Wahlkampf im Krisenjahr
Martin Eberspächer, Leiter der Redaktion Wirtschaft und Soziales, Bayerischer Rundfunk
Vor der Bundestagswahl hat die große Koalition den betagten Stammwähler wiederentdeckt. Zwanzig Millionen Rentner haben vom Aufschwung kaum profitiert. In der Krise sind sie als Konsumenten willkommen und sollen nicht leiden. Zur Jahresmitte werden ihre Bezüge ein wenig steigen und die Abzüge für die Krankenkassen sinken. Vorsorglich garantiert die Große Koalition obendrein, dass die Ruhegelder in den Folgejahren nicht sinken. Ob die Beitragszahler das Versprechen einlösen können, bleibt ungewiss. Sozialminister Olaf Scholz geht es darum, eine Medienkampagne zur Verunsicherung der Ruheständler zu verhindern.
Für die wachsende Zahl der Kurzarbeiter ist das Einkommen kaum zwei Jahre sicher. Nach einer steilen Talfahrt der Wirtschaft werden die Unternehmen Kosten sparen und Gehälter kürzen. Betriebsbedingte Kündigungen sind nicht mehr tabu, Neueinstellungen selten. Deshalb sind bei den Sozialkassen höhere Ausgaben und magere Einnahmen zu erwarten.
Ob schwarz-gelb oder eine andere Koalition – jeder künftige Finanz-minister muss zum Jahreswechsel einen Kassensturz machen. Was heute versprochen wird, könnte ins Gegenteil umschlagen. So war es nach der letzten Wahl, als die Mehrwertsteuer nicht um ein oder zwei, sondern gleich drei Prozent erhöht wurde.
Das Finanzpolster der Bundesagentur für Arbeit wird im Winter aufgezehrt. Krankenkassen, die im ersten Quartal 2009 noch Überschüsse erwirtschaftet haben, brauchen 2010 womöglich Zusatzbeiträge. Ohne Darlehen des Finanzministers wäre der Gesundheitsfonds schon im ersten Jahr seines Bestehens pleite, sagt der FDP-Gesundheitspolitiker Daniel Bahr. Bis Ende 2010 ist im Fonds ein Defizit in zweistelliger Milliardenhöhe programmiert.
Ulla Schmidt fordert einen Steuerzuschuss von 25 Milliarden Euro. Doch kann die nächste Regierung alles wieder in Frage stellen.
In den nächsten Monaten werden Rechnungen für die Schönwetterpolitik der Großen Koalition fällig. Voreilig wurden Reformen der Agenda 2010 zurückgenommen. Die Gesundheitsreform sorgt für Verdruss, weil Kosten ohne erkennbaren Nutzen steigen. Gesundheits- und Sozialminister künftiger Regierungen, müssen Ausgaben kürzen.
Das Dilemma der Politik: Mit klaren Aussagen zu den Folgen der Krise für das Sozialsystem lassen sich Wahlen nicht gewinnen. Das weiß vor allem Horst Seehofer. Sein Motto: Gerade in Krisenzeiten kommt es darauf an, eine gute Figur zu machen – im Bierzelt und im Fernsehen. Mit einigem Erfolg setzt der Bayerische Ministerpräsident auf junge Senkrechtstarter. Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und der Bayerische Gesundheitsminister Markus Söder gelten nach kurzer Amtszeit als große Hoffnungsträger. Söder hat sich als scharfer Kritiker des Gesundheitsfonds profiliert, den sein Parteivorsitzender Seehofer mit den Koalitionspartnern in Berlin ausgehandelt hat. Wenn Söder fordert „Therapie statt Bürokratie“ und „Freiberuflichkeit statt Staatsmedizin“, dann trifft er den richtigen Ton ohne sich in der Sache festzulegen.
Bayerns Fachärzte, die große Einkommensverluste nach der Honorarreform befürchten, haben den Eindruck, dass endlich einer auf ihrer Seite steht. Andere Gesundheitspolitiker, die von aufgebrachten Medizinern ausgepfiffen wurden, wundern sich, worauf Söders Erfolg als „Ärzteversteher“ beruht.
Eines hat Parteichef Seehofer jedenfalls richtig erkannt. Beim Wahlkampf in den Medien zählen nicht allein Argumente und Parteiprogramme. Entscheidend ist der aktive Auftritt, wie ihn Edmund Stoibers ehemaliger Medienberater Michael Spreng fordert. Ergraute Politiker, die in ihren Anzügen schlafen, hätten keine Chance – meint der Kommunikationsprofi.
Über Sach- und Fachfragen wird sowieso erst nach der Wahl entschieden. Im Zweifel pragmatisch, je nach Situation und Koalition.
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