Die Balance zwischen Unter- und Überversorgung
1. Kasuistik
Eine 59-jährige Patientin stellte sich wegen zweier Lücken im Unterkieferseitenzahn- bereich beim Verfasser dieser Kasuistik zur Untersuchung und Beratung vor.
1. Anamnese und Ärztliches Gespräch
1.1 Soziale Anamnese
Die Patientin ist Hausfrau. Sie ist verheiratet und hat erwachsene Kinder.
1.2 Familienanamnese
Familiäre Häufungen von Zahnerkrankungen, zum Beispiel genetisch bedingte Strukturschäden von Zähnen oder sonstige Gebissanomalien, sind nicht bekannt.
1.3 Allgemeinmedizinische Anamnese
Die Patientin nimmt wegen Hypertonie regelmäßig Medikamente ein. Ansonsten bestehen keine akuten oder chronischen Allgemeinerkrankungen.
1.4 Spezielle zahnärztliche Anamnese / Vorgeschichte
Der Patientin wurden im Kindesalter die Zähne 36 und 46 extrahiert. An die genauen Gründe kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie erhielt im Lauf ihres Lebens diverse zahnmedizinische Eingriffe endodontischer, parodontaler und restaurativer Art, die jeweils ohne nennenswerte Komplikationen verliefen. Die Gebiss-Situation erscheint seit Jahren stabil.
1.5 Spezielle Schmerzanamnese
Die Patientin ist schmerzfrei.
1.6 Präventionsanamnese
Die Patientin reinigt ihre Zähne zwei- bis dreimal täglich mit einer Handzahnbürste und fluoridhaltiger Zahncreme. Zur Zahnzwischenraumreinigung verwendet sie Zahnseide und individuell ausgesuchte Interdentalraumbürsten unterschiedlicher Größe. Zum Kochen nutzt sie jodiertes und fluoridiertes Speisesalz. Hinweise auf zahnschädigende Ernährungsgewohnheiten liegen nicht vor. Die Patientin ist Nichtraucherin.
1.7 Ergebnisse des Ärztlichen Gesprächs, Anliegen der Patientin, besondere Erwartungen
Es handelt sich um eine gesundheitsbewusste und kooperative Patientin.
Sie wünscht eine Beratung wegen ihrer beiden Lücken im Unterkiefermolarenbereich.
Die Patientin gibt an, bereits mehrere Konsultationen bei unterschiedlichen Zahn- ärzten eingeholt zu haben. Dabei seien stark differierende Therapievorschläge abgegeben worden, wodurch sie „hin- und hergerissen“ sei.
Auf der einen Seite bestehen keine ästhe- tischen oder kaufunktionellen Beeinträchtigungen. Andererseits möchte sie wichtige, zahnmedizinisch eventuell notwendige Eingriffe nicht versäumen. Sie gibt an, mehrfach gehört und gelesen zu haben, dass man Zahnlücken dringend rechtzeitig schließen müsse, „bevor es zu spät“ sei. Falls also eine medizinische Notwendigkeit bestehe, wäre sie fähig und bereit, auch sehr kostspielige Versorgungen prothetischer und/oder implantologischer Art zu bezahlen. Am Geld solle eine für die Erhaltung der Mundgesundheit erforderliche Behandlung nicht scheitern.
2. Ausgangsbefunde
2.1 Extraorale Befunde
Es ließen sich keine pathologischen extra-oralen Befunde erheben.
2.2 Intraorale Befunde
2.2.1 Allgemeine intraorale Befunde
Die Schleimhäute von Wangen, Zunge und Rachen stellten sich bei guter Befeuchtung unauffällig dar. Auch sonst fanden sich keine Anhaltspunkte für krankhafte Ver- änderungen.
2.2.2 Zahnstatus
Es lag ein vollständiges Gebiss mit Ausnahme der fehlenden Zähne 18, 36 und 46 vor.
