Grenzen der Endodontie
Die Endodontie erlebt in jüngster Zeit einen Aufschwung, der zum einen mit einem großen Fortbildungsangebot, vor allem aber mit neuen hilfreichen Materialien und Techniken begründet werden kann. Bei richtiger Diagnose und Therapie lassen sich heute hohe Erfolgsraten von etwa 80 bis 90 Prozent in der Endodontie erreichen [Hülsmann, 2005]. Dennoch gibt es Situationen, in denen Erkrankungen des Endodonts nur sehr schwer oder in manchen Fällen gar nicht erfolgreich behandelt werden können. Erschwerend sind hierbei anatomische Faktoren zu nennen, wie stark gekrümmte, obliterierte oder akzessorische Wurzelkanäle, und metallische Obstruktionen und Aufbereitungsfehler von vorigen endodontischen Behandlungsversuchen.
Kanalanatomie
Gekrümmte Kanäle stellen in der Endodontie immer eine Herausforderung dar, da vor allem traditionelle Instrumente aus Edelstahl die Tendenz haben, den Kanal zu begradigen. Sowohl mithilfe von maschinell betriebenen als auch mittels manuell angewendeten Nickel-Titan-Instrumenten wird die Aufbereitung stark gekrümmter Wurzelkanäle vereinfacht (Abbildungen 1a bis c). Durch die Flexibilität der Instrumente und ihre speziellen Instrumentenspitzen kann der ursprüngliche Kanalverlauf unter Anwendung zum Beispiel der Stepdown-, Crowndown- oder Balancedforce- Technik weitgehend beibehalten werden. Präparationsfehler können vermieden werden. Bei sehr stark gekrümmten Kanälen ist im Bereich der Krümmung und apikalwärts bei Instrumenten mit großer Konizität, das heißt Konizitäten von sechs Prozent und mehr, oder großem Durchmesser Vorsicht geboten, da dann gehäuft Kanalverlagerungen oder Instrumentenfrakturen auftreten können [Haikel et al., 1999]. In diesen Fällen ist Instrumenten der Konizität zwei Prozent oder vier Prozent und geringem Durchmesser der Vorzug zu geben.
Akzessorische und obliterierte Kanäle
Übersehene Kanäle führen auch bei bereits durchgeführten Vorbehandlungen immer wieder dazu, dass Wurzelkanalbehandlungen nicht zum gewünschten Erfolg führen. Mithilfe der schattenfreien Ausleuchtung und der Vergrößerung durch das dentale Operationsmikroskop oder auch durchLu penbrillen mit integrierten leistungsfähigen Lampen kombiniert mit der Anwendung von speziellen Endodontie-Ultraschallaufsätzen können alle Kanalsysteme dargestellt, gegebenenfalls Dentikel entfernt und auch obliterierte Kanalsysteme erschlossen werden (Abbildungen 2a bis c). Mithilfe des Operationsmikroskops konnte der ansonsten häufig schwer auffindbare zweite mesiobukkale Kanal in 93 Prozent aller ersten und in 60 Prozent aller zweiten Oberkiefer- Molaren dargestellt werden [Stropko, 1999]. Unter Verwendung des Operationsmikroskops können nicht selten Besonderheiten bezüglich der Anzahl der Kanäle festgestellt werden. So können bei ersten Oberkiefermolaren nicht wie üblich vier sondern auch fünf Kanaleingänge dargestellt werden (Abbildung 3a). Hierbei ist häufig ein dritter Kanal in der mesiobukkalen Wurzel zu finden (Häufigkeit bei ersten OK-Molaren: 2,3 Prozent [Acosta Vigouroux & Trugeda Bosaans, 1978]). In manchen Oberkiefer-Molaren sind auch zwei palatinale Kanäle zu finden (Häufigkeit bei zweiten OK-Molaren: 2,1 Prozent [Caliskan et al., 1995]). Noch seltener sind Oberkiefermolaren mit zwei palatinalen Wurzeln (Abbildung 3b). Auch bei Unterkiefer-Molaren können drei Kanäle in einer Wurzel, meist in der mesialen, zu finden sein (Häufigkeit von drei Kanälen in mesialen Wurzeln bei ersten Unterkiefer- Molaren: ein Prozent [Vertucci, 1984]) (Abbildung 3c). Eine Formvariante des zweiten Unterkiefer-Molaren ist die gehäuft bei Südchinesen vorkommende C-förmige Wurzelkanalkonfiguration (52 Prozent) [Walker, 1988]. Hierbei sind der mesiobukkale oder der mesiolinguale und der distale Kanal durch eine Mulde im Pulpakammerboden miteinander verbunden, die sich kontinuierlich zum Apex hin erstreckt (Abbildung 3d). Im Bereich des Unterkiefers stellen Prämolaren mit zwei oder mehreren Kanälen beziehungsweise Wurzeln eine besondere Herausforderung dar (Häufigkeit von zwei Kanälen: 25,5 Prozent [Vertucci, 1995]). In diesen Fällen zweigt der akzessorische Kanal häufig fast rechtwinklig vom Hauptkanal im koronalen oder mittleren Wurzeldrittel ab, bevor er Richtung apikal zieht. Dabei kann das Dentin über dem akzessorischen Kanal gezielt mit Ultraschall- Instrumenten entfernt werden, um einen geraden Zugang zu diesem akzessorischen Kanalsystem zu ermöglichen (Abbildung 3e). Auch Unterkiefer-Eckzähne können zwei Kanäle aufweisen (Häufigkeit: sechs Prozent [Vertucci, 1995]). Hier kann das Cingulum bei der Präparation der Zugangskavität häufig nicht erhalten werden werden, um den akzessorischen lingualen Kanal darzustellen (Abbildung 3f).
