Auswirkungen von Kinderkrankheiten auf die orale Gesundheit
In der Hektik des Alltags wird die Bedeutung der klinischen Untersuchung der Perioralregion und der Mundhöhle häufig unterschätzt. Schon durch die Inspektion ohne Hilfsmittel ergeben sich beim Vorliegen bestimmter Erkrankungen für den Untersucher deutliche Hinweise. Das Spektrum ist breit gefächert und reicht von unspezifischen Anzeichen bis hin zu Blickdiagnosen. Diese Arbeit stellt orale Manifestationen einiger pädiatrischer Allgemeinerkrankungen vor, im Sprachgebrauch häufig als „Kinderkrankheiten“ bezeichnet, und dient damit als Hilfestellung für den Arzt, der in seiner Praxis oder Sprechstunde Kinder untersucht und behandelt.
Perioralregion
Vor jeder Untersuchung der Mundhöhle steht die klinische Beurteilung der Perioralregion. Eine periorale Blässe ist häufig ein Anzeichen auf eine Systemerkrankung, welche nicht selten mit Fieber assoziiert ist. Auch beim Scharlach, eine meldepflichtige, akute exanthematische Infektionserkrankung, ausgelöst durch ß-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A, besteht typischerweise eine periorale Blässe (Facies scarlatinosa, siehe Abbildung 1). Diagnoseweisend ist hierbei die meist tiefrote Verfärbung der Rachenschleimhaut, die Schwellung der Gaumenmandeln mit lakunären Belägen und Schluckschmerzen (Angina scarlatinosa) sowie die Himbeerzunge mit Schwellung der regionären Lymphknoten. Systemische ekzematöse Hauterkrankungen, wie etwa die seborrhoische Dermatitis, sparen in der Regel die Perioralregion aus.
Lippen
Bereits bei der Betrachtung der Lippen weisen Form und Farbe bei einer Vielzahl von Erkrankungen Veränderungen auf. Neben vollen, schmalen und geschwollenen Lippen, sind Auffälligkeiten wie ein Schiefstand, Teleangiektasien oder Spalten zu beobachten. Eine Übersicht zeigt die Abbildung 2. So erscheinen normal rosafarbene Lippen bei einer Anämie blaß. Eine grau-blaue Färbung tritt bei hypoxischen Zuständen, bei Met-Hämoglobinämie und bei einem Vitium cordis auf. Handelt es sich um ein zyanotisches Vitium, so weisen die Lippen eine tiefblaue Farbe auf. Eine Azidose, wie sie zum Beispiel bei Diabetes mellitus beobachtet werden kann, eine Kohlenmonoxid- oder Aspirin-Intoxikation verleihen den Lippen ein kirschrotes Erscheinungsbild. Eine Cheilitis sowie Fissuren und Rhagaden können Anzeichen verschiedener Ernährungsstörungen sein. Zu bedenken ist hierbei ein Mangel an Riboflavin (Vitamin B2), Vitamin B6 oder B12, Vitamin C, Folsäure, Niacin, aber ebenso ein Proteinsowie ein Eisenmangel, bei dem sich in der Regel zusätzlich eine mikrozytäre Anämie nachweisen lässt. Auch eine Zoeliakie (siehe Abbildung 3), chronische Darmerkrankungen, wie eine Colitis ulcerosa oder ein M. Crohn, sowie ein Diabetes mellitus führen zu derartigen Veränderungen. Differentialdiagnostisch sollte jedoch ebenfalls ein habituelles Lippenlecken, der seltenere Melkersson Rosenthal-Komplex und ein Morbus Miescher (Cheilitis granulomatosa) ausgeschlossen werden.
Mundhöhle
Viele in der Literatur beschriebene Synonyme, wie etwa Halitosis, Foetor ex ore, bad breath und oral malodour, stehen für einen weiteren wichtigen Aspekt bei der Beurteilung eines Patienten, nämlich den „Mundgeruch“. Hinlänglich bekannt sind neben einer mangelnden Mundhygiene Ursachen wie Infektionen im Mundbereich, zum Beispiel Parodontitis, Perikoronitis, Gingivitis und Gingivostomatitis sowie Tonsillitis, Sinusitis und infektiöse Mononukleose im HNO-Bereich. Auch führen Erkrankungen der Speiseröhre und des Magens zu einem „schlechtem Atem“. Jedoch gibt es eine ganze Reihe weiterer Erkrankungen, die zu Geruchsveränderungen führen.