2.2.3 Situation der Zahnhartsubstanzen
Das Gebiss zeigte keine kariösen Veränderungen.
An einzelnen Zähnen fanden sich altersentsprechende Zeichen von Erosionen, Abrasionen und Attritionen. Das Gebiss war frei von traumatisch bedingten Schäden, Form- und Strukturanomalien.
2.2.4 Befunde zur konservierend-restau-rativen und zur prothetisch-restaurativen Situation
Das Gebiss wies an den Zähnen 17, 16, 15, 14, 25, 27, 38, 37, 35, 45, 47 und 48 direkte zahnärztliche Restaurationen (aus Amalgam oder Komposit) auf. Der Zahn 26 war überkront. Die Restaurationen zeigten keine Mängel, die eine baldige Intervention nahegelegt hätten.
2.2.5 Befunde zur endodontischen Situation
Alle Zähne (mit Ausnahme des endodontisch behandelten Zahnes 35) reagierten im Kältetest (Kohlensäure-Schnee) positiv.
Es fanden sich keine Farbveränderungen, Lockerungen oder Perkussionsempfindlichkeiten, die auf eine endodontische Erkrankung hätten hindeuten können. Auch die Weichteile waren frei von Rötungen, Schwellungen oder Fistelbildungen.
2.2.6 Befunde zur parodontalen Situation
Die parodontale Untersuchung ergab Sondierungstiefen zwischen 1 und 3 mm (kein Bluten nach Sondieren). Die Zähne wiesen keine erhöhten Lockerungsgrade auf.
An den Zähnen 16 und 26 lagen (jeweils von bukkal gemessen) Furkationen vom Grad II vor, die vor vielen Jahren parodon-tologisch erfolgreich behandelt worden waren und eine entzündungsfreie Situation zeigten. An einzelnen Zähnen lagen Gingivarezessionen vor, besonders an der disto-bukkalen Wurzel von Zahn 16. Insgesamt ergaben sich keine Hinweise auf aktuell vorliegende parodontale Erkrankungen, die einer Behandlung bedurft hätten.
2.2.7 Funktionsbefunde
Die klinische Funktionsuntersuchung blieb ohne pathologische Befunde. Die Unterkiefermolaren waren nach mesial gekippt (rechts stärker als links), so dass regio 036 noch eine Lücke von rund 7 mm und regio 046 von etwa 2 mm verblieb. Die Zähne 16 und 26 erschienen geringgradig elongiert, allerdings ohne erkennbare Störkontakte zu verursachen.
2.2.8 KFO-Befunde
Die Verzahnung der Patientin war links im Eckzahn- und Prämolarengebiet neutral bis gering distal, rechts bestand im Eckzahn- und Prämolarenbereich eine Distalverzahnung von etwas mehr als einer halben Prämolarenbreite. Es war im Unterkiefer eine dentale Mittellinienverschiebung von 1 bis 1,5 mm nach rechts erkennbar. An den Zähnen 17/48 lag ein Kreuzbiss vor.
2.3 Befunde zum Aussehen
Es bestanden weder subjektiv (seitens der Patientin) noch objektiv (seitens der Einschätzung des Zahnarztes) Beeinträchtigungen des Aussehens.
2.4 Röntgenbefunde
Im Orthopantomogramm der Patientin (Abbildung 1) fanden sich mit Ausnahme der Zahnkippungen und geringgradigen Elongationen keine Hinweise auf Veränderungen.
2.5 Allgemeinmedizinische Befunde / Verhaltensbefunde / Einschätzung der Kooperation / Compliance
Es lagen keine Anhaltspunkte vor, die eine allgemeinmedizinische Untersuchung nahegelegt hätten. Die zahnärztliche Befundung verlief ohne jegliche Komplikationen. Es ergaben sich keine Hinweise (wie etwa Würgereiz, reduzierte Mundöffnung oder Ähnliches), die auf eine eingeschränkte Behandelbarkeit hätten schließen lassen.
