Kraftstoff des Lebens
Blut ist fraglos ein „besonderer Saft“: In der Medizin retten Blutpräparate und Blutprodukte, Blutderivate und Blutanaloga jährlich Millionen Menschenleben, und die moderne Chirurgie wäre ohne Blutsubstitution kaum denkbar. Der USamerikanische Biologe und Wissenschaftsjournalist Douglas Starr glaubt in dem „natürlichen Rohstoff Blut“ darüber hinaus deutliche Parallelen zu Rohöl zu erkennen, die ihn veranlassen, beide Substanzen direkt zu vergleichen: „Blut zählt, als natürlicher Rohstoff betrachtet, mit Sicherheit zu den wertvollsten Flüssigkeiten der Welt. Ein Barrel Rohöl beispielsweise kostet heute etwa 13 Dollar. Die gleiche Menge Vollblut würde im ‚Rohzustand‘ etwa 20 000 Dollar bringen.“ Allerdings räumt Starr an gleicher Stelle ein, dass der Jahresumsatz bei Blut(produkten) kaum 18,5 Milliarden Dollar übersteige und damit derzeit noch deutlich hinter dem Wirtschaftsfaktor Rohöl zurückbleibe.
Wenngleich diese Parallelisierung von Blut und Erdöl irritiert und die tatsächliche Bedeutung des „Lebenssaftes“ Blutes zu Unrecht auf wirtschaftliche Aspekte reduziert, so zeigt sie doch ganz deutlich die Sonderstellung, die dem Blut zugesprochen wird: Blut steht – epochen- und kulturübergreifend – für den Urbeziehungsweise Kraftstoff des Lebens, Blut und Leben werden vielfach gar als synonyme Begrifflichkeiten verwendet.
Sitz der Seele
Die Geschichte der Medizin ist über weite Strecken eine Geschichte des „Hämozentrismus“, das heißt, sie ist ganz wesentlich an der Bedeutung und Wirkung des Blutes orientiert. Schon in vorsokratischer Zeit wurde das Blut als Urstoff des Lebens, aber auch als Sitz der Seele interpretiert, und das Leben selbst wurde mit der Wärme des Blutes in Verbindung gebracht. Die Schulmedizin wies der Mischung der vier Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim bis weit in die Neuzeit hinein maßgebliche Bedeutung bei der Entstehung von Krankheiten und deren Therapien zu (Humoralpathologie). Vor dem Hintergrund dieser Säftelehre erklären sich traditionelle therapeutische Maßnahmen wie Aderlass, Schröpfen oder das Setzen von Blutegeln.
Erst im Gefolge der Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey (1578 – 1657) und der zunehmenden naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Medizin im 18. Jahrhundert verlor die Lehre von den Körpersäften nach und nach an Bedeutung. Die Abwendung von der Humoralpathologie und die Entmythologisierung des Körpersäfteschemas ging jedoch keineswegs mit einem Bedeutungsverlust des Blutes einher. Vielmehr wurde der Zirkulation und der Funktion des Blutes mit der Etablierung der modernen Fachdisziplinen Anatomie, Physiologie, Bakteriologie oder Hämatologie eine neue Relevanz zuerkannt, in deren Verlauf das Blut als Trägersubstanz „entdeckt“ wurde.
Fausts Vertrag
Eine Sonderstellung wurde der Substanz Blut nicht nur in der Medizin zugewiesen, sondern ebenso in künstlerischen und literarischen Zusammenhängen. Ein besonders bekanntes und eindrückliches Beispiel hierfür bietet Goethes „Faust“: Als der teuflische Verführer Mephisto dem zögerlichen Faust das Einverständnis abgerungen hat, ihm seine Seele zu verkaufen, lässt er Faust den Vertrag nicht mit Tinte, sondern mit Blut, „dem ganz besonderen Saft“, unterschreiben. Offensichtlich ist das Blut hier eine Art metaphysisches Bindemittel, welches den Vertrag erst zustande kommen lässt.
Auch in der europäischen Liebeslyrik spielt das Blut eine besondere Rolle: Der unglücklich Verliebte grübelt und schmachtet in einem frühneuzeitlichen Gedicht von Petrarca, nachdem sein Blut aus dem Gleichgewicht gekommen ist und er sehnsüchtige Phantasien von der Angebeteten entwickelt: Ein Aderlass könnte die Rettung sein, denn sein Blut ist schwarz, was zeigt, dass er liebeskrank ist und an Melancholie leidet. Die Literaturgeschichte ist reich an Metaphern, die sich auf Blut beziehen: So blutet das Herz der Sehnenden, weil es durch Liebe verwundet wurde, und die grausame Geliebte, die ein „Blutbad“ anrichtet, fügt dem Mann absichtlich Liebeskummer zu. Auch der kreative Prozess des Dichters selbst wird mit dem Lebensstoff in Verbindung gebracht – etwa dann, wenn die Zeilen mit „Herzblut“ geschrieben werden.