Die nachfolgende Auflistung zeigt eine Auswahl:
Auch im Bereich der Lippen- und Mundschleimhaut manifestiert sich eine große Anzahl von Erkrankungen. Zu den typischen Veränderungen gehören Aphthen, Vesikel, Pusteln und Ulzerationen. Im Folgenden sollen Beispiele für Manifestationen bei Ernährungsstörungen, bei Diabetes mellitus, gastrointestinalen Erkrankungen, Hauterkrankungen, Kollagenosen, Infektionen sowie für durch Medikamente verursachte Veränderungen einzeln erläutert werden.
Beim Diabetes mellitus finden sich eine Cheilitis, Schleimhautaphthen und -ulzerationen. Bei genauer Betrachtung weist die Zunge Furchen und Fissuren auf. Später findet sich zusätzlich eine Papillenatrophie. Die Patienten klagen zudem über Mundtrockenheit (Xerostomie). In bis zu 15 Prozent der Fälle lässt sich eine Candidiasis nachweisen. Bei der Zoeliakie treten neben einer Schmelzhypoplasie, einer Glossitis mit Zungenbrennen nicht selten eine Stomatitis mit Schleimhautaphthen auf. Beim M. Crohn sind in der Literatur unspezifische orale Läsionen bei bis zu 20 Prozent der Betroffenen beschrieben [Henschel et al., 2002]. Zu diesen zählen in erster Linie Stomatitiden, aphthöse und hämorrhagische Ulzera, aber auch das mit dem M. Crohn assoziierte Krankheitsbild der Pyostomatitis vegetans, das klinisch durch multiple orale Pusteln sowie schmerzhafte Erosionen und verruciforme Vegetationen imponiert [Delaporte et al., 1998]. Auch eine Cheilitis granulomatosa, ist, wie bereits beschrieben, bei Crohn-Patienten zu beobachten. Eine Abgrenzung zu Patienten mit einer Colitis ulcerosa aufgrund dieser unspezifischen Symptome ist nicht möglich. Bei dem Lichen ruber planus (flache Knötchenflechte) handelt es sich um eine mukokutane Erkrankung unklarer Äthiologie. Betroffen sind in der Regel Patienten im Alter von 30 bis 60 Jahren, aber es werden auch bei Kleinkindern exanthematische Formen nach Infektionen beobachtet. Neben der typischen Lokalisation auf der Beugeseite der Handgelenke, finden sich hellrote oder violette, häufig stark juckende Papeln an der Lippen- oder Mundschleimhaut. Sie zeigen, als Ausdruck einer ungleichmäßig ausgebildeten Granulose, meist weiße Punkte und Netze (signe du réseau, Wickham-Streifen). Auch kommen leukoplakieartige Herde auf der Zunge vor. Wie für viele andere Hauterkrankungen können Ursachen nur vermutet oder aus Zusammenhängen erschlossen werden. So können Arzneimittel oder Chemikalien Krankheitsschübe auslösen. Ebenfalls scheint der Lichen ruber im Zusammenhang mit Viruserkrankungen, zum Beispiel einer Virushepatitis, aufzutreten.
Beim Pemphigus vulgaris ist die Mundschleimhaut im Gegensatz zum Pemphigoid, welches sich nur selten auch oral manifestiert, regelmäßig mitbetroffen. Hierbei bilden sich auf meist unveränderter Haut schlaffe, intraepitheliale Blasen, die nach dem Platzen Erosionen und Krusten hinterlassen. Diese lassen sich durch seitlichen Druck verschieben (Nikolski-Phänomen). Zur Diagnosefindung dient der Nachweis von Antikörpern gegen die Intrazellularsubstanz des Stratum spinosum der Epidermis.
Bei der Epidermolysis bullosa handelt es sich um eine determinierte blasenbildende mukokutane Störung, bei der sich milde bis letale Verlaufsformen unterscheiden lassen. Die Schleimhäute sind hierbei unterschiedlich stark betroffen. Es treten Vesikel, Bullae, Erosionen, Ulzerationen und ein Erythem der Gingiva auf [Swinson B et al., 2004]. Bei Patienten mit einer ausgeprägten Xerostomie sowie einer „glatten“ Zunge mit Atrophie der filiformen Papillen muss differentialdiagnostisch an ein Sjörgen-Syndrom gedacht werden. Es handelt sich hierbei um eine Autoimmunerkrankung der Speicheldrüsen mit lymphozytärer und plasmazellulärer Infiltration mit Verlust des sekretorischen Epithels [Mulliken RA et al., 2000]. Die Diagnose wird durch den Schirmer-Test der Augen gegebenenfalls in Kombination mit einer Probeexzision der Mundschleimhaut gesichert. Beim Schirmer-Test dient der an der Unterlidkante eingelegte Filterpapierstreifen der Prüfung der Tränensekretion. Hierbei sind nach fünf Minuten normalerweise 10 bis 20 Millimeter des Streifens befeuchtet.