2.6 Foto- und Modelldokumentation
Der Ausgangszustand wurde fotografisch dokumentiert (Abbildungen 2 bis 5). Außerdem wurden Situationsmodelle hergestellt um eine gute Ausgangsdokumentation für die künftige Verlaufsbeobachtung zu er- halten (Abbildungen 6 und 7).
3. Diagnosestellung und vorläufige Prognose
3.1 Diagnose(n)
Folgende vorherrschenden Diagnosen wurden gestellt:
• Unversorgte Lücke regio 036
• Unversorgte Lücke regio 046
3.2 Risikoabschätzungen/ vorläufige prognostische Beurteilungen
Aufgrund der weitgehend stabil erschei-nenden Gebiss-Situation ergaben sich keine Hinweise auf hohe Gesundheitsrisiken durch die bestehenden Lücken. Offenbar hatte sich trotz der Zahnkippungen ein mechanisch-funktionelles und mikrobiologisch-ökologisches Gleichgewicht eingestellt, das von der Patientin sehr gut toleriert wurde. Im Vergleich zu einer acht Jahre zuvor hergestellten Röntgenübersichtsaufnahme zeigte das aktuelle Orthopantomogramm nur geringradige Änderungen in der Stellung der Zähne. Es gab keine Hinweise, die darauf hindeuteten, dass diese Änderungen vom stomatognathen System nicht toleriert würden. Die Prognose für den Erhalt der Gebissfunktion wurde wegen der guten Allgemeingesundheit einerseits und des hohen aktiven Mundgesundheitsverhaltens andererseits als günstig eingeschätzt.
4. Behandlung
4.1 Behandlungsplanung/Behandlungsziele
Erhalt der stabil erscheinenden Gebiss- Situation.
Behandlungsmittel
Regelmäßige Untersuchung der Patientin. Bei Bedarf unterstützende Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des aktiven Mund-gesundheitsverhaltens.
Behandlungsalternativen (mit Nutzen-Risiko- Abwägung) siehe unten.
4.2 Aufklärung, Beratung, weiterführendes Ärztliches Gespräch über die geplanten Maßnahmen
Der Patientin wurden verschiedene Behandlungsoptionen (siehe unten) unter Abwägung der Vor- und Nachteile ausführlich erläutert. Obwohl sie durch Vorgespräche mit anderen Zahnärzten eigentlich bereits in Richtung „Implantatversorgung“ orientiert war, stimmte sie dem Vorschlag einer abwartenden und nicht-invasiven Vorgehensweise zu.
5. Expertenbefragungen / Meinung von Zahnärzten
Am 4. April 2009 wurde die Patientin im Rahmen einer von der Akademie Praxis und Wissenschaft (APW) der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheil- kunde (DGZMK) in Berlin organisierten Veranstaltung zum Thema „Erhalten oder Implantieren“ vorgestellt. Die Fragen lauteten:
• Welchen Rat würden Sie der Patientin im Hinblick auf eine Versorgung der Lücken 036 und 046 geben?
• Wie würden Sie konkret vorgehen?
Sechs Experten der Fächer Endodontologie (R. Weiger), Parodontologie (B. Dannewitz), Implantologie (I: K.-L. Ackermann; II: G. Iglhaut; III: S. Schmidinger) sowie Prothetik (P. Rammelsberg) erläuterten ihre Therapiekonzepte, die in Heft 13/2009 der Zahn-ärztlichen Mitteilungen publiziert wurden (siehe Tabelle 1) [3].
Dies führte zu diversen Kommentaren in zwei Leserbriefen, die die Zahnärztlichen Mitteilungen in Heft 17/2009 veröffentlichten (siehe Tabelle 2) [1,2].