Religiosität und Riten
Weithin bekannt ist die zentrale Bedeutung des Blutes für die christliche Eucharistiefeier. Doch auch als Reliquie kommt dem Blut besondere Relevanz zu: Die Verehrung des Kreuzesholzes als Träger des Christusblutes und die Verehrung des Blutes von Märtyrern begannen in der Spätantike – einem Zeitalter, in dem das Blut von christlichen Märtyrern bei deren Hinrichtungen von der Volksmenge ehrfürchtig aufgefangen und in Fläschchen aufgehoben wurde. Da die visuelle Vermittlung dieser kostbaren und mengenmäßig kleinen Reliquie schwierig war, wurden wertvolle Bergkristallflakons mit roten, aufwendig gewobenen Stoffstückchen gefüllt, die angeblich mit „heiligem“, kraftvollem Blut benetzt oder getränkt waren.
Die Funktion des Blutes als Vitalstoff wird aber auch im Volksglauben sichtbar: Eigenes oder fremdes Blut wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein zum Abwehrzauber, zur Heilung von Epilepsie und anderen Krankheiten oder zum Glückszauber eingesetzt. Dabei wurde es wissentlich verzehrt, anderen Menschen heimlich zugeführt oder äußerlich auf die Körperoberfläche von Menschen und Tieren sowie auf Objekte aufgetragen.
Auch in der heutigen Zeit gibt es die Vorstellung von Blut als Heil- oder Zaubermittel in den Bereichen Esoterik und Aberglauben. Beispiele bieten entsprechende Internetforen und Homepages mit Ratgeberfunktion. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Blutes in neuheidnischen Alternativreligionen: Im germanischen Neuheidentum (Asatheismus) sind spezifische Vorstellungen von kraftvollem Blut vorhanden: So wird der Asatheismus von einigen seiner Anhänger aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder aber ihrer familiären Vorfahren als „blutbedingte“ Form der Religion verstanden. Entsprechend werden Rituale der Blutmischungen von Personen etwa bei Eheschließungen oder zur Schließung von Blutsfreundschaften durchgeführt. Daneben finden sich Beispiele für magische Weihungen von Kultgegenständen durch Eigenblut oder für Blutopfer mit Tierblut, wobei jüngere Asatheisten heute das Blut durch Trankopfer ersetzen.
Gutes und Böses
Nicht nur in der Schulmedizin, sondern auch in der Alternativmedizin wird in vielfacher Hinsicht auf Blut als Heilmittel rekurriert: Beispiele sind neben Aderlass-, Schröpf- oder Blutegelkuren auch alternativmedizinische Ratgeber über blutgruppenspezifische Ernährung („Blutgruppendiät“), mit deren Hilfe therapeutische Wirkungen erzielt, aber auch die physischen und mentalen Fähigkeiten gesunder Personen „verbessert“ werden sollen. Sie fallen in den Bereich der Diätetik beziehungsweise des boomenden Marktes der Nahrungsergänzungsmittel. In der Alternativmedizin tritt teilweise ein weiterer Aspekt hinzu: Im Blut liegt nicht nur physische, sondern auch „Seelenkraft“, weshalb körperliche Gebrechen durch fremdes Blut geheilt, zugleich aber auch bestimmte Fähigkeiten und Charakterzüge des Spenders auf den Empfänger übertragen werden können.
Allerdings ist Blut weder in der alternativen noch in der volkstümlichen Medizin durchgängig positiv konnotiert. Vielmehr finden sich ausgeprägte Zweiteilungen, bei denen „gutes Blut“ und „böses Blut“ kontrastiert werden.
Menstruation
Diese zweigeteilte Deutung findet sich in vielen traditionalkulturellen Zusammenhängen: Man denke etwa an die weit zurückreichende und kulturübergreifend wirksame Angst vor dem „unreinen“ Menstruationsblut. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde dem Menstruationsblut nachgesagt, es sei giftig und könne Lebensmittel verderben. So glaubte man etwa, dass die Berührung durch eine menstruierende Frau Wein oder Most sauer mache, die Milch gerinnen und das Bier umschlagen ließe. Topfpflanzen und vor allem Setzlinge würden verdorren, weshalb Frauen den Kontakt zu gefährdeten Dingen vermeiden sollten. Bemerkenswerterweise wurde die These von der vermeintlichen Giftigkeit des Menstruationsblutes erst 1958