Das Ulmer Papier

Im Mittelpunkt: der kranke Mensch

Pfingsten findet der Deutsche Ärztetag in Ulm statt. Just in time hat die Bundesärztekammer den 250 Delegierten ihre „Gesundheitspolitischen Leitsätze der Ärzteschaft“ als Diskussionsvorlage zugeschickt. Darin beziehen die Mediziner Stellung zur Gesundheitspolitik – von der Versorgung, der Therapiefreiheit und Rationierung bis hin zum Ärztemangel. Eine Botschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das „Ulmer Papier“: Der kranke Mensch muss wieder im Mittelpunkt des medizinischen Geschehens stehen.

Mit dem „Ulmer Papier“ kam die Bundesärztekammer einer Forderung nach, die die Delegierten auf dem Ärztetag 2007 beschlossen hatten: Gemeinsam mit den Länderkammern sollte der Bundesvorstand ein aktuelles gesundheitspolitisches Programm entwickeln. Mit dem Ziel, die Defizite in der medizinischen Versorgung zu benennen und Perspektiven einer vernünftigen Gesundheitspolitik zu skizzieren. Vor allem aber wollte die Ärzteschaft der Politik verdeutlichen, was sie von dem jetzigen GKVSystem hält.

Dass wieder der kranke Mensch ins Zentrum des Gesundheitswesens rückt – und nicht der Geschäftsgegenstand „Diagnose“, ist die Kernbotschaft, die vom 111. Deutschen Ärztetag in Ulm ausgehen soll.

Defizite benennen, Perspektiven skizzieren

Damit eröffnet die BÄK die Diskussion über die Neuausrichtung des Gesundheitswesens. Ausgangspunkt: die gute – sprich individuelle – Arzt-Patienten-Beziehung. Aus Sicht der Ärzte setzen die Politiker beim Versuch, das Gesundheitswesen zu steuern, nämlich ein völlig falsches Verständnis des medizinischen Geschehens voraus. Nahezu allen Reformgesetzen sei eine eher mechanistische Idee von Diagnose und Therapie zu eigen: „Eine Vorstellung, die von einem relativ naiven Verständnis des Herstellens und Wiederherstellens von Gesundheit in der Verantwortung des Arztes ausgeht.“ Man könne, betonen die Ärzte, diese Begegnung jedoch nicht standardisieren, da sie wesentlich davon abhängt, ob der Patient mitarbeitet. „Im Mittelpunkt des Gesundheitswesens muss daher wieder der kranke Mensch stehen – nicht der Geschäftsgegenstand Diagnose“, bekräftigt Ärztepräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe im Deutschen Ärzteblatt.

Menschlicher Partner statt Erfüllungsgehilfe

„Zu Ärzten kommen kranke Menschen. Die haben einen Namen, ein Geschlecht, sie haben ein Alter, eine Lebensgeschichte, ein soziales Umfeld“, führt Hoppe aus. „Wenn sie beim Arzt eine Diagnose auf die Stirn gedrückt bekommen und genauso behandelt werden wie andere, die eine völlig andere Lebensgeschichte, ein völlig anderes Umfeld haben, ist das sehr gefährlich; für den Arztberuf sogar verhängnisvoll.“ Denn dann wäre der Arzt nur noch ausführender Erfüllungsgehilfe, der funktionieren muss. Kein menschlicher Partner mehr.

„Für die Patienten steht die individuelle Zuwendung des Arztes im Vordergrund“, heißt es in dem Positionspapier. Diese erwarteten eben nicht nur Fachkompetenz und eine dem jeweiligen Stand der Wissenschaft entsprechende Diagnostik und Therapie, sondern vor allem auch Zeit und Menschlichkeit in ihrer Begegnung mit dem Arzt.

Was zum nächsten Knackpunkt führt: der Arbeit der Ärzte. Medizin sei nun einmal keine exakte Naturwissenschaft, die nur streng kausalen Regeln folge und deren Ergebnisse jederzeit reproduzierbar sein müssten. Nein, Medizin sei vielmehr eine praktische Erfahrungswissenschaft, die sich naturwissenschaftlicher Methoden ebenso bediene wie Erkenntnissen der Psychologie, der Kommunikations-, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Theologie.

Therapiefreiheit und Freiberuflichkeit spielten gerade in dem Zusammenhang eine herausragende Rolle: Nur der in Fragen der Therapie freie Arzt könne die jeweils angemessene Therapieform wählen. Davon sei infolge der jahrzehntelangen Kostendämpfungspolitik jedoch nicht mehr viel übrig geblieben, konstatiert der BÄK-Vorstand. Mittlerweile habe die Medizin den Charakter einer Vorschriftenmedizin angenommen, bestätigt Hoppe im Ärzteblatt. Rationierungen seien die unausweichliche Folge. Während die Politik unverdrossen die Mär vom umfassenden GKV-Katalog hochhalte, bliebe es den Ärzten überlassen, diese - Leistungsbeschränkungen zu vermitteln. Hoppe: „Der Unterschied zwischen dem, was an Behandlung möglich ist, und dem, was tatsächlich geschieht, muss in der Öffentlichkeit deutlich werden!“

Bürokratie überrollt Ärzte

Parallel dazu nehmen Überregulierung und Bürokratisierung des Gesundheitswesens zu, bemängelt die Ärzteschaft. Die Politik treibe den Wettbewerb zwar voran, schaffe aber keinen stabilen Ordnungsrahmen. Im Gegenteil: Sie reagiere auf drohende Fehlentwicklungen mit einer Flut einzelgesetzlicher Regelungen. „Durch die erst jüngst verschärfte Zentralisierung medizinischer Entscheidungsprozesse und den zum Teil ruinösen Preiswettbewerb unter den Leistungserbringern ist ein so überbordendes Vorschriften- und Kontrollsystem entstanden, dass den Ärztinnen und Ärzten wichtige Zeit in der Patientenversorgung fehlt und der Druck zur Rationierung bis ins Unerträgliche erhöht wird“, kritisiert der BÄK-Präsident.

Dem Ärztemangel könne man nur begegnen, indem man die Konditionen grundsätzlich verbessert, lautet die Botschaft: „Nicht der Arztberuf ist unattraktiv, sondern die Rahmenbedingungen, unter denen er ausgeübt werden muss.“ Neben dem wirtschaftlichen Druck in den Kliniken und der damit verbundenen Leistungsverdichtung stünden die unzureichende Vergütung und die im Vergleich zum Ausland krasse Unterbewertung der ärztlichen Arbeit.

Eine Umorientierung wird freilich auch von den Ärzten erwartet. So nennt das Grundsatzpapier neue Prioritäten in der Gesundheitsversorgung. Vor allem die Prävention soll einen höheren Stellenwert erhalten. Auch die Förderung der Kinder- und Jugendgesundheit will man stärken und zielgruppenspezifisch ausbauen. Angemahnt wird zudem die Verbesserung der Behandlung chronisch Kranker.

Eine Gesellschaft des langen Lebens stellt die Ärzte insgesamt vor neue Herausforderungen. Das Ulmer Papier will vor dieser Folie das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte herausstellen. Wie die Mediziner die Kursbestimmung bewerten, wird der Deutsche Ärztetag zeigen.

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