Am 17. Oktober 2009 wurde die Patientin anlässlich des Heidelberger APW-Kolloquiums zum Thema „Management von Einzelzahnlücken“ erneut vorgestellt. Dort trugen vier Experten der Fächer Prothetik (I: M. Walter; II: M. Kern), Kieferorthopädie (C. Lux) und Implantologie (G. Dhom) ihre Behandlungsvorschläge vor (siehe Tabelle 3).
6. Behandlungskosten
Fasst man die Vorschläge unter dem Gesichtspunkt der entstehenden Kosten zusammen, so rangieren die Angaben zwischen Extremwerten von unter 50 Euro (für Untersuchung und Beratung) und deutlich über 5 000 Euro (für kombiniert kieferorthopädische, implantologische und prothetische Eingriffe).
7. Nutzen-Risiko- Abwägung
Als unerwünschte Begleiterscheinungen beziehungsweise Risiken prothetischer Interventionen waren unter anderem der Verlust intakter Zahnhartsubstanzen bei der Prä- paration von Zähnen sowie endodontische und/oder parodontale Folgeschäden anzuführen. Als Risiken implantologischer Interventionen waren lokale und/oder syste- mische Komplikationen beziehungsweise Nebenwirkungen zu erwägen.
Als Nutzen für implantologische und/oder prothetische Interventionen, gegebenenfalls mit beziehungsweise ohne kieferorthopädische/r Vorbehandlung, ließ sich unter anderem
1) eine Erhöhung des Kaukomforts,
2) eine Verbesserung der Hygienefähigkeit,
3) eine Äquilibrierung der Okklusionsverhältnisse,
4) eine achsengerechtere Belastung durch Aufrichten der Molaren sowie
5) eine Vermeidung weiterer Zahnwanderungen anführen.
Alle fünf Gesichtpunkte bedürfen jedoch einer kritischen Hinterfragung:
zu 1: Kaukomfort
Dem potentiellen Nutzen einer Steigerung des Kauvermögens durch das Inserieren eines Implantats (zum Beispiel in regio 036) war entgegenzuhalten, dass die Patientin nicht unter einer kaufunktionellen Beeinträchtigung litt.
zu 2: Hygienefähigkeit
Da die Patientin bereits eine optimale Mundhygiene aufwies, mit der es ihr gelang, die parodontalen Strukturen weitgehend entzündungsfrei zu halten, hätte sie beispielsweise von einer Zahnverbreiterung mit der Schaffung eines besseren Wider- lagers für Interdentalraumbürsten (etwa in regio 046) nur wenig profitiert.
Bemerkenswert erscheint, dass etliche Experten rechts in regio 046 und den distal folgenden Zähnen 47 und 48, deren Position im Fall einer Parodontitis oder einer funktionellen Störung am ehesten eine Interven- tion gerechtfertigt hätte, von einer weiterführenden Therapie Abstand nahmen. Dagegen sprachen sie sich ausgerechnet links, bei den parodontalhygienisch wesentlich besser zugänglichen Molaren vielfach für einen Lückenschluss regio 036 (zum Beispiel mittels Implantat) aus.
zu 3: Okklusionsverhältnisse
Aufgrund des okklusalen Gleichgewichts-zustands und dem Fehlen pathologischer Befunde bei der klinischen Funktionsanalyse hätten Einschleifmaßnahmen oder Überkronungen zur Äquilibrierung der Kauebenen wenig zur Verbesserung der Mundgesundheit beitragen können.
zu 4: Aufrichten der Molaren
Das kieferorthopädische Aufrichten der Molaren zur Erzielung achsengerechterer Belastungen war zwar grundsätzlich in Erwägung zu ziehen, hätte sich jedoch im vorliegenden Fall als nicht unproblematisch dargestellt, da diese Aufrichtungen nicht mit einer starken Extrusion dieser Zähne einhergehen sollten, was einige Anforderungen an die anzuwendende kieferorthopädische Mechanik stellt.
zu 5: Zahnwanderungen
Zweifellos gab es Anzeichen für lange zurückliegende Zahnwanderungen, deren Fortschreiten für die Zukunft nicht aus- geschlossen werden konnte. Andererseits waren gravierende Veränderungen nicht zu erwarten.
