Online-Netzwerk studiVZ

Das nicht ganz echte Original

Jeden Tag geht heute ein neues Portal oder eine Community ans Netz. Die meisten dümpeln unbeachtet vor sich hin. Wenn eine Internetplattform auffallen will, muss sie schon etwas ganz Besonderes sein, ansonsten kräht kein Hahn danach. Eine, die es trotz heftiger Kritik geschafft hat, ist studiVZ, das Studentenverzeichnis.

Innerhalb von zwei Jahren startete das Online-Netzwerk von Null auf mittlerweile weltweit über 3,3 Millionen Nutzer. Die Art, soziale Kontakte online zu knüpfen und zu pflegen, ist den Studierenden anscheinend auf den Leib geschneidert. Kein Wunder: Selbst bei einem vollen Terminplaner reichen wenige Klicks, um live dabei zu sein.

Das Prinzip ist einfach: studiVZ stellt den Studenten eine Mini-Homepage zur Verfügung. Die Hauptarbeit übernehmen die User – sie hauchen dem einfach gestrickten Rahmen Leben ein. Studenten, Alumni, Abiturienten und Hochschulmitarbeiter können sich ein Profil anlegen, vernetzen, Kontakte knüpfen oder Infos austauschen. Sie geben ihre persönlichen Daten ein und sind binnen weniger Minuten online und für alle eingeschriebenen Teilnehmer erreichbar. Dass diese freizügige Preisgabe persönlicher Daten mitunter etwas blauäugig ist, haben vor allem weibliche Teilnehmer erfahren.

Pannen und Probleme

Übernommen wurde die Idee aus den USA vom großen Vorbild „Facebook“. Der Name stammt von den gleichnamigen Büchern, die die US-Colleges als eine Art Handbuch für Erstsemester an die Studienanfänger verteilen. Da die deutsche Plattform dem amerikanischen Original sehr ähnlich ist, wurde schnell der Vorwurf des Plagiats laut. StudiVZ sei ein bis ins Detail gehender Nachbau von Facebook, grafisch wie funktional. Nicht ganz zu Unrecht: Baut man Stylesheets von Facebook nach, kann man sie für die studiVZ-Seiten nutzen. Die Kontakt- und Grußfunktion mit dem Fantasiewort „Gruscheln“ erinnert an „Poking“, gleich anstupsen, auf Facebook oder dem „Zublinzeln“ und „Zulächeln“ auf Datingseiten. Eine Fehlermeldung förderte last but not least einen Programmordner mit Namen „fakebook“ zutage.

Insbesondere in Blogs und Onlinemagazinen größerer Zeitungen kommt studiVZ schlecht weg. Dies ging soweit, dass Ende 2006 vereinzelt Studentenvertreter vor studiVZ warnten. Daraufhin setzte das Netzwerk einen Verhaltenskodex auf, dem eine Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und technische Verbesserungen folgten. Seit Mai 2007 ist studiVZ zudem Mitglied der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM). Im November 2006 wurde auch bekannt, dass die Geschäftsführung von studiVZ ausländische Domains der deutschen Mitbewerber Unister und Studylounge registriert hatte. Nachdem das in der Branche missbilligte Domaingrabbing öffentlich wurde, entschuldigte sich studiVZ und gab diese wieder frei.

Dass studiVZ noch in der Entwicklungsphase ist, zeigt sich nicht nur hier. Im vergangenen Herbst musste das System mehrfach vom Netz genommen werden, weil sich eklatante Lücken im Datenschutz offenbarten. Bei Websites mit vielen persönlichen Benutzerdaten besteht per se die Gefahr, dass unberechtigte Dritte Data-Mining betreiben. Zwei Studenten vom USamerikanischen MIT-College luden beispielsweise mithilfe eines automatischen Skripts über 70 000 Facebook-Userprofile herunter. Im Dezember 2006 schafften es Unbekannte, insgesamt 1 074 574 studiVZProfile downzuloaden und zu analysieren. Im Februar 2007 gab es erneut einen Überfall auf die Website, bei dem es dem Angreifer gelungen sein soll, sich unmittelbaren Zugriff auf die Datenbank des Systems zu verschaffen und nicht veröffentlichte Daten, wie Passwörter und E-Mail-Adressen der Nutzer, zu kapern. StudiVZ setzte daraufhin die Passwörter aller Mitglieder zurück und musste die Seite erneut mehrere Stunden vom Netz nehmen.

