körper dieser Menschen sind äußerst hager. Denn sie kauen pflanzliche Produkte, vermischt mit Kalk. Die Interaktion der Bestandteile wirkt wie Nikotin und gegen den großen Hunger. zm

Betel wird seit mindestens 2000 Jahren in Süd- und Südostasien sowie im südlichen Pazifik gekaut. Nach Nikotin, Alkohol und Kaffee ist Betel die vierthäufigste psychostimulierende Substanz mit Potenzial zur Suchtbildung [Gupta und Warnakulasuriya, 2002]. Epidemiologische Daten, die auf Schätzungen beruhen, gehen davon aus, dass etwa 600 Millionen Menschen weltweit als Betelkauer gelten; dies entspricht etwa zehn bis 20 Prozent der Weltbevölkerung [Reichart und Philipsen, 2005]. Im Gegensatz zu anderen suchtbildenden Substanzen sind für das Kauen von Betel mehrere natürliche Bestandteile notwendig, um die psychostimulierenden Effekte zu erzielen. So besteht Betel aus der Frucht oder Nuss der Betelpalme (Areca catechu L.), dem Blatt des Betelpfeffers (Piper betle L.) und gelöschtem Kalk (Kalziumhydroxid). Diese drei Hauptbestandteile wirken zusammen und initiieren den Umwandlungsprozess des in der Betelnuss enthaltenen Alkaloids Arecolin in nikotinähnlich wirkende Nachfolgesubstanzen [Boucher and Mannan, 2002]. Durch Hydrolyse, bedingt durch den Kalk, entsteht aus Arecolin Arecaidin, welches in Kombination mit dem Betelblatt eine leichte euphorisierende Wirkung hat [Norton, 1998]. Es stellen sich cholinerge Effekte ein; am auffälligsten ist die exzessive Speichelbildung, wobei der durch Betelgenuss rot gefärbte Speichel zu häufigem Ausspucken führt.

Die Zusammensetzung des Betelbissens (in Indien als Pan bezeichnet) kann neben den Hauptbestandteilen eine Vielzahl von anderen Substanzen, vor allem Tabak, Catechu (ein Extrakt des Baumes Acacia catechu) sowie Gewürze beinhalten. Die Variabilität der Bestandteile im geografischen Raum des Betelkauens ist beträchtlich. So konnten kürzlich in China Untersuchungen [Zhang und Reichart, im Druck] zeigen, dass zum Beispiel in der Provinz Hunan nicht die Nuss selbst, sondern hauptsächlich deren Schale gekaut wird.

Prävalenz des Betelkauens

Die Prävalenz des Betelkauens ist in verschiedenen Ländern der Region äußerst unterschiedlich. Sie liegt zwischen einem und 54 Prozent [Gupta und Warnkulasuriya, 2002]. Während die Prävalenz des Betelkauens in Ländern wie Indien, Sri Lanka, Burma [Reichart und Way, 2006] oder Taiwan hoch ist und zum Teil sogar in den letzten zehn Jahren zugenommen hat (Taiwan), ist das Kauen von Betel in Ländern wie Thailand, Kambodscha oder Malaysia in den letzten 50 Jahren ständig zurückgegangen [Reichart und Philipsen, 2005; Reichart et al., 1987; Reichart et al., 1997; Reichart et al., 1999]. Verbunden damit war auch eine abnehmende Prävalenz des Mundhöhlenkarzinoms [Reichart et al., 2003]

Neben den medizinischen Aspekten hat Betel auch vom anthropologischen Standpunkt eine große Bedeutung, vor allem im sozio-kulturellen Bereich [Strickland, 2002]. Betel wurde früher bei jeder Begrüßung gereicht. Betelnüsse werden auch heute noch zu bestimmten Anlässen wie Geburt, Tod, Hochzeit oder zu religiösen Feierlichkeiten geopfert. So gehört auch das Betelbesteck aus Gold oder Silber immer noch zu den Regalien der Königshöfe Südostasiens [Reichart und Philipsen, 2005].

Von besonderer Bedeutung ist das Betelkauen für die Mundgesundheit [Trivedy et al., 2002]. Tabelle 1 zeigt die mit Betel in Verbindung gebrachten oralen Manifestationen.

Attrition und Schwarzfärbung sind bei Langzeitbetelkauern häufig zu beobachtende Nebenwirkungen an der Hartsubstanz der Zähne. Bei Schwarzfärbung lagern sich im Laufe der Zeit Polyphenole an Zahnoberflächen ab. Die initiale Rotfärbung wandelt sich im Laufe der Zeit zu einer Braun- und dann Schwarzfärbung [Reichart et al., 1985]. Während einige Publikationen eine protektive Wirkung des Betelkauens auf die Karieshäufigkeit postulierten [Möller und Pindborg, 1977], konnten andere keinen Unterschied zwischen Kauern und Nichtkauern ermitteln [Reichart und Gehring, 1984; Reichart et al., 1985].

Die Auswirkungen auf das Parodont im Sinne von Attachment-Verlust und vermehrter Zahnsteinbildung wurden beschrieben [Trivedy et al., 2002]. Aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren sind allerdings die Nebenwirkungen des Betelkauens auf das Parodontium bis heute unklar. Lichenoide Reaktionen der Mundschleimhaut wurden nur selten beschrieben. Die Betelkauer-Mukosa (Abbildung 1) ist gekennzeichnet durch eine raue Oberfläche der Schleimhaut sowie rotbraune Verfärbungen [Reichart und Philipsen, 1998; Reichart et al., 1996]. Potenziell maligne Veränderungen der Mundschleimhaut im Sinne der oralen Leukoplakie und Erythroplakie sind in einer Vielzahl von Untersuchungen beschrieben worden [IARC, 2004]. Die orale submuköse Fibrose ist eine Erkrankung ähnlich der Sklerodermie, die zu Fibrosierung der auskleidenden Mundschleimhaut führt. Mundöffnung und Zungenbewegung sind zum Teil extrem eingeschränkt [Johnson et al., 1997]. Am bedeutendsten ist die Assoziation des Betelkauens mit dem Mundhöhlenkarzinom wie dem Plattenepithelkarzinom als auch dem verrukösen Karzinom (Abbildung 2) [Trivedy et al., 2002; IARC, 2004].

In der 2004 von der International Agency for Research on Cancer [IARC, 2004], Lyon, Frankreich, veröffentlichten Monografie, Band 85, wird ausführlich über die karzinogene Wirkung der Bestandteile des Betel berichtet. Während man bisher davon ausging, dass Betel ohne Tabak keine Rolle bei der Entstehung von Mundhöhlenkarzinomen spiele, konnte anhand verschiedener kontrollierter Studien aus Indien, Pakistan und Taiwan eindeutig nachgewiesen werden, dass Betel (Areca) auch ohne Tabak Mundhöhlenkarzinome bewirkt. Diese sind durch Areca-assoziierte Nitrosamine (Karzinogene) bedingt.

Betel in Vietnam

Aufgrund der äußerst schlechten Datenlage hinsichtlich der Prävalenz des Betelkauens in Vietnam und der damit assoziierten Prävalenz des Mundhöhlenkarzinoms konnte die Monografie, Band 85, der International Agency for Research on Cancer [IARC, 2004] keine Aussage zu der Situation in diesem Land machen. Englischsprachige Publikationen zum Thema waren bisher nicht verfügbar; lediglich einige Abstracts in vietnamesischer Sprache mit englischen Zusammenfassungen konnten ermittelt werden. Aufgrund dieser Situation planten die beiden Autoren dieses Beitrages eine Reise in den südlichen Teil Vietnams, um:

1.aufgrund von Felduntersuchungen Hinweise über die Häufigkeit des Betelkauens zu bekommen.2.im Rahmen eines Symposiums an der Faculty of Odonto-Stomatology, Ho Chi Min City, eine Statuserhebung vorzunehmen.

Vorgehen der Erhebung

Basierend auf den Vorarbeiten des Co-Autors [Nguyen, 2006], die sich mit dem Status des Betelkauens aus anthropologischer Sicht beschäftigten, waren Besuche von Märkten in Ho Chi Min City und Umgebung sowie im südlichen Mekongdelta (My Tho, Can Tho) und in der küstennahen Pan Thiet Provinz geplant. Von besonderem Interesse waren auch Besuche in „Betelgärten“ in der Peripherie von Ho Chi Min City, im Stadtteil Hoc Mon. In kleinen Gärten wurden hier Betelpfeffer-Pflanzen gezogen, um täglich frische Betelblätter für die Märkte der Stadt im Angebot zu haben (Abbildung 3). An hohen Stellagen, sonnengeschützt, wachsen diese Kletterpflanzen und entwickeln Betelblätter in der Größe von acht bis zehn Zentimetern, so wie sie von den Kauern gewünscht werden. Rund um diese Gärten fanden sich die Arecapalmen (Areca catechu L.), die die frischen Betelnüsse liefern.

Die Begehungen mehrerer Märke in Ho Chi Min City sowie in den genannten Provinzen ergaben ein relativ einheitliches Bild dahingehend, dass nur noch wenige – oft nur zwei oder drei – Betelverkaufsstände gefunden werden konnten. In den Städten My Tho und Can Tho fanden sich in Marktnähe nur wenige ältere Straßenhändlerinnen, die Betel feilboten (Abbildung 4). Interviews mit Kundinnen (es konnte bei allen Interviewten nur ein Mann als Betelkauer registriert werden) zeigten, dass dieses vorwiegend ältere Frauen zwischen 60 und 80 Jahren waren. Diese zeigten die typische Schwarzfärbung der Zähne (Abbildung 5). Die individuellen Betelbestecke, bestehend aus Dosen, Schalen und Kalkbehältern, waren meist sehr einfach und enthielten frische Betelblätter, Betelnüsse sowie meist rot gefärbten Kalk (Abbildung 6). Von besonderem Interesse war die Angewohnheit, nach Betelgenuss die Zähne mit Tabak zu „putzen“ (Abbildung 8), wobei einige Frauen anschließend den Tabak für längere Zeit zwischen den Lippen hielten (Abbildung 7).

Das Symposium ergab einige Informationen zum Thema, die hier zusammenfassend dargestellt werden sollen (die angeführten Daten wurden aus während des Symposiums verteilten Handouts entnommen).

Ergebnisse

Untersuchungen zur Prävalenz des Betelkauens in Südvietnam ergaben, dass Betelkauen nur noch von Frauen über 40 ausgeübt wird und im Abnehmen begriffen ist. In der Stadt Ho Chi Min konnte eine Prävalenz von 6,7 Prozent der weiblichen Bevölkerung ermittelt werden. 50 Prozent dieser Frauen kauen auch Tabak (Dres. Nguyen Thi Hong, Huynh Anh Lan, Vo Thi Do).

Im Rahmen einer PhD Dissertation untersuchte Ngo Dong Khanh (1998) 9 000 Individuen zur Frage der Prävalenz von Mundschleimhauterkrankungen. Die Prävalenz der Leukoplakie betrug 3,8 Prozent, der oralen submukösen Fibrose 0,15 Prozent, der Erythroplakie 0,02 Prozent und des Mundhöhlenkarzinoms 0,06 Prozent. Das Mundhöhlenkarzinom in Südvietnam ist das siebthäufigste Karzinom aller Karzinome des Körpers. Die Geschlechtsverteilung hat sich von 1993 von 1:1,53 (Mann:Frau) geändert in 1,3:1 im Jahre 2001. Als Ursache dafür wird angesehen, dass das Betelkauen in den letzten zehn Jahren deutlich nachgelassen hat und nur noch von alten Frauen durchgeführt wird. Untersuchungen zur Lokalisation des Mundhöhlenkarzinoms zeigten, dass diese geschlechtsspezifisch und abhängig von Risikofaktoren ist. Bei Männern finden sich Karzinome am häufigsten an der Zunge (43,9 Prozent), dem Mundboden (16,6 Prozent) und dem Gaumen (15,3 Prozent). Frauen entwickeln vorwiegend Karzinome der Wangenschleimhaut (27,9 Prozent), der Zunge (23,1 Prozent) und der Lippen (22,4 Prozent).

Die Risikofaktoren sind ebenfalls geschlechtsspezifisch. 66,4 Prozent der Männer rauchen und 54,1 Prozent trinken Alkohol. Dagegen sind 71,5 Prozent der betroffenen Frauen Betelkauer. Von 1 084 Fällen von Mundhöhlenkarzinomen waren 95 Prozent Plattenepithelkarzinome und 3,5 Prozent verruköse Karzinome. 85,2 Prozent der beobachteten Mundhöhlenkarzinome waren über zwei Zentimeter groß; 47,7 Prozent hatten bereits klinisch nachweisbare Lymphknotenmetastasen. 67,7 Prozent aller Patienten mit Mundhöhlenkarzinomen kommen im Zustand der Spätstadien (III, IV) (Dr. Huyn Anh Lan).

Diskussion

Die vorläufigen Ergebnisse der Evaluation des Betelkauens in Vietnam zeigen, dass, wie in anderen Ländern Südostasiens (Thailand, Kambodscha, Malaysia und Singapur), das Betelkauen an Bedeutung verliert. In der gesamten Region bleibt Betel allerdings als Gabe im sozio-kulturellen Bereich erhalten. So ist es weiterhin üblich, dem Ehepaar in Vietnam zu Hochzeiten ein großes Bündel mit Betelnüssen zu übergeben. Andererseits ist festzustellen, dass der Betelbrauch durch Migrationsbewegungen inzwischen auch nach Australien, Neuseeland, in die Vereinigten Staaten und Europa gelangt ist [Warnakulasuriya, 2002]. So konnte kürzlich erstmalig eine indische Patientin mit submuköser Fibrose an der Charité Berlin diagnostiziert werden [Reichart und Philipsen, 2005]. Areca-haltige Fertigprodukte, wie sie vor allem in Indien als Pan Masala, Pan Parag und Guthka produziert werden, sind heute in vielen Ländern der Welt in speziellen Geschäften mit Asienprodukten erhältlich.

Prof. Dr. Peter A. ReichartCC3 Centrum für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie,Charité, Campus Virchow Klinikum,Abteilung für Oralchirurgie und zahnärztliche Röntgenologie,Augustenburger Platz 1, 13353 Berlinpeter-a.reichart@charite.de

Prof. Dr. Xuan Hien NguyenBouwlustlaan 182544 JT S GravenhageNiederlande

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Hartgewebseffekte

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• Attrition

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• Arecafärbung (Schwarzfärbung der Zähne)

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• Karies

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• Pathologien des Kiefergelenks

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Weichgewebseffekte

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• Parodontalerkrankungen

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• Lichenoide Reaktionen

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• Betelkauermukosa

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• Orale Leukoplakie

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• Submuköse Fibrose

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• Mundhöhlenkarzinom

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