Auch Vaskulitiden, wie der M. Behçet, weisen orale Manifestation auf. Hierbei kommt es in den allermeisten Fällen zu schmerzhaften rekurrierenden Ulzerationen. Zudem leiden die Patienten unter einer kutanen Vaskulitis in Verbindung mit einer Arthritis. Die Trias Arthritis, vor allem der Fußund Kniegelenke, nicht bakterielle Urethritis und Konjunktivitis kennzeichnen das Reiter- oder auch Urethero-okulosynoviales-Syndrom. Es tritt vorwiegend bei jungen Männern auf, welche zuvor an einer Darm- oder Harnwegsinfektion erkrankt waren. Die Erkrankung beginnt häufig mit hohem Fieber. Eine genetische Disposition in Form einer HLA-B27-Assoziation liegt bei 70 bis 80 Prozent der betroffenen Patienten vor. Bei dem Erythema multiforme handelt es sich wahrscheinlich um eine Hypersensitivitäts- oder Autoimmunreaktion nach Einnahme bestimmter Arzneimittel (zum Beispiel Sulfonamide, Barbiturate) oder nach Infektionen (zum Beispiel Herpes simplex oder Mykoplasmen). Neben einer akuten Allgemeinsymptomatik bilden sich zunächst Erytheme, auf denen sich im weiteren Krankheitsverlauf Blasen entwickeln. Frische Effloreszenzen ordnen sich um ältere an, wodurch sich konzentrische Ringe bilden, die an Schützenscheiben erinnern (Zielscheiben-Läsionen). Betroffen sind neben der Haut auch die Lippen, die Mund-, Nasen-, Genital- und Analschleimhaut. Die Erkrankung kann sich auch an den Augen, in Form einer Konjunktivitis, Keratitis oder Iritis, manifestieren.
Auch Erkrankungen aus dem Formenkreis der Kollagenosen können zu typischen oralen Veränderungen führen. Der Lupus erythematodes, eine systemische Autoimmunerkrankung, führt zu schmerzlosen Ulzerationen bevorzugt am Gaumen, weißlichen Plaques in der Schleimhaut und vaskulitischen Läsionen an den Lippen (siehe Abbildung 4, [Vrotsos JA et al., 1996]). Bei der Sklerodermie hingegen stehen eine Fibrose der Schleimhäute mit Mikrostomie, mukosalen Teleangiektasien und ein Sicca-Syndrom im Vordergrund.
Bei einer ganzen Reihe von Infektionen kann es zu einer Mitbeteiligung der Mundschleimhaut kommen.
Einige Erreger, bei denen sich eine Stomatitis nachweisen lässt, sind im Folgenden aufgelistet:
Auch bei einer Maserninfektion treten im drei bis fünf Tage andauernden Prodromalstadium neben uncharakteristischen katarrhalischen Erscheinungen, im Bereich der oberen und unteren Molaren die typischen weißlichen Stippchen mit leicht gerötetem Hof (Koplik-Flecken, siehe Abbildung 5) auf. Manche Veränderungen lassen sich auch bei genauerer Betrachtung nicht eindeutig zuordnen. Hierbei ist differentialdiagnostisch auch immer an eine Medikamentennebenwirkung zu denken, wie sie etwa bei einer Gingivahyperplasie nach Phenytoin-Einnahme besteht. Auch Einlagerungen in die Lippen- oder Mundschleimhaut sind nur bei genauer Betrachtung erkenntlich. So erscheinen ektope Talgdrüsen, die sogenannten Fordyce Drüsen, als gelblich schimmernde, stecknadelgroße Knötchen durch die Mukosa. Bei einer Rötelninfektion lassen sich an der Mundschleimhaut kleine rötliche Flecken, die sogenannten Forschheimer Zeichen, erkennen (siehe Abbildung 6).
Zähne
Auch die Entwicklung der Zähne, ihre Form und Farbe lassen Rückschlüsse auf bestimmte Erkrankungen zu. Ein verzögerter Zahndurchbruch lässt sich bei einer Adipositas, einem Hypothyreoidismus, einem Vitamin-C-Mangel, einer Rachitis, einer Trisomie 21 sowie bei einer ektodermalen Dysplasie und einer konnatalen Syphillis (Hutchinson Zähne) beobachten.
Eine gelbliche Zahnfärbung tritt bei einer fortgeschrittenen Hepathopathie oder einem gastroösophagealen Reflux auf. Eine grünliche Verfärbung der Zähne weist auf einen schweren Ikterus hin. Bei einer Porphyrie erscheinen die Zähne rot verfärbt, wohingegen Patienten mit einer Osteogenesis imperfecta eine bläuliche Verfärbung aufweisen. Dunkle Flecken lassen auf eine vorangegangene Tetrazyklintherapie schließen.
Betrachtet man die Zunge, so gibt es eine ganze Reihe neurologischer Störungen, die bei bloßer Betrachtung recht augenscheinlich sind. Ein feinschlägiger Tremor kann bei Hyperthyreoidismus, bei einer Chorea minor oder einer Amyotonia congenita auftreten. Ein mehr grobschlägiger Tremor hingegen findet sich bei einer Zerebralparese. Kommt es zu einer vollständigen Denervierung oder leidet der Patient an einer spinalen Muskelatrophie, so lässt sich hier ein Fibrillieren der Zunge beobachten. Bei einer Schädigung des Nervus hypoglossus kommt es zur Seitenabweichung der herausgestreckten Zunge zur gelähmten Seite hin. Zungennarben lassen bei dem Patienten ein Anfallsleiden vermuten.
Eine Makroglossie tritt typischerweise bei einem Wiedemann Beckwith Syndrom, einer Trisomie 21, bei Mucopolysaccharidosen, einer Akromegalie, einem Hypothyreoidismus, einer Amyloidose sowie einer Ductus thyreoglossus-Zyste auf. Eine gerötete Zunge, im Allgemeinen als Erdbeeroder Himbeerzunge bezeichnet, findet sich bei einem Scharlach oder einem Kawasaki-Syndrom. Hiervon ist die im Sinne einer Glossitis gerötete Zunge zu unterscheiden, die auf einen Riboflavin- oder Niacin-Mangel zurückzuführen ist. Eine Glossitis in Kombination mit einer Lingula glabra, also einer durch Zottenatrophie glatten Zunge, ist ein Hinweis auf eine perniziöse Anämie.
Die möglichen Veränderungen und Manifestationsformen verschiedener Erkrankungen des Kindesalters sind vielzählig und lassen sich nicht auf wenigen Seiten umfassend beschreiben. Während einige Veränderungen geradezu pathognomonisch sind, lassen andere wiederum eine große Anzahl differentialdiagnostischer Betrachtungen zu. Deshalb kann dieser Artikel nur eine Orientierungshilfe sein. Sicher ist jedoch, dass die Größe der Veränderung nicht entscheidend ist, wie in einem Zitat von Joseph Bell (Chirurg, 1837 bis 1911), nach dessen Vorbild Arthur Conan Doyle die Romanfigur Sherlock Holmes geschaffen hat, deutlich wird:
„The precise and intelligent recognition and appreciation of minor differences is the real essential factor in all successful medical diagnosis“.
Zusammenfassung
Der Untersuchung der Perioralregion und der Mundhöhle kommt eine besondere Bedeutung zu, da es eine Vielzahl von Erkrankungen gibt, die in diesem Bereich zu Veränderungen führen. Eine ausführliche körperliche Untersuchung des Patienten ist daher stets für die Diagnosefindung unerlässlich. Regelhaft sind es vor allem geringfügige Veränderungen, die in einem hektischen Alltag leicht übersehen werden können. Diese Arbeit dient dem praktisch tätigen Zahnarzt als Hilfestellung bei der Diagnosefindung von sich oral manifestierenden pädiatrischen Allgemeinerkrankungen.
Dr. Frank Kowalzik, Msc.Johannes Gutenberg-Universität MainzKinderklinikLangenbeckstraße 155131 Mainzkowalzik@kinder.klinik.uni-mainz.deDr. habil. Markus KnufJohannes Gutenberg-Universität MainzKinderklinikLangenbeckstraße 155131 Mainzknuf@kinder.klinik.uni-mainz.