Über Sinn und Unsinn der Psychotherapie

Farbige Grenzgänger

Auf dem Hauptstadtkongress Gesundheit am 5. Mai 2010 hinterfragte der Psychiater und Theologe Dr. Manfred Lütz den Umgang mit vermeintlich psychisch Kranken in unserer Gesellschaft.

Schonungslos analysierte Lütz den Umgang mit Gesundheit und Krankheit in unserer Gesellschaft und bot den Zuhörern gleichzeitig eine augenzwinkernde Einführung in die Seelenkunde und die Typisierung menschlicher Anomalien. Ärzte und insbesondere Psychiater sollten sich nicht so wichtig nehmen, mahnte Lütz: „Wir wissen ja, dass ein Gesunder jemand ist, der lediglich nicht ausreichend gründlich untersucht wurde.“

Doch nicht nur die Medizinerzunft sei geradezu besessen von dem Wunsch, jegliche Abweichung von der gesunden Norm zu therapieren: „Der Gesundheits- und Fitnesswahn durchzieht mittlerweile unsere gesamte Gesellschaft. Viele Leute verbringen ihr gesamtes Leben mit der Prävention von Krankheit, nur um dann gesund zu sterben“.

Auch die Haltung vieler Menschen zum Alter und zu seinen unvermeidlichen Begleiterscheinungen bereitet dem Theologen und Psychiater Unbehagen. „Ein erfolgreicher Manager in den besten Jahren geht zur Arbeit, bewegt und erreicht viel, doch er vergisst, dass er zu Hause eine Frau und Kinder hat, die ihn brauchen. Das finden wir normal. Einem dementen alten Menschen hingegen, der sich um nichts mehr kümmert, weil er alles vergisst, bringen wir kaum Respekt entgegen. Dabei ist das einzige, das er noch weiß, dass er eine Frau und Kinder hat, die ihn brauchen.“ Genau diese gesellschaftliche Haltung sei es, die in älteren und hilfebedürftigen Menschen den Wunsch wecke, niemandem zur Last zu fallen. „Dabei ist das ein äußerst asozialer Wunsch. Der Mensch ist ein soziales Wesen und als solches immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich doch gerade an ihrem Umgang mit den Alten, den Schwachen und den Kranken“, kritisierte Lütz. Er plädierte für einen gelassenen und offenen Umgang mit dem Alter, mit Krankheit und mit den verschiedenen Facetten des Lebens: „Nicht alles Außergewöhnliche ist therapiebedürftig, und nicht jede Lebenskrise ist gleich eine psychische Störung, auch wenn Psychiater uns das gern einreden“, meinte Lütz und witzelte: „Sie lächeln so, was verdrängen Sie?“

Das wirkliche Problem sind die Normalen

Es seien vielmehr gerade die Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die unser Zusammenleben bereicherten: rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker. Alles harmlose Verrückte im Vergleich zu den wirklich gefährlichen Normopathen: den Kriegshetzern, Terroristen, Mördern, Wirt schaftskriminellen, eiskalten Buchhaltertypen und schamlosen Egomanen, auf die Lütz seine These stützt: „Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!“

Der Autor zitierte aus seinem Buch: „Oft freilich sind die Schleier in einer normierten Gesellschaft so dicht, dass man keine Farben mehr erkennen kann. Dann sind es nur noch die außergewöhnlichen Menschen, die uns an das erinnern, was eigentlich hinter all den Menschen wirklich steckt. Nicht ‚krank’ ist also der Gegensatz von ‚normal’, sondern vielmehr ‚außergewöhnlich’. Und von den Außergewöhnlichen sind einige behandelbar krank und andere dauerhaft hilfebedürftig behindert, die übrigen Außergewöhnlichen aber sind die farbigen Grenzgänger unserer Gesellschaften.“

Antje SoleimanianFreie Journalistin und Autorin aus Hamburgantje@soleimanian.de

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