Medizinische Diagnostik- und Therapiemethoden im Vergleich

Traumatologie damals und heute

234271-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin

Ein 52-jähriger, männlicher Patient, bei dem nebenbefundlich ein Alport-Syndrom (hereditäre, chronische Nephritis) sowie ein Vorhofflimmern bekannt waren, wurde mit Platzwunde am Kinn und ausgeprägter Schmerzsymptomatik bei Zustand nach häuslichem Sturz vorstellig. Dabei konnte ein Zusammenhang zu seiner kardialen Vorerkrankung relativ sicher ausgeschlossen werden. Es bestanden Druckdolenzen median am Unterkiefer sowie im Bereich des rechten Kiefergelenks. Bei enoraler Untersuchung zeigte sich im anterioren Mundboden ein Hämatom, die Zahnreihe war unter Spaltbildung zwischen den Zähnen 31 und 32 aufbiegbar, und sturzbedingt waren multiple Zähne verloren gegangen beziehungsweise frakturiert.

Die radiologische Untersuchung mittels digitaler Volumentomographie (3-D-Exam) bestätigte die Verdachtsdiagnose einer paramedianen Unterkieferkorpusfraktur mit Köpfchenfraktur des rechten Kiefergelenks (Abbildungen 1 und 2).

Therapeutisch wurde die paramediane Fraktur osteosynthetisch mittels Anbringung zweier Miniplatten versorgt, und die wenig dislozierte hohe Collumfraktur über Insertion von insgesamt vier Corticalisschrauben, jeweils zwei in Ober- und Unterkiefer und intermaxillärer Fixierung für vier Wochen mit straffen Gummis ruhig gestellt (Abbildung 3).

Ein halbes Jahr später wurde das eingebrachte Osteosynthesematerial entfernt. Zu diesem Zeitpunkt klagte der Patient über keine Beschwerden. Die Mundöffnung war uneingeschränkt bei einwandfreier Okklusion möglich.

Dieser Fall vor 100 Jahren

Was hätte in einem potentiellen Fallbericht in der ersten zm vor 100 Jahren zur Versorgung eines solchen Patienten gestanden?

In dem 1909 erschienenen Lehrbuch „Handbuch der Zahnheilkunde“ von Julius Scheff wird beschrieben, dass Frakturen des Unterkiefers insgesamt relativ selten waren [1]. Ursachen für Unterkieferfrakturen waren hauptsächlich Schläge, Schussverletzungen (Abbildung 4), Stürze oder Hufschläge, aber auch pathologische Frakturen im Rahmen der Phosphornekrose [1,2], die durch die Bisphosphonat-assoziierte Osteonekrose der Kiefer wieder bekannt geworden ist. Die Brüche wurden vornehmlich in der Eckzahnregion oder im Bereich des ersten Molaren diagnostiziert, nur ausnahmsweise in der Mittellinie oder im Bereich des aufsteigenden Unterkieferastes, selten im Bereich der Colla [2,3]. Der typische Frakturverlauf wurde schon damals als von crestal anterior nach basal distal aufgrund des weniger massiven Unterkiefers in den distalen Anteilen (Abbildung 5) erkannt [1]. Die Diagnose wurde in der Regel klinisch aufgrund von durch die Gingiva tretenden, palpierbaren Bruchflächen, durch Krepitationen oder durch die zum Teil typischen Verschiebungen der Frakturelemente durch Zug der an den Elementen ansetzenden Muskelgruppen gestellt. Typische subjektive Beschwerden, wie der fehlerhafte Zahnschluss, Schmerzen beim Kauen und Schlucken, Schwellungen und die heftige Salivation vereinfachten die Diagnose. Nur im Zweifelsfall wurde eine radiologische Untersuchung (Abbildung 6) empfohlen [1].

