Zwei-Klassen-Medizin ist längst Realität
Das Stimmungsbild könnte kaum aktueller sein: Zwischen Ende August und Anfang September 2009 fragte das Allensbach- Institut insgesamt 527 Ärzte – zur Hälfte Niedergelassene und zur Hälfte Krankenhausärzte – nach ihrer Einschätzung der aktuellen Versorgungssituation und ihren Erwartungen an die gesundheitspolitische Entwicklung nach der Bundestagswahl am 27. September 2009.
Demnach sind rund zwei Drittel der Ärzte (69,6 Prozent der Niedergelassenen und 61,4 Prozent der Krankenhausärzte) der Ansicht, es gebe in Deutschland längst eine Zwei-Klassen-Medizin. Mehr als drei Viertel von ihnen gehen sogar davon aus, dass sich dieser Zustand in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird.
Auch lange Wartezeiten sind in der ärztlichen Versorgung mittlerweile gang und gäbe: 54,7 Prozent der Hausärzte, 68,3 Prozent der niedergelassenen Fachärzte und 40,6 Prozent der Klinikärzte bestätigten den Demoskopen, dass ihre Patienten lange auf Termine warten müssen. Für die Zukunft rechnen die meisten Ärzte mit einer weiteren Verschlechterung der Lage: Gerade die Krankenhausärzte gehen davon aus, dass sich Wartezeiten künftig eher verlängern werden. Dr. Wolf von Römer vom Bundesverband Deutscher Internisten (BDI) erklärte: „In vielen Kliniken gibt es offene Assistenzarztstellen, die in naher Zukunft vermutlich nicht besetzt werden können. Daher werden künftig auch die Kliniken ihre Patienten warten lassen müssen.“
Wartezeiten sind für Dr. Klaus Bittmann vom NAV-Virchow-Bund – gleichzeitig Sprecher der Allianz – ein „klassisches Indiz für die stille Rationierung, die längst Einzug in den Versorgungsalltag gehalten hat.“ Die Allianz erwartet daher von der Politik, sich endlich den drängenden Herausforderungen in der Gesundheitspolitik zu stellen: „Bislang wird der Bevölkerung vorgegaukelt, es gebe ein Rundum-Sorglos-Paket in der Gesundheitsversorgung“, warnte Bittmann. Dabei stünden diesem „unendlichen Leistungsversprechen“ nur begrenzte Finanzmittel gegenüber.
Klassisches Indiz für stille Rationierung
Die Verbände, die der 2006 gegründeten Allianz angehören (BDI, Bundesverband der Ärztegenossenschaften, Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände GFB, Hartmannbund, Medi Deutschland und NAV-Virchow-Bund) präsentierten daher die zentralen Forderungen ihrer „Wahlinitiative“: Sie fordern eine Abkehr von der staatsmedizinisch dirigistischen Gesundheitspolitik, den Verzicht auf überbordende Regulation und Bürokratie, den Erhalt der solidarischen Grundsicherung unter Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger, die Definition eines Katalogs solidarisch finanzierter Grundleistungen, den Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Patienten und Arzt sowie eine Abkehr von einer ausschließlich ökonomischen Betrachtungsweise des Gesundheitswesens.
Bittmann kritisierte insbesondere die Tendenz zu immer mehr zentraler staatlicher Einflussnahme auf die Gesundheitspolitik: „Eine zentralistische Politik, wie sie vom Bundesgesundheitsministerium – zum Teil auch mit Unterstützung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung – vorangetrieben wird, führt zwangsläufig zu Fehlsteuerung.“ Stattdessen bräuchten die Vertragspartner wieder mehr Gestaltungsfreiheit in der regionalen Versorgung. Der Allianz-Sprecher verwies in diesem Zusammenhang auf die Umfrageergebnisse, wonach nur rund 35 Prozent der befragten Ärzte die Abrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung (KV) als besten Weg sehen. 38,4 Prozent der niedergelassenen Ärzte (31 Prozent der Hausund 43,6 Prozent der Fachärzte) hingegen würden eine Direktabrechnung mit dem Patienten bevorzugen.
Schutzschild Selbstverwaltung
Bittmann sagte, dass deshalb nicht zwangsläufig die Mehrheit der Ärzte einen Ausstieg aus dem KV-System befürwortet. Die Selbstverwaltung in Deutschland sei ein hohes Gut und habe seit ihrer Gründung als Schutzschild gegen Krankenkassen und Staat funktioniert. „Aber die Politik zeigt seit einigen Jahren immer weniger Wertschätzung für die ärztliche Selbstverwaltung. Sogar die KVen sehen sich selbst mittlerweile mehr als Büttel des Staates denn als Interessenvertretung ihrer Mitglieder.“
Die Umfrage habe darüber hinaus gezeigt, dass die Akzeptanz des KV-Systems in den neuen Bundesländern deutlich höher ist als im Westen: So sehen im Osten 59,9 Prozent der Niedergelassenen das KV-System auch künftig als besten Weg, medizinische Leistungen für gesetzlich Versicherte abzurechnen. „Offenbar hat die KV in den neuen Bundesländern eine stärkere Position als im Westen. Das mag auch an der Tatsache liegen, dass es dort insgesamt weniger Privatversicherte als im Westen gibt“, interpretierte Bittmann die Zahlen.
Tatsächlich haben Vertragsärzte bislang nur in den westlichen Bundesländern mit „Korbmodellen“ Anläufe für einen generellen Systemausstieg unternommen – aktuell steht ein solcher Sammelkorb beispielsweise in Baden-Württemberg, wie Dr. Bärbel Grashoff von Medi Deutschland berichtete: „Wir sammeln Stimmen für den Systemausstieg.“ Der aktuelle Stand sei allerdings „noch nicht so gut“. Aber: „Wir lassen den Korb noch bis nach der Wahl offen.“
Antje SoleimanianFreie Journalistin und Autorin aus Hamburg