Der besondere Fall

H2O2–induziertes Emphysem

Heftarchiv Zahnmedizin
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Eine 64-jährige Patientin wurde mit Verdacht auf einen anaphylaktischen Schock in unserer Notfallambulanz vorgestellt. Sie zeigte eine massive, schnell größenprogrediente rechtsseitige Gesichtsschwellung und Luftnot unmittelbar nach zahnärztlicher Behandlung.

Der Zahnarzt hatte nach Lokalanästhesie, Trepanation und Wurzelkanalbehandlung an Zahn 13 mit H2O2 gespült. Unmittelbar danach entwickelte sich die genannte Gesichtsschwellung und subjektiv empfundene Luftnot. Die hinzugerufene Hausärztin der Patientin behandelte zunächst, bei Verdacht auf eine anaphylaktische Reaktion, mit Kortison und Antihistaminikum. Da keine Besserung der beschriebenen Symptomatik auftrat, erfolgte die Überweisung mit Einweisungsdiagnose „anaphylaktischer Schock“ in unsere Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.

Diagnostik

Die klinische Untersuchung zeigte eine 64-jährige Patientin ohne Zeichen einer kardiopulmonalen Dekompensation (RR 155 / 85 mmHg, Puls 72/min). Die rechte Wange wies eine einseitige dezent druckdolente Schwellung auf. Über dem Punctum maximum ließ sich Emphysemknistern palpieren und auskultieren. Intraoral zeigte sich neben einem trepanierten Zahn 13 eine deutliche Schwellung palatinal, die von regio 11 bis in den weichen Gaumen reichte. Das Vestibulum regio 13 war ebenfalls verstrichen. Eine lokale Überwärmung oder Zeichen einer akuten Entzündung ließen sich nicht nachweisen. Die Mundöffnung war uneingeschränkt. Die Patientin gab subjektiv Luftnot und Schluckbeschwerden an. Laborchemisch zeigte sich ein Normalbefund (CRP<3,0; Leukozytenzahl 7,8/nl).

Die Patientin wurde wegen drohender Verschlechterung der Atemnot sowie der Schluckbeschwerden zur stationären Überwachung aufgenommen. Die röntgenoloische Untersuchung ergab eine via falsa an Zahn 13. In den folgenden drei Tagen ging die Schwellung komplett zurück. An Zahn 13 wurde eine Wurzelspitzenresektion durchgeführt.

Diskussion

Die vorliegende Symptomatik ergab zunächst den Verdacht auf eine anaphylaktische Reaktion nach zahnärztlicher Behandlung. Die klinische Untersuchung ergab eine druckdolente Schwellung mit druckdolentem medialem Lidwinkel und Emphysemknistern, das auf forcierte Wurzelkanalspülung mit H2O2 zurückzuführen war. Durch eine via falsa wurde hier direkt H2O2 ins Gewebe gespült.

Differentialdiagnostisch kommen neben der anaphylaktischen Reaktion auf eine Wurzelkanalspüllösung oder auf Lokalanästhetikum auch der Fossa-canina-Abszess mit Ausbreitung oder Infiltration bis in den medialen Lidwinkel in Betracht.

Die streng einseitige Schwellung, die stabile kardiale Situation und die ausgebliebene Besserung der Symptomatik nach Gabe von Kortison und Antihistaminikum sprechen gegen einen anaphylaktischen Schock. Gegen einen Fossa-canina-Abszess spricht das Fehlen der klassischen Entzündungszeichen, wie Rubor, Calor und functio laesa, sowie der laborchemische Normalbefund.

Sikora et al. haben bereits im Jahre 1966 Zwischenfälle bei der Applikation von H2O2 in der zahnärztlichen Praxis beschrieben. Dabei wurden bisher nur acht Fälle H2O2-bedingter Emphyseme geschildert [1, 4, 12, 13, 17, 19-22]. Klinische Symptome waren dabei die zügige Entwicklung massiver Gesichtsschwellungen ohne Zeichen einer akuten Entzündung. Diese zeigten sich primär kaum oder nur mäßig druckdolent. Stark schmerzhafte Schwellungen nach H2O2-Spülung werden bisher nur von Patterson et al. beschrieben [16].

Bei allgemeinchirurgischen und gynäkologischen Eingriffen wurden nach H2O2-Spülung auftretende Gasembolien beschrieben [9, 14, 15, 18]. Diese Komplikation könnte auch bei einem Emphysem der rechten Wange mit unmittelbarer anatomischer Nähe zur Arteria und Vena angularis auftreten.

In der aktuellen Literatur zur Verwendung von Spüllösungen in der Endodontie zeigt sich der Einsatz von NaOCl-Lösung gegenüber der H2O2-Spülung überlegen. In der aktuellen wissenschaftlichen Stellungnahme des Endodontologie-Beirates der DGZ und DGZMK wird deshalb Natriumhypochlorit (NaOCl) als Spüllösung erster Wahl genannt 2]. In einer Konzentration zwischen 0,5- prozentig und fünfprozentig zeigt NaOCl sehr gute antimikrobielle Wirkung auf die Mehrzahl der endodontisch relevanten Keime bei gleichzeitig geringer Toxizität. Ferner ist NaOCl in der Lage, nekrotisches Gewebe aufzulösen. Die Gewebe auflösende Wirkung steigt in Abhängigkeit von der Applikationsmenge, der Applikationsdauer, der Konzentration und der Temperatur der NaOCl-Lösung [3, 7, 11].

Ein koronales Spülflüssigkeitsreservoir unterstützt das tiefe Eindringen der Spüllösung in den Kanal [5, 6]. NaOCl-Lösung dringt bis zu 400 Mikrometer in die Dentintubuli vor und wirkt auch in der Tiefe bakterizid [10]. Nach der Kanalaufbereitung sollte, kurz vor der Obturation des Kanals, mit 17-prozentiger EDTA-Lösung die Schmierschicht entfernt werden [8], um eine Reinfektion der Dentintubuli zwischen den Sitzungen zu verhindern.

Schlussfolgerung

Bei schnellem Auftreten einer einseitigen Gesichtsschwellung muss differentialdiagnostisch an eine anaphylaktische Reaktion, einen odontogenen Abszess, sowie an eine Reaktion auf eine Wurzelkanalspüllösung gedacht werden. Das H2O2-bedingte Emphysem ist ein seltenes Symptom nach endodontischer Behandlung und kann durch den Einsatz alternativer Spüllösungen wie NaOCl-Lösung vermieden werden.

Zusammenfassung

Einseitige Gesichtsschwellungen nach zahnärztlicher Behandlung sind häufig und erklären sich meist durch eine Entzündungsreaktion. Eine akut bedrohliche Schwellung nicht entzündlicher Genese wird im folgenden Fall geschildert: Eine 64- jährige Frau, bei der unmittelbar nach einer Wurzelkanalbehandlung eine massive Schwellung der rechten Gesichtshälfte entstand, stellte sich mit einer subjektiv empfundenen Luftnot vor. Es zeigte sich ein Emphysem der rechten Wange nach Wurzelkanalspülung mit H2O2. Anhand des dargestellten Falles wird ein Überblick zu den Differentialdiagnosen einseitiger Wangenschwellungen gegeben.

Dr. Harald EssigProf. Dr. Dr. Jörg WiltfangPD Dr. Dr. Patrick H. WarnkeKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsklinikum Schleswig-HolsteinCampus KielArnold-Heller Staße 1624105 Kiel

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