„Ist die Fraktur nur eine einfache, das heißt, ist nur der Knochen gebrochen, sind aber die darüber liegenden Weichteile unversehrt, so ist die Prognose eine günstige“ [2]. „[…] eine Infektion des Knochens oder gar eine davon ausgehende allgemeine Sepsis [ist] unvergleichlich seltener als bei anderen offenen Knochenbrüchen. Eine infektiöse Entzündung der Weichteile in der Umgebung der Wunde ist zwar regelmäßig vorhanden, verläuft aber meist so lokalisiert, daß sie keine Bedeutung erlangt. Nach alter Erfahrung, für welche bisher noch keine sichere Erklärung gegeben werden konnte, haben eben alle Wunden im Mund eine merkwürdige Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen“ [1]. „Liegt aber eine komplizierte Fraktur vor, so liegt die Sache bedeutend ungünstiger. Die stets massenhaft in der Mundhöhle vorhande-nen Spaltpilze dringen in die zerrissenen Gewebspartien ein und es kommt unter Umständen zu einer septischen Entzündung des Knochenmarks, die direkt lebensgefährlich werden kann“ [2].

Aus diesem Grund wurden schon damals antiseptische Mundspüllösungen eingesetzt. Die Ernährung wurde in den ersten Wochen zur Minimierung der auf den Unterkiefer wirkenden Kaukräfte auf flüssige Kost umgestellt und mittels eines Glasrohrs verabreicht, so dass die reponierten Knochenfragmente sich nicht mehr verschieben konnten.

Bei leicht verschobenen Frakturen erfolgte die Therapie mittels eines Kinntuches (Capistrum), das man um das Kinn legte und okzipital verknotete. Alternativ wurde zum Beispiel eine Bandage nach Bryant angelegt (Abbildung 7). Bei komplizierteren Brüchen wurden den Patienten nach Reposition der Knochenfragmente aus Guttapercha bestehende Schienen enoral angefertigt, die nach Ausarbeitung mittels Klammern an den Restzähnen fixiert wurden [2] oder eine am Modell erstellte Kautschukschiene eingegliedert [4]. Des Weiteren kamen Schienen aus Gold- oder Silberdraht zum Einsatz, die vestibulär und oral an den Zähnen entlanggeführt wurden und so die Fragmente stützten (Abbildung 8) [2].

Weitere zum Teil ältere Methodiken waren Kombination andersartiger Verbände, sowie extraorale und enorale Schienen [5] bestehend aus Korkstücken, Horn und/oder Metall mit oder ohne Fixierung des Unterkiefers gegen den Oberkiefer (Abbildung 9). Hierbei waren Ulcera durch die extraoralen Anteile der Schienen häufig beobachtete Komplikationen, so dass sich diese Therapieform langfristig nicht durchsetzte [1,4,6].

Neben dieser konservativen Form der Frakturversorgung entwickelte sich die chirurgische Versorgung durch Drahtnähte (Abbildung 10), die Anlage eines Fixateur externe und schließlich eine osteosynthetische Versorgung, vergleichbar mit der heute üblichen Plattenosteosynthese. Diese zunächst an Extremitätenfrakturen angewandte Technik (Carl Hansmann, 1852–1917) wurde erstmalig im Ersten Weltkrieg bei der Versorgung einer nicht abheilenden Fraktur der Unterkieferfront mittels aus einem gespendetem Trauring hergestellten Goldband und einer Goldschraube angewandt [4]. Aus diesen Anfängen heraus entwickelten sich die heute bekannten Plattensysteme. Durch den Einsatz von Antibiotika sank die Komplikationsrate deutlich, so dass die Frakturversorgung heutzutage in der Regel keine Probleme mehr bereitet.

Die Verletzungen des anfangs vorgestellten Patienten waren vor 100 Jahren ein schwerwiegendes Krankheitsbild, das nicht leicht zu versorgen war. An diesem Beispiel wird die Entwicklung, die die Zahnmedizin und die Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie in den letzten 100 Jahren genommen hat, nochmals deutlich. Dem interessierten Leser kann als weiterführende Literatur der Artikel: „Entwicklung der modernen Osteosynthese“ von H. G. Luhr [7] und das Buch „Die Geschichte der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“ von Walter Hoffmann-Axthelm empfohlen werden [4].

Dr. Dr. Christian WalterUniv.-Prof. Dr. Dr. Wilfried WagnerKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- undGesichtschirurgie – plastische Operationen der Universitätsmedizin der JohannesGutenberg-Universität MainzAugustusplatz 255131 Mainzwalter@mkg.klinik.uni-mainz.de

Univ.-Prof. Dr. Klaus-Dietrich FischerInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität MainzAm Pulverturm 1355131 Mainz

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