Gespräche durch die Glastür
Wir zeigen, wie Integration geht, postet Dreiner, Fachzahnärztin für Kieferorthopädie, auf ihrem Facebook-Profil. Auch jetzt in ihrer nagelneuen Fachpraxis am Empfang in einem hellen, ebenerdigen, großzügig geschnittenen Foyer stehend, hat die zierliche, aber freundlich-resolut wirkende Frau sofort eine Antwort parat: „Mit wenig technischen Aufwand ist es möglich, behinderten Menschen die Möglichkeit auf einen vollwertigen Arbeitsplatz zu geben.“ Schnell entschloss sie sich, die Zahntechnikerin Dominika Belz einzustellen: „Die ist super. Die will ich haben“, hat sie nach einem Blick auf das Werkstück der Bewerberin gesagt. Dass Belz gehörlos ist, irritierte Dreiner nur für einen kurzen Moment. Letztendlich wollte sie die Zahntechnikerin unbedingt einstellen. Der Grund: Belz fertigt selbst komplizierteste Geräte. Etwa das funktionskieferorthopädische Gerät nach Fränkel oder das Pendulum. Ihre hörende Vorgängerin konnte das nicht.
Dreiner fördert die Zahntechnikerin, indem sie sie regelmäßig auf Fortbildungen schickt, zum Beispiel zum Thema Schnarchschienen.
Um auch das Team für die Welt der Gehörlosen zu sensiblisieren, reisten alle auf ein Kollegenseminar. Sie lernten, wie man sich verständigt und was die Mimik bedeutet. Die gelöste, beinahe familiär wirkende Atmosphäre in der Praxis spricht für das Engagement von Dreiner. Neben ihr steht Markus Engbrecht. Der großgewachsene Mann ist von Beruf Medizininformatiker und Befürworter von intelligenter Arbeitsteilung. Seine Philosophie: „Es gibt Arbeiten, die Maschinen machen sollten. Und es gibt andere Arbeiten, die sollten besser Menschen machen.“ Engbrecht hat ein ausgeklügeltes IT-System für die Praxis entworfen (siehe Info-Kasten Seite 111). Weil Dreiner nicht locker ließ, baute er ihr ein Chatsystem, damit alle Kollegen mühelos miteinander kommunizieren können. In jedem Behandlungszimmer steht nun ein Computer.
Engbrecht ist überzeugt, dass moderne Technik Handicaps wie Gehörlosigkeit oder Erblindung im Berufsleben so kompensieren kann, dass der Einzelne seine fachlichen Qualitäten voll ausleben kann. Gleichzeitig räumt er ein, dass die junge Kieferorthopädin sehr offen und unvoreingenommen an die Bewerberin herangetreten ist. „Das ist vielleicht auch der große Unterschied in der Praxis hier“, urteilt er.
Anders gesagt: Technik allein reicht offenbar nicht aus, um Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben zu schaffen. Auch die Bereitschaft der Arbeitgeber ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Integration.
Um den Praxisbetrieb nicht zu stören, gehen wir in das Untergeschoss der Praxis. Eine Küche, ein Archiv, die Personaltoilette, eine Umkleide, ein geräumiger Seminarraum. Und schließlich: der Server.
Auf den greift auch Manuela Kramer zu. Sie koordiniert die Terminplanung, Buchführung und pflegt das QM-System. In der Praxis ist sie so gut wie nie, denn sie arbeitet in ihrem Home Office in Grefrath bei Krefeld, etwa 190 Kilometer von Siegen entfernt. Dort stehen zwei große 24-Zoll-Bildschirme, die über eine entsprechende Darstellung die Buchstaben so zeigen, dass Kramer sie lesen kann. Briefe kann sie mit Hilfe des mobilen Lesegerätes erkennen. Sie nimmt alle eingehenden Anrufe für die Praxis an und hält die Behandlungstermine im verschlüsselten „virtuellen privaten Netzwerk“ (VPN) fest, das sie mit der Praxis verbindet – nur im Notfall ruft sie mal in Siegen an. Etwa, wenn es um die Terminierung einer ungewöhnlichen Behandlung geht und sie unsicher ist, wie viel Zeit dafür benötigt wird. Manchmal entstehen auch skurrile Situationen. Wenn sie zum Beispiel der Anruf einer Mutter erreicht, die Kramer bittet, zu schauen, ob ihr Sohn noch im Wartezimmer sitzt.
