Soziale Epidemien

Im Internet infiziert

Das Internet verbindet Menschen auf der ganzen Welt. In sozialen Netzwerken wie Facebook können User mit beliebig vielen Anderen diskutieren. Die Kehrseite: Es besteht die Gefahr, sich mit psychischen Krankheiten zu infizieren. Wissenschaftler sprechen vom Phänomen der "sozialen Ansteckung".

Das Internet kann grundsätzlich einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Teenagern haben. Denn es erleichtert ihnen, ihre soziale Isolation zu durchbrechen. Jugendliche seien hohem emotionalen Stress ausgesetzt, erklärt ein Forscherteam um Janis Whitlock, Jane Powers und John Eckenrode von der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York. Im Internet könnten sie ihre Sorgen loswerden, Zuspruch von Gleichaltrigen bekommen und sich auf der Suche nach ihrer Identität ausprobieren.

Doch in manchen Onlineforen tauschen sich (vor allem junge) Menschen ausschließlich über psychische Störungen wie Magersucht, den Zwang zur Selbstverletzung oder Selbstverstümmelung aus. Einander zu helfen, die Krankheit zu überwinden, ist dabei nicht das Ziel. Es geht vielmehr um die Bestätigung der Neigungen. Tipps, wie sich Gewichtsverlust oder Schnittwunden an Armen und Beinen möglichst geschickt vor den Eltern verbergen lassen, sind dabei an der Tagesordnung.

Zur Nachahmung ermutigt

Die Zahl solcher Internet-Gemeinschaften hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Beispiel Selbstverletzung: 1998 gab es in diesem Bereich nur eine Online-Community mit knapp 100 Mitgliedern. Vier Jahre später war die Zahl der Foren bereits auf 28 gestiegen, heute liegt sie bei circa 400, fanden die Psychologen um Whitlock her aus.

Schon 2006 beschäftigte sich das Forscherteam mit der Frage, welchen Einfluss das Internet auf Selbstverletzungen bei Jugendlichen hat. Für die Entwicklung von jungen Menschen sind drei Dinge zentral: der Aufbau freundschaftlicher Beziehungen, die Akzeptanz in der Gruppe und der zwischenmenschliche Austausch. Das Internet biete Teenagern, die sich ausgegrenzt fühlen, einen geschützten Raum, ohne Hemmungen über ihre Gedanken zu sprechen – auch darüber, sich selbst zu verletzen. Im wahren Leben würden sie das nicht so freimütig teilen, doch online fänden sie leicht und ohne Risiko Kontakt zu Gleichgesinnten. Diese geben ihnen unmittelbar die Bestätigung für ihre inneren Wünsche und unterstützen sie. Dagegen ist es abseits des Internets schwer, im kleineren Kreis der Freunde und Schulkameraden, jemanden mit der gleichen Tendenz zu finden.

In ihrer Studie zitieren die Psychologen Betroffene und ihre Motivation: "Meine größte Angst ist es, vergessen zu werden. Ein Lehrer, den ich letztes Jahr hatte, erinnert sich nicht mal mehr an meinen Namen. Das gibt mir das Gefühl, keiner erinnert sich an mich. Wie weiß ich, dass ich existiere? Ich weiß es, wenn ich mich ritze." Solche Negativbotschaften in Online-Foren üben eine schädliche Signalwirkung aus. Jugendliche, die mit Selbstverletzungen auf Stress und Sorgen reagieren und darüber im Internet berichten, würden leicht zu Vorbildern für andere, meinen die Wissenschaftler.

Das setzt unter Umständen einen gefährlichen Mechanismus in Gang: Es wird in den Foren als normal dargestellt, sich mit Rasierklingen zu schneiden oder mit Feuerzeugen Verbrennungen zuzufügen. Solche Äußerungen ermutigen gefährdete Jugendliche dazu, mitzumachen. Sie verlieren ihre Hemmungen und ahmen die scheinbar akzeptierte Reaktion auf Frustration und Unsicherheit nach. Auf der Suche nach Bestätigung in der Gruppe berichten sie wiederum von ihren Erfahrungen und können damit andere in ihrem Umfeld "anstecken".

Es ist Konsens unter Experten, dass in sozialen Gefügen – egal, ob Familie, Nachbarschaft, Schule, Arbeitsplatz oder Internet – Ansteckungs gefahr für psychische Krankheiten besteht. Was Menschen fühlen und wie sie sich verhalten, entscheiden sie nicht allein. Die Psyche unterliegt dem Einfluss des Sozialen. Erst vor wenigen Jahren hat die traditionelle Netzwerkforschung damit begonnen, die Dynamik von virtuellen Communitys zu untersuchen.

Im Tunnelblick gefangen

Das Internet erhöht die Gefahr einer Ansteckung mit psychischen Erkrankungen, da immer mehr Jugendliche durch das Surfen im Netz von selbstzerstörerischen Reaktionen auf Stress erfahren – von Magersucht über Ritzen bis hin zum Selbstmord. Aus Studien in Krankenhäusern und Jugenderziehungsanstalten ist bekannt, dass sich Selbstverletzungen und andere psychische Störungen wie Epidemien ausbreiten können.

Schon im Jahr 1974 berichtete der Soziologe David Phillips, dass mehr Menschen sich das Leben nehmen, wenn sie in den Medien von den Suiziden anderer hören oder lesen. Er belegte seine Theorie mit der Korrelation der Selbstmordrate in den Jahren 1947 bis 1968 mit der Suizid-Berichterstattung in der New York Times.

Ein weiteres Beispiel für die Ausbreitung sozialer Epidemien im Gesundheitsbereich sind Rückenschmerzen. Die Sozialmediziner Heiner Raspe und Angelika Hüppe von der Universität Lübeck konnten das anhand der Entwicklung in Deutschland zeigen. Sie analysierten die Gesundheitssurveys aus West- und Ostdeutschland. Ihre Forschungen ergaben, dass Ostdeutsche vor der Wiedervereinigung sehr selten über Rückenprobleme klagten. Zehn Jahre später hatte sich das nivelliert, sie lagen mit den Westdeutschen gleichauf. Das Internet als Plattform ohne geografische Grenzen kann die Fallzahlen „sozialer Ansteckung“ stark in die Höhe treiben, befürchten Wissenschaftler.

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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