Roter Faden der Geschichte
Wer auf die Regierung allein vertraut, hat auf Sand gebaut“ – diese Aussage kann sicherlich jeder Zahnarzt heute voll und ganz unterschreiben. Formuliert worden ist der Satz allerdings schon vor 100 Jahren, nämlich in der ersten zm-Ausgabe vom 1. Juli 1910
Es war eine wilde Zeit damals, in der der Zahnarzt Hans-Christian Greve aus München sein erstes Editorial zu Papier brachte. Der Wirtschaftliche Verband Deutscher Zahnärzte war gerade gegründet (mehr dazu ab Seite 34), mit „einem halben Tausend Mitglieder“, einem jährlichen Beitrag von zehn Mark und einer Aufnahmegebühr von fünf Mark. Die Gründungsversammlung fand am 6. Mai 1910 in Würzburg statt, Greve war frisch gewählter Vorsitzender und die Versammlung beschäftigte sich zunächst mit sich selbst – vor allem und auf das Heftigste mit Satzungsfragen, von vielen polemischen kritischen Stimmen aus der Kollegenschaft begleitet.
Ein Blick in die „Geschichte des Deutschen Zahnärzte-Standes“ von Kurt Maretzky und Robert Venter (Köln, 1974) verdeutlicht, dass Aufbau und Organisation des neuen Verbands eher schleppend verliefen, bis echte Arbeit geleistet werden konnte. Nach rund zwei Monaten gab es immerhin das neue offizielle Verbandsorgan, die „Zahn-Aerztlichen Mitteilungen – nebst Anzeiger“.
Die Zeitschrift rief die Kollegen zum Beitritt auf, „damit in unserem wirtschaftlichen Kampfe immer größere Erfolge ermöglicht werden, die in finanzieller Unterstützung und einmütigem Zusammenschluss gegen andere Gegner die feste Basis finden“. Der Gedanke der Einigkeit des Berufsstandes, um politisch stark zu sein, bewegte also die Kollegenschaft bereits vor hundert Jahren. Ebenso findet sich hier ein Grundsatz, der zu den wichtigsten Pfeilern auch des heutigen Berufsverständnisses gehört – die Selbstverantwortung: „Organisation auf dem Prinzip der Selbsthilfe kann auch unser Stand nicht mehr entbehren.“
Klima war überreif
Die Gründung des (zunächst rein wirtschaftlich ausgerichteten) Verbands fiel in ein politisches Klima, in dem ein Zusammenschluss des akademischen Berufsstands als Pendant zur Konkurrenz der Dentisten mehr als überreif war. Es galt, sich als Zahnärzteschaft zwischen den Kassen, der Regierung und weiteren Gesundheitsberufen zu positionieren – Konfliktfelder also, die bis in die heutige Zeit fortbestehen.
Konkreten Anlass bot der zm-Berichterstattung zufolge der Entwurf der Reichsversicherungsordnung (RVO): Dort war vorgesehen, dass ärztliche Behandlungen bei Zahnkrankheiten auch [!] durch Zahnärzte erfolgen sollten. Bei Zahnkrankheiten – mit Ausschluss von Mund- und Kieferkrankheiten – könne die Behandlung außer durch Zahnärzte mit Zustimmung des Versicherten auch durch Zahntechniker erfolgen. Die oberste Verwaltungsbehörde könne bestimmen, inwieweit auch sonst Zahntechniker bei Zahnkrankheiten selbstständige Hilfe leisten können.