Telefonberatung vom Home Office hat sich als Arbeitsfeld für Menschen mit Sehstörung bewährt. Große Konzerne wie die Telekom haben im Bereich Auskunft ebenfalls Heimarbeitsplätze geschaffen.
Mehr Zeit für Patienten
Weil das Telefon in der Praxis in Siegen nicht mehr klingelt, ist es hier auffallend still. Das Team betrachtet die Ruhe als großen Gewinn. Der Spagat an der Anmeldung – Wen bedient man zuerst? Den Patienten am Telefon oder den Patienten, der vor einem steht? – ist Geschichte. „Da die Rezeption ausgelagert ist, kann man sich auch intensiver um die Patienten kümmern“, schildert Dreiner. Ihre Praxisphilophie: „Ich möchte, dass es hier sehr menschlich zugeht. Und dass sich die Helferinnen mehr Zeit für die Patienten nehmen können. Sie sollen auch mal fragen können, wie die letzte Arbeit in Mathe war. Wir wollen ein bisschen Nettigkeit reinbringen.“
Nett, vor allem aber selbstbewusst wirkt auch Zahntechnikerin Belz, die neben der Kieferorthopädin steht.
Eine extra für diesen Termin bestellte Dolmetscherin übersetzt. Bezahlt wird das vom zuständigen Integrationsamt. Wie alles, was auf Grund des Handicaps eine Zusatzausgabe für die Praxis darstellt. Ansprechpartner sind die Integrationsfachdienste (IFD) oder die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe.
Offen für Spracherwerb
„Ich war ganz positiv überrascht, dass anfangs von den Mitarbeiterinnen keine Bedenken wegen der Gebärdensprache vorgebracht wurden. Und dass die Bereitschaft bestanden hat, diese auch zu erlernen“ sagt Belz. Schritt für Schritt eignete sich das Team mit Belz’ Unterstützung eine Gebärde nach der anderen an. Etwa sechs Monate dauerte es vom Erlernen der Grundkenntnisse, bis sie die Sprache flüssig anwenden konnten. Einmal im Monat nimmt sich das Team Zeit, bestimmte Begriffe zu klären. Schließlich unterscheiden sich auch in der Gebärdensprache die Fachbegriffe von der „normalen“ Kommunikation. Es fügt sich gut, dass die Zahntechnikerin auch Gebärdensprachleiterin an der Volkshochschule in Kreuztal ist und dort Kurse in Gebärdensprache gibt. In der Praxis fühlt sie sich sichtlich wohl. „Hier ist es barrierefrei für mich. Ich fühle mich hier absolut gleichberechtigt.“
Für den Beruf prädestiniert
Belz erzählt, dass in Deutschland viele gehörlose Menschen in zahntechnischen Laboren angestellt sind. Sie sagt: „Ich denke, es ist wichtig, dass die Ärzte auf Bewerbungen, die von Hörgeschädigten kommen, neutral reagieren und sich die praktischen Leistungen der Bewerber ansehen.“ In vielen Köpfen wohne ein alt hergebrachtes Bild vom unselbstständigen Gehörlosen. Die Zahntechnikerin wünscht sich, dass die alten Denkstrukturen durch mehr Akzeptanz abgelöst werden. Sie kann sich auch gut vorstellen, in der Zukunft Zahnärzte oder andere Fachkollegen hier im Seminarraum der Praxis zu Workshops einzuladen, um etwa Fachbegriffe der Gebärdensprache zu vermitteln.
„Ich würde nicht sagen, dass die Behinderungen noch eine besondere Rolle spielen. Es ist so, dass sie komplett hier arbeitet und ich total froh bin, dass ich eine super qualifizierte Technikerin habe“, sagt Dreiner zum Abschluss.
Im Team hat sich die Wahrnehmung vollständig geändert. Es ist jetzt nicht mehr so, dass die Kollegen Gehörlosigkeit als eine Behinderung betrachten. Es ist schlicht eine andere Sprache. Mittlerweile benutzen alle Hörenden untereinander Gebärdensprache. Einerseits für die fachliche Kommunikation, andererseits aber auch, um ganz schnell mal durch die Glastür einen neuen Roman zu empfehlen. Die Patienten reagieren mit Interesse. Gerade Kinder können sofort einige Gebärden, auch wenn die Berührung mit Gehörlosen für sie oft ganz neu ist.
Schließlich hat die Praxis auch in puncto QM alle nötigen Formalitäten erfüllt. Welche das sind, beantwortet Silke Dreiner gern per Email.