Zu bedenken war auch, dass durch das mehr oder weniger willkürliche Eingreifen in den stabil erscheinenden Gebisszustand (zum Beispiel in Form implantatgestützten Zahnersatzes) myo- und kaufunktionelle Anpassungsvorgänge von Wangen- und Zungenmuskulatur notwendig geworden sowie möglicherweise auch neue Nischen für oralpathogene Keime entstanden wären. Letztlich war nicht hinreichend abzu- schätzen, ob eine invasive Therapie den Selbstreinigungsmechanismen und den seit Jahren etablierten individuellen Mundhygieneanstrengungen der Patientin förderlich oder abträglich sein könnte.
Auch das häufig vorgetragene Argument, frühzeitig zu implantieren („solange noch genügend Knochen da ist“) erschien angesichts des seit vielen Jahren bestehenden sehr guten Knochenangebots (siehe Abbildung 1) nicht plausibel.
7. Interpretation der Vorschläge
Fasst man die Äußerungen der Zahnärzte zusammen, so ergaben sich zum Teil deutlich kontroverse Einschätzungen zur Frage, wann ein prothetischer und/oder implantologischer Lückenschluss im Fall eines Zahnverlusts angezeigt ist. Auch bei der Frage, wie eine adäquate Patientenberatung vorzunehmen ist, gingen die Auffassungen stark auseinander. Denn während in dem hier vorgestellten Patientenfall auf der einen Seite für eine abwartende und defensive Haltung geworben wurde, plädierten an-dere Kollegen zum Teil für weitreichende und offensive Vorgehensweisen.
Auffällig war bei den Diskussionen, dass anstelle fachlicher Begründungen, die einen (zahn)medizinischen Nutzen hätten auf- zeigen können, häufig der subjektive „Patientenwunsch“ ins Feld geführt wurde. So wurde betont, dass letztlich der eigenverantwortlich handelnde, „mündige Patient“ über das einzuschlagende Vorgehen entscheiden müsse. Dass es jedoch viele Patienten gibt, die selbst gar nicht dazu in der Lage sind, den Nutzen und die Risiken zahnmedizinischer Eingriffe abzuschätzen (die gesundheitsökonomische Literatur spricht hier von „Informationsasymmetrie“, das heißt einem höheren Informationsgrad aufseiten des Arztes im Vergleich zum Patienten) und deshalb den Zahnarzt bitten, ihnen eine entsprechende Entscheidung abzunehmen, wurde teilweise negiert.
Es wurde deutlich, dass etliche Zahnärzte von einer medizinisch begründeten „Angebotsorientierung“ Abstand nehmen und im Sinne einer „Nachfrageorientierung“ die bekanntlich durchaus lenkbaren indi- viduellen Bedürfnisse, Wünsche und Vor-stellungen ihrer Patienten zum Maß ihrer Aufklärungs- und Beratungsarbeit machen (anbieterinduzierte Nachfrage).
Von einem Referenten wurde vorgeschlagen, im Fall der Zahlungswilligkeit der Patientin auch dann zu einer implantologischen Versorgung zu raten, wenn sie keine Probleme mit ihrem momentanen Gebisszustand hätte. Man könne derartige Interventionen auch damit begründen, dass diese eine „gute Investition für ihre künftige Gesundheit“ seien.
Dem ist entgegenzuhalten, dass bei einer unklaren Nutzen-Risiko-Bilanzierung auch eine adäquate Nutzen-Kosten-Analyse schwierig ist, abgesehen von der ärztlichen Forderung, das Prinzip des „nil nocere“ bei der Aufklärung und Beratung besonders zu würdigen.
In der kritischen Fallplanungsdiskussion wurde deutlich, dass für eine langfristige und vertrauensvolle Patientenbindung eigentlich eine sachgerechte Aufklärung anzustreben ist, die ökonomische Erwägungen zunächst im Hintergrund belässt. Andererseits könnte der finanzielle Druck, unter dem Praxen heute stehen, leicht dazu führen, von einer objektiven Patientenberatung abzurücken. Ein Kollege vertrat in der Diskussion die Ansicht, dass eine solche Patientin ein wirtschaftlicher „Volltreffer“ sei, um es einmal im Fußballjargon auszudrücken. Er sei überzeugt, dass allein schon deshalb in den meisten Zahnarztpraxen zu einem Lückenschluss geraten würde.
In der betriebswirtschaftlichen Fachsprache wird das zielgerichtete Beratungsgespräch mit dem Patienten unter dem Terminus „Nachfragesteuerung“ oft als sehr bedeutsam eingestuft. Folgt man den Empfehlungen einiger Marketingzeitschriften, so ist es die Aufgabe des gesamten zahnärztlichen Teams, gerade solche Patienten, die sich noch nicht entschieden haben, von der Notwendigkeit prothetischer und implantologischer Eingriffe zu überzeugen. Gefördert wird diese Entwicklung unter anderem durch die implantologische Fachliteratur, in der in aller Regel eine abwägende Haltung zur Indikationsstellung einer implantolo- gischen Versorgung vermisst wird. Die äußerst wichtigen Fragen des medizinischen Nutzens beziehungsweise der Nutzen- Risiko-Abwägung unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes werden vergleichsweise selten aufgegriffen.
Obwohl die hier vorgestellte Patientin bereit war, die Kosten einer umfangreichen implantologischen beziehungsweise prothetischen Intervention zu tragen, wurde ihr nach einer entsprechenden Nutzen-Risiko-Analyse angeraten, von entsprechenden Therapievorschlägen eher Abstand zu nehmen.
Im Hinblick auf die durch diverse Vorberatungen bereits eingetretene Verunsicherung („mir wurde aber doch von Zahnärzten mehrfach empfohlen, baldigst Implantate einsetzen zu lassen, solange noch Knochen da ist“), wurde ihr angeboten, von der Möglichkeit einer regelmäßigen Verlaufs-beobachtung Gebrauch zu machen.
Prof. Dr. Dr. Hans Jörg StaehlePoliklinik für Zahnerhaltungskunde der Mund-, Zahn- und Kieferklinik desUniversitätsklinikums HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 Heidelberg
hans-joerg.staehle@med.uni-heidelberg.de
Empfehlung: Situation belassen und beobachten,
Kommentar zu den Therapievorschlägen der Experten:
1. Welchen Beitrag könnte der „Endodontologe“ zum Thema
Niedergelassener
Lückenschluss beisteuern?
Zahnarzt in Köln
2. Wozu benötigt der „Parodontologe“ Situationsmodelle für eine
Situation, die seit mehr als 50 Jahren stabil ist?
3. „Implantologe I-III“ sowie „Prothetiker“: außer, dass sie auch noch
Chirurgen und Kieferorthopäden ins Boot holen: kein Kommentar
Empfehlung und Kommentar: Was sind das für Experten?
Niedergelassener Zahnarzt mit Tätig-keits-Schwerpunkt „Zahnersatz“ in Hildesheim
Ein Prothetiker, der gut ist und beschleifen kann, würde hier zwei Brücken anfertigen (35 bis 37, 45 bis 47). Alle klassischen Argumente für eine Brückenversorgung treffen zu (weitere Kippungen, Elon -gationen und so weiter). Ad Versorgung 36: postendodontische Ver-sorgung 35, mesiale Odontoplastik 37 (Einschubrichtung), massives Brücken zwischenglied. Ad Versorgung 46: Schwebebrückenglied,
Odonto plastik 47. Beide Seiten: Korrektur der Elongationen
Prothetiker I
Falls okklusal stabile Situation (was angenommen wird): Belassen und Beobachten. Falls keine stabile Situation beziehungsweise bei subjektivem Behandlungsbedarf: Lückenschluss rechts durch Zahn- verbreiterung, links durch Implantat
Prothetiker II
Falls Lücke nicht stört: Belassen und Beobachten (Index aus Luxabite zur Kontrolle von weiteren Zahnwanderungen). Falls Lücke stört und Patientin keine prothetische Versorgung wünscht: KFO-Therapie zur Aufrichtung der Zähne und Lückenschluss. Falls Lücke stört und Patientin prothetische Versorgung wünscht: Lückenschluss rechts durch Zahnverbreiterung, Lückenschluss links durch (1) Einzelzahn -implantat (nach minimaler lateraler Augmentation) oder (2) metall -keramische Hybridbrücke (Adhäsivanker an 37, Krone an 35)
Implantologe
Lückenschluss links (regio 036) durch Implantat Rechts (regio 046) Zustand belassen, keine Therapie
Kieferorthopäde
Falls Lücke nicht stört: Belassen und Beobachten (= Empfehlung im vorliegenden Fall). Falls Lücke stört und prothetische Behandlung nur eingeschränkt durchführbar: kieferorthopädische Molarenaufrichtung grundsätzlich denkbar, aber (teilweiser) Lückenschluss durch kiefer- orthopädische Maßnahmen nur rechts zu erzielen. Links kieferortho-pädische Aufrichtung gegebenenfalls als präprothetische Maßnahme, aber anspruchsvolle Mechanik sollte berücksichtigt werden, da Extru-sion der Molaren in ihrem distalen Anteil zu vermeiden ist. Eine ein-fache Aufrichtung durch Distalkippung der Molarenkronen ist kaum sinnvoll, da die Weisheitszähne (beziehungsweise 17/48) in Okklusion belassen werden sollten.
Prothetiker I
Falls okklusal stabile Situation (was angenommen wird): Belassen und Beobachten. Falls keine stabile Situation beziehungsweise bei subjektivem Behandlungsbedarf: Lückenschluss rechts durch Zahn- verbreiterung, links durch Implantat
Prothetiker II
Falls Lücke nicht stört: Belassen und Beobachten (Index aus Luxabite zur Kontrolle von weiteren Zahnwanderungen). Falls Lücke stört und Patientin keine prothetische Versorgung wünscht: KFO-Therapie zur Aufrichtung der Zähne und Lückenschluss. Falls Lücke stört und Patientin prothetische Versorgung wünscht: Lückenschluss rechts durch Zahnverbreiterung, Lückenschluss links durch (1) Einzelzahn -implantat (nach minimaler lateraler Augmentation) oder (2) metall -keramische Hybridbrücke (Adhäsivanker an 37, Krone an 35)
Implantologe
Lückenschluss links (regio 036) durch Implantat Rechts (regio 046) Zustand belassen, keine Therapie
Kieferorthopäde
Falls Lücke nicht stört: Belassen und Beobachten (= Empfehlung im vorliegenden Fall). Falls Lücke stört und prothetische Behandlung nur eingeschränkt durchführbar: kieferorthopädische Molarenaufrichtung grundsätzlich denkbar, aber (teilweiser) Lückenschluss durch kiefer- orthopädische Maßnahmen nur rechts zu erzielen. Links kieferortho-pädische Aufrichtung gegebenenfalls als präprothetische Maßnahme, aber anspruchsvolle Mechanik sollte berücksichtigt werden, da Extru-sion der Molaren in ihrem distalen Anteil zu vermeiden ist. Eine ein-fache Aufrichtung durch Distalkippung der Molarenkronen ist kaum sinnvoll, da die Weisheitszähne (beziehungsweise 17/48) in Okklusion belassen werden sollten.