Die Zahnärzte liefen gegen solche Bestrebungen natürlich Sturm, hatten aber, wie wir heute wissen, schlechte Karten, denn die Dentisten besaßen bei den Krankenkassen und in der Politik eine viel stärkere Lobby. Hinzu kam, dass es damals noch zu wenig akademisch gebildete Zahnärzte gab, so dass die Flächenversorgung schon rein quantitativ gesehen nicht durch diese allein bewerkstelligt werden konnte. Was die Kollegenschaft – auch aus heutiger Sicht – verständlicherweise auf die Barrikaden brachte, war die Verwässerung der ureigenen ärztlichen Tätigkeit der Heilkunde durch nicht dafür ausgebildetes Personal, ganz zu schweigen vom Aufwand der Ausbildung, die in keinem Verhältnis zur späteren Bezahlung stand. Der Verbandsvorsitzende appellierte mit eindringlichen Worten an das Solidargefühl seiner Kollegenschaft: „Von Feinden rings umgeben, brauchen wir zunächst einen Rückhalt für die momentanen Unternehmungen. Diesen bildet zunächst der Stand selbst. Aber geschlossen muss er da stehen.“
Anfeindungen, Statutenstreits und kollegiale Kleinkriege erschwerten die Gründungsphase der neuen Vereinigung. Greve gab sich vehement kämpferisch und wehrte sich gegen verbandsinterne Querelen: „In der jetzigen wirtschaftlichen Lage halte ich mich nicht für berechtigt, die kostbare Zeit, die ich jetzt für den Verband brauche, mit mehr oder minder persönlichen Polemiken auszufüllen. Ich für meine Person möchte nicht in die Schwächen vieler Deutschen verfallen, die über Parteipolitik und selbstsüchtige Absichten über Statuten und Paragraphen das Endziel vergessen.“
Hohe Fachlichkeit
Die Situation für die Zahnärzte war aufgrund der politischen Lage um den RVO-Entwurf zugespitzt, wie die zm illustrieren: „Der Stand der Deutschen Zahnärzte soll durch die §§ 135 und 136 der Reichsversicherungs-Ordnung von Gesetzes wegen ausdrücklich der rücksichtslosen Konkurrenz von Nichtapprobierten (Zahntechnikern) preisgegeben und ruiniert werden!“ Hans-Christian Greve wehrte sich gegen diese geplante Demontage und wies darauf hin, dass die Regierung doch erst vor rund einem halben Jahr selbst die Bedingungen für das Studium der Zahnheilkunde verschärft habe, in dem sie für die Ausübung des zahnärztlichen Berufs von den Zahnärzten Abitur, sieben Semester Studium und ein Staatsexamen verlangte, während die Zahntechniker doch nur Volksschulbildung und im günstigsten Falle eine dreijährige Lehrzeit in der Zahntechnik durchmachen müssten. Dann führt er die Fachlichkeit des Berufsstands an – ein Argument, das damals wie heute noch gültig ist: „Auf die Zahnheilkunde kommt es aber bei der Krankenversicherung doch gerade an; denn die Gebisse wurden nur selten von den Kassen bewilligt, im übrigen und [sic!] ja die Zahnärzte auch für das Gebiet der Zahntechnik approbiert!“
Auch aus der Sicht von 2010 ist nachvollziehbar, was Greve damals mehr als verbittert über die Regierungspläne konstatierte: „Es wird also, wie bisher, in der Hand der Vorstände und zur Hauptsache der Kassenführer liegen, wer die zahnärztliche Behandlung erhält.“
Früh taucht in der Verbandsdiskussion von damals auch der Gedanke der Prävention im politischen Diskurs auf: „[...] es wird eine Zahnreisserei, oder Zuschmiererei der kariösen Zähne stattfinden, dass man die armen Kassenpatienten bedauern muss, dass sie auf diese Weise der Segnungen der Fortschritte der konservierenden Zahnheilkunde beraubt werden.“
Ebenso finden soziale Aspekte hier ihren Niederschlag: „Und die arbeitende Bevölkerung hat ihre Zähne noch viel nötiger, als die besser situierten. Ihre Zeit zur Mahlzeit ist beschränkt, und sie können sich nicht je nach ihren Mundverhältnissen besondere Speisen bereiten.“
Großen Ärger bereiteten den Zahnärzten damals schon die Knebelung durch Verträge: „[...] die Regierung hat ja selbst die Preise für die Kassenbehandlung festgesetzt, und die Zahnärzte sind bereit gewesen, auf Grund eines Vertrages freiwillig sich mit viel geringeren Sätzen zu bescheiden und würden es auch in Zukunft sein.“ Die „Zahnärztlichen Mitteilungen“ zitieren eine damalige Stellungnahme der Ärzteschaft, in der es kritisch über die oberste Verwaltungsbehörde heißt: „[...] augenblickliche Interessen des Beutels werden dort oft mit bleibenden Interessen des Volkswohles verwechselt.“ Die Ärzte zeigten sich als kollegiale Verbündete und formulierten den auch aus heutiger Sicht immer noch aktuellen Satz: „[...] an den Früchten wird der Gesetzgeber das Mass von Erbitterung erkennen, das er in der Seele des Deutschen Arztes häuft, der um sein bischen Freiheit ringt.“