Revision von Wurzelkanalbehandlungen
Eine Revision erfolgt, wenn eine frühere endodontische Behandlung nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat.
In folgenden Fällen ist eine Wurzelkanalbehandlung indiziert [Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – Stellungnahme, 2004]:
1.
Wurzelkanalbehandelte Zähne mit röntgenologischen Symptomen einer persistierenden oder neu entstandenen, endodontisch bedingten Parodontitis apicalis
2.
Wurzelkanalbehandelte Zähne mit klinischen Symptomen einer endodontisch bedingten Parodontitis apicalis
3.
Wurzelkanalbehandelte Zähne mit röntgenologisch oder klinisch insuffizienter Wurzelkanalfüllung (zum Beispiel mangelhafte Homogenität der Füllung, nicht behandelte Wurzelkanäle, nicht gefüllte Areale des endodontischen Systems, fragwürdiges und nicht mehr indiziertes Füllmaterial) ohne klinische oder röntgenologische Anzeichen einer Parodontitis apicalis
4.
Wurzelkanalfüllungen mit Exposition zum Mundhöhlenmilieu
5.
Wurzelkanalbehandelte Zähne mit progressiv verlaufenden, externen entzündlichen Resorptionen.
Die Hauptursache von endodontischen Misserfolgen sind Mikroorganismen. Einerseits können bei der Erstbehandlung verbliebene Mikroorganismen zum Entstehen der posttherapeutischen Behandlung führen. Andererseits kann es zum Neueintritt von Mikroorganismen aufgrund einer undichten Deck- und Wurzelkanalfüllung kommen. Der Vollständigkeit halber sind auch Fremdkörperreaktionen und extraradikuläre Infektionen als Ursachen für endodontische Misserfolge zu nennen.
Um die Mikroorganismen bekämpfen zu können, muss zunächst das Wurzelkanalfüllmaterial entfernt werden, um die Mikroorganismen und gegebenenfalls nekrotisches Gewebe zu erreichen. Da es sich bei den Mikroorganismen in Fällen von endodontischen Misserfolgen meistens um resistente Keime handelt, kann zusätzlich zu der üblichen Natriumhypochlorit- und der Ethylendiamintetraacetat-Lösung mit einer zweiprozentigen Chlorhexidindiglukonat- Lösung gespült werden. Dieses Agens zeigte sich besonders wirksam bei häufig nachgewiesenen endodontischen Problemkeimen, zum Beispiel Enterococcus faecalis. Nach der Spülung mit Natriumhypochlorit sollte allerdings nicht direkt mit Chlorhexidin gespült werden, da sich ansonsten ein nur schwer entfernbarer rotbrauner Niederschlag bildet. Die klassische Kalziumhydroxid- Einlage ist gegen resistente Mikroorganismen, wie Enterococcus faecalis, nur wenig wirksam. Kalziumhydroxid wirkt vor allem über seinen sehr hohen pH-Wert. Enterococcus faecalis kann diesen pH-Wert sehr gut tolerieren, da in seiner Zellmembran eine Protonenpumpe integriert ist, die den pH-Wert neutralisieren kann. Es gibt mittlerweile mehrere Hinweise dafür, dass eine Einlage mit zweiprozentigem Chlorhexidin-Gel eine wesentlich höhere antimikrobielle Wirkung besitzt als die traditionelle Kalziumhydroxid-Einlage [Stuart, 2006].
Revisionen von Wurzelbehandlungen sind einfach durchzuführen, wenn bei der Primärbehandlung keine Präparationsfehler begangen wurden (Abbildungen 4a und b). Die Entfernung des Wurzelkanalfüllmaterials kann mit maschinell betriebenen Nickel-Titan-Instrumenten oder auch mit Handinstrumenten erfolgen [Schirrmeister, 2006a]. Dabei können Lösungsmittel für Guttapercha, wie Eukalyptol oder Halothan, die Revision erleichtern [Schirrmeister, 2006b]. In manchen Fällen können Stufenbildungen durch die primäre endodontische Behandlung die Aufbereitung bis zum physiologischen Foramen erschweren. In diesen Fällen können ein bis zwei Millimeter der Instrumentenspitze zum Beispiel einer K-Feile um etwa 45° abgebogen werden. So kann versucht werden, die Stufe zu passieren und zu glätten.
Entfernung von Stiften und Schrauben
Im Rahmen der Revision ist es unabdingbar, sämtliche Wurzelstifte und Schrauben zu entfernen, um das apikalwärts gelegene Kanalsystem reinigen und desinfizieren zu können. Die Anwendung von Ultraschall ist dabei das Mittel der Wahl. Durch die Ultraschallenergie lässt sich die Zementfuge zwischen Wurzelkanalwand und Stift beziehungsweise Schraube aufbrechen (Abbildungen 5a bis d). Dadurch kann die metallische Obstruktion gelockert und entfernt werden. Nach der Entfernung des Stiftes beziehungsweise der Schraube sind die langen diamantierten Ultraschallaufsätze ebenfalls sehr gut dafür geeignet, Zementreste zwischen dem Stift oder der Schraube und dem Wurzelkanalfüllmaterial zu beseitigen.
Bei der Revisionsbehandlung stellt die Entfernung von abgebrochenen Wurzelkanalaufbereitungsinstrumenten eine besondere Herausforderung dar (Abbildungen 6a bis e). Hierbei dient das Operationsmikroskop in Kombination mit Ultraschallinstrumenten als Hilfsmittel bei der Freilegung des koronalen Endes frakturierter Instrumente und deren Entfernung. Weitere Hilfsmittel sind Schraubklemmen, mit denen das Fragment in einem Hohlrohr verkeilt werden kann, bevor es aus dem Kanal ent- fernt wird (wie Instrument Removal System, Dentsply DeTrey, Konstanz oder Masserann- Kit, Micro-Mega, Oberursel). Entsprechend aktueller Untersuchungsergebnisse beträgt die Erfolgsrate für die Entfernung eines frakturierten Instrumentes 87 Prozent [Suter et al., 2005]. Allerdings muss ein frakturiertes Instrument nicht zwingend entfernt werden [Spili et al., 2005]. Auch die Passage des Instrumentes führt meist zu einem Erfolg, wenn die apikal des Fragments gelegenen Kanalanteile fachgerecht chemo-mechanisch aufbereitet werden können.
Längsfrakturen
Wurzel-Längsfrakturen stellen nach wie vor ein großes Problem dar und fordern in der Regel die Extraktion des betreffenden Zahnes beziehungsweise der betreffenden Wurzel (Abbildungen 7a bis d). Sie sind häufig schwer zu diagnostizieren. Klinisch fällt oft ein lokalisierter, starker Abbau des Alveolarknochens auf. Häufig lassen sich Längsfrakturen erst nach chirurgischer Freilegung mit Sicherheit feststellen. Auch wenn ineinigen Untersuchungen gute Erfolge, zum Beispiel durch Reimplantation des betreffenden Zahnes nach Zusammenkleben der Fragmente durch Adhäsivtechniken, berichtet werden [Kawai & Masaka, 2002], gibt es heute noch keine praxisreife Therapiemöglichkeit.
Zusammenfassung
Nach einer genauen Diagnose und Therapieplanung können mit den heutigen Mitteln (zum Beispiel Nickel-Titan-Instrumente, Operationsmikroskop, Ultraschallinstrumente) viele Zähne erfolgreich behandelt werden, die in der Vergangenheit als nicht erhaltungswürdig eingestuft werden mussten. Stark gekrümmte, obliterierte und akzessorische Wurzelkanäle stellen zwar immer noch eine Herausforderung dar, lassen sich aber in der Regel mit den adäquaten Techniken und Mitteln behandeln – ebenso wie Zähne mit abgebrochenen Instrumenten. Die Grenzen der Endodontie und der Zahnerhaltung sind in jedem Fall bei Zähnen mit Wurzellängsfrakturen und fraglicher Restaurierbarkeit aufgrund geringer Resthartsubstanz zu ziehen.
Priv.-Doz. Dr. Jörg F. Schirrmeister
Abteilung für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie
Universitätsklinik für Zahn-, Mundund
Kieferheilkunde
Hugstetter Str. 55
79106 Freiburg