Ein weiterer Wermutstropfen: Der Nutzer kann zwar den Zugriff auf sensible Infos einschränken, allerdings ist diese Option standardmäßig deaktiviert. Infolgedessen geben viele ihr volles Profil preis. Trotz der Einstellungsoptionen für die Privatsphäre bleiben Name, Hochschule, Benutzerbild, Freundesliste und Verlinkungen auf öffentliche Bilder stets für alle angemeldeten Benutzer sichtbar. Beanstandet wird im Übrigen die Verwaltung der in Fotoalben hochgeladenen Bilder. Sämtliche Fotos, auch solche, die vom Benutzer ausdrücklich als privat markiert wurden, sind für jedermann zugänglich, sobald die jeweilige URL bekannt ist. Zwar wurde mittlerweile der Algorithmus verbessert, doch sind die Bilder noch immer aufrufbar, solange man die URL kennt.

Auch das „Gruscheln“ führte zu massiven Beschwerden. „Gruscheln“ verbindet die beiden Wörter „grüßen“ und „kuscheln“, kurz: Man tritt mit anderen Usern in Kontakt. Dies führte offenbar dazu, dass sich Männergruppen trafen, um sich besonders hübsche Kommilitoninnen auszugucken und dann mit „Massengruscheln“ zu belästigen. Erst seit studiVZ an eine große Verlagsgruppe verkauft wurde, ist wieder Ruhe eingekehrt. Dem Zulauf tat dies alles keinen Abbruch. StudiVZ hat seinen Konkurrenten Unister und Studylounge nämlich schlicht eins voraus: Es war zuerst online.

Während sich Facebook mit vielen Funktionen inzwischen weiterentwickelte und im Juli dieses Jahres auf weltweit 37 Millionen User kam, tat sich bei studiVZ allerdings nur geringfügig etwas. Selbst die puritanisch anmutende Optik wurde bisher nicht auf- gewertet. Besonders international hat Facebook dank zahlreicher Darstellungs- und Vernetzungsmöglichkeiten einen deutlichen Vorsprung. Gerade Zahnmedizinstudenten, die bei internationalen Projekten mitwirken und dementsprechend über viele Auslandskontakte verfügen, schöpfen diese Möglichkeiten aus.

Spielwiese im Netz

Gerne genutzt wird das StudiVZ als Online-Spielwiese. Beispielsweise, um nach alten Schulkameraden oder Studienkollegen zu suchen. Durch die „Wer kennt wen über wen-Funktion“ lassen sich weit verzweigte Netzwerke erzeugen. Eigentlich nur dazu gedacht, um Studienkollegen einer Fachrichtung oder ehemalige Absolventen einer Schule zusammenzuführen, wird diese Funktion tatsächlich häufig zur Selbstdarstellung genutzt. Was es mit dieser Gruppendynamik wirklich auf sich hat, drückt die Gruppe: „Meine Gruppenliste sagt mehr über mich aus als mein Profil“ allein durch ihren Namen aus. Mittlerweile gibt es mehr als eine Million Gruppen. Mancher Einfall überschreitet allerdings die Grenzen: Anfang August rief der Stern die Aufsichtsbehörden auf den Plan, weil im angehängten SchülerVZ Einträge kursierten, die den Nationalsozialismus verharmlosten. Erst dieser Tage wieder gab es heftige Reaktionen in der Nutzergruppe, weil extremistische und radikale Gruppen studiVZ als Plattform für ihre Propaganda nutzen.

Der Vorwurf, dass besonders gegen militante Gruppen viel zu lasch vorgegangen wird, begleitet studiVZ von Anfang an. Auch Vorwürfe, dass Beschwerden über Belästigungen ignoriert werden, werden immer wieder laut. StudiVZ selbst beruft sich auf eine gut funktionierende Demokratie, da es den Usern durch heftige Gegenreaktionen gelang, dass sich gewisse Gruppen selbst löschten.

Humani oder Zahni

Wesentlich harmloser, wenngleich durchaus interessant, präsentieren sich zahnmedizinische Gruppen. So erfährt man zum Beispiel vom universitären Wettstreit zwischen Human- und Zahnmedizinern. Sehr häufig spielt dabei die Alkoholverträglichkeit eine Rolle, doch auch manche andere Seitenhiebe wie „Zahnmedizin rules/Hätt ich zwei linke Hände wär ich Humani geworden“ geben Einblicke in das Leben der angehenden Zahnmediziner. Überhaupt scheint das Thema Alkohol die Studenten zu faszinieren. Mit über 100 000 Mitgliedern zählt die Gruppe „Ich glüh härter vor als Du Party machst“ zu den größten Vereinigungen. Wesentlich weniger bekennen sich zur Gruppe: „durchs Zahnmedizinstudium zum Alkohol gekommen“. Eine Aussage, die nachdenklich stimmt. Allein die Suche nach dem Wort „Zahn“ in den Gruppentiteln führt zu über 300 Treffern, etwa 150 führen den „Zahnarzt“ im Namen. Auch Zahntechniker und Zahnarzthelferinnen sind berücksichtigt.

Landläufig gilt, wer sich neu im studiVZ anmeldet, ist erstmal für ein paar Tage aus dem realen Leben verschwunden. Zu schön ist es, durch diese endlosen virtuellen Räume zu stöbern. Richtige Personen, Fakes und Trolls haben allesamt ihre eigenen Reize. Ob Rainer Fakemann, Elvis Presley oder Paris Hilton – alle findet man hier wieder. Obwohl die Moderatoren erwischte Fakes gnadenlos löschen, machen sich viele einen Spaß daraus, die Aufpasser an der Nase herum zu führen. Dahinter stecken rein kommerzielle Interessen: Sobald Sponsoren den Eindruck haben, dass sich überwiegend Trolls und Fakes in der Community tummeln, sinken die Werbepreise. Trotzdem streifen zeitweise Hunderttausende dieser Fantasiefiguren im studiVZ.

In Zukunft online

Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Communities wird weiter diskutiert, wie ein Online-Medium der Zukunft aussieht. Dass Online-Medien in der heutigen Welt eine ganz neue Aufgabe zukommt, demonstrierte der Amoklauf am amerikanischen College Blacksburg in diesem Frühjahr: Während die etablierten Kommunikationssysteme schlicht stumm blieben oder unter einer Vielzahl von Anrufen zusammenbrachen, entwickelten die Studenten quasi über Nacht ihre eigenen Informationskanäle. Dass Extremsituationen ihre eigene Dynamik entwickeln, konnte man in den USA nach den Anschlägen vom 11. September beobachten. Die Betroffenen, das Umfeld, aber auch Unbeteiligte entwickeln ein extrem gesteigertes Informationsbedürfnis nach Details, dem herkömmliche Medien offensichtlich nicht mehr gewachsen sind. Ein deutliches Zeichen für die Bewertung, die solchen Medien mittlerweile zuteil wird, sind etwa die Milliardenbeträge, die den Gründern der Plattform für ihr Objekt ins Haus flattern.

Aber selbst in wesentlich weniger dramatischen Momenten lassen sich ähnliche Prozesse beobachten: Vor Prüfungen oder zu bestimmten Kursen werden auf studiVZ geschlossene Onlinegruppen gebildet, die sich über Prüfer, Fragenkataloge und Mitschriften austauschen und über Klatsch, Tratsch und Gerüchte den Stress abbauen. Onlineerprobte Konsumenten von heute geben sich nicht mehr mit den juristisch abgesegneten Statements öffentlich-rechtlicher Anstalten oder tränenreichem Betroffenheitskult anderer Medien zufrieden. Das Kind nennt sich Web 2.0 und lebt von den Beiträgen der Nutzer. Sie sind es gewohnt, jeden Beitrag zu kommentieren, eigene Fotos ins Netz zu stellen, upzuloaden oder sich gleich mit eigenen Internetseiten zu präsentieren. Auch für die nicht mehr ganz so jungen „Kommilitonen“ ist es ein Spaß, losgelöst von Examensnöten noch einmal ins Studentenleben einzutauchen, mit wildfremden Menschen zu diskutieren oder sich zur Gruppe der „Harley-Fahrer unter 50“ zu bekennen. Die heutigen Studentengenerationen haben ihre eigenen Fragen und finden ihre Antworten. Bedenkt man, dass einer der größten deutschen Zeitungsverlage über 100 Millionen Euro für die auf wenigen I-Macs gebastelte Community geboten hatte, lässt sich nur erahnen, welches Potenzial hier besteht und wie sehr etablierte Branchenführer der Zeit hinterher hinken.

Tobias BauerHauptstr. 4278224 Singenza.bauer@gmail.comClaudia Kluckhuhn

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