Männermedizin

Depression macht oft aggressiv

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Heftarchiv Medizin
Neueste Erkenntnisse decken auf, was dahinter steckt, wenn Männer plötzlich grundlos wütend werden. Die Studie zeigt auf, dass sie in psychiatrische Behandlung müssen. Das sollte auch ein Zahnarzt wissen, wenn er einen solchen Patienten auf dem Behandlungsstuhl hat.

Der Stau steht still, es geht nicht weiter, die meisten fluchen in ihrem Auto leise vor sich hin. Doch einem platzt plötzlich der Kragen: Er hupt wie von Sinnen, schreit mit hochrotem Kopf und mit vor Wut entstellten Gesichtszügen wüst herum. „Wohl verrückt geworden“, denken die anderen und tippen sich an die Stirn. Nicht verrückt, aber vielleicht seelisch krank, könnte die Diagnose eines Psychiaters lauten: Der sinnlose Wutausbruch könnte typischer Ausdruck einer Depression sein! Das seelische Leiden kann sich nämlich nach neueren Erkenntnissen bei Männern auch mit Ärgerattacken und Wutausbrüchen äußern.

17 Prozent sind erkrankt

Nach aktuellen Schätzungen leiden bis zu 17 Prozent der erwachsenen Bevölkerung an depressiven Störungen, deren Anlass sich niemand richtig erklären kann. Frauen galten bisher als etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Das ist möglicherweise ein Trugschluss: Es deutet viel darauf hin, dass Depressionen bei Männern lediglich seltener erkannt werden. Privat-Dozentin Dr. Anne Maria Möller- Leimkühler von der Psychiatrischen Klinik der LMU München stellt dazu fest: „Da Männer aufgrund maskuliner Rollenklischees dazu neigen, als weiblich geltende depressive Symptome zu dissimulieren (= zu verbergen) beziehungsweise anhand rollenkonformer Stressverarbeitungsstrategien abzuwehren, ist das Risiko groß, dass Depressionen bei Männern nicht rechtzeitig erkannt werden“.

Die möglichen Gründe

Die meisten Männer scheuen den Gang zum Arzt, und selbst, wenn sie seine Hilfe in Anspruch nehmen, reden sie fast nie über psychische Probleme. Priv.-Doz. Dr. Möller- Leimkühler: „Stattdessen wird über körperliche Beschwerden geklagt. Vor dem Hintergrund traditioneller Normen ist ein solches Vermeidungsverhalten nicht verwunderlich, da es gilt, die (bedrohte) männliche Identität aufrechtzuerhalten. Die traditionelle männliche Geschlechtsrolle erfordert die Bewältigung von Gefahren, Bedrohungen und Schwierigkeiten, ohne dass die damit verbundenen Ängste und Probleme wahrgenommen, beziehungsweise zugegeben werden dürfen. Hilfesuche ist im Männlichkeitsstereotyp nicht vorgesehen.“ Eine weitere Ursache liegt in der unterschiedlichen Manifestation der Depression bei Frauen und Männern. So ergab eine Untersuchung der Münchener Psychiaterin bei 656 stationär behandelten Männern und 1 755 Frauen deutliche Unterschiede in der Häufigkeit ihrer Symptome: Während die Männer vor allem über Schlafstörungen klagten, waren bei Frauen Müdigkeit und Antriebslosigkeit die Hauptsymptome. Bei den Männern fanden sich häufiger die Symptommuster „Irritabilität“, „Aggressivität“ und „antisoziales Verhalten“, bei Frauen dagegen „Unruhe“, „depressive Verstimmung“ und „Klagsamkeit“.

Bisher existieren erst wenige Untersuchungen der „männlichen Depression“. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich die wichtigsten Kernsymptome der Depression bei beiden Geschlechtern nicht allzusehr voneinander unterscheiden. Bei Männern gibt es jedoch deutliche Hinweise auf eine männliche Variante der Störung. Es sind:

• Reizbarkeit und Verstimmung

• schnelles Aufbrausen (niedrige Impulskontrolle)

• Wutanfälle und Ärgerattacken

• Unzufriedenheit mit sich selbst und anderen

• Neigung zu Vorwürfen und nachtragendem Verhalten

• verdeckte oder offene Feindseligkeit

• geringe Stresstoleranz

• Neigung zu häuslicher Gewalt

• hohe Risikobereitschaft

• exzessives Sporttreiben (wie Marathon!)

• sozial unangepasstes Verhalten

• vermehrter bis exzessiver Alkohol- und Nikotinkonsum

• erhöhtes Selbstmordrisiko.

Dr. Möller-Lehmkühler zitiert dazu im Fachblatt „Der Neurologe & Psychiater“ (Heft 11/06) die satirische Bemerkung der amerikanischen Komödiantin Elayne Boosler: „Wenn Frauen depressiv sind, dann fangen sie an zu essen oder sie gehen zum Shopping. Depressive Männer überfallen fremde Länder“.

Psychotherapie und Medikamente

In den letzten Jahren hat es erfreuliche Erfolge in der Behandlung depressiver Zustände gegeben – durch Psycho- und Soziotherapie, vor allem aber durch neue Medikamente. An synthetischen Präparaten stehen trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Monoaminooxidasehemmer und Psychostimulanzien zur Verfügung. Sie müssen mindestens einige Wochen lang regelmäßig eingenommen werden, bevor ihre Wirkung einsetzt. Die Nebenwirkungen unterscheiden sich je nach Art des Medikaments. Häufig sind Schläfrigkeit und Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, verschwommenes Sehen, Harnverhalt, Verstopfung und Verwirrungszustände. Sexuelle Funktionsstörungen kommen ebenfalls vor.

Es sind auch ungewöhnliche Therapieverfahren entwickelt worden, zum Beispiel die Behandlung mit Schlafentzug oder die Lichttherapie bei winterlichen Depressionen. Bei schwersten Depressionen, die durch andere Maßnahmen nicht zu beeinflussen sind, wird auch die Elektrokrampf- Therapie eingesetzt.

Seit Ende der Achtzigerjahre hat auch das Johanniskraut eine fast einzigartige Renaissance als Antidepressivum erlebt. Kontrollierte wissenschaftliche Untersuchungen mit standardisierten Extrakten der Pflanze haben ihr zur längst fälligen wissenschaftlichen Anerkennung in der Therapie bei leichten und mittelschweren Depressionen und Angstzuständen verholfen.

Lajos SchöneMedizinjournalistGerstäckerstr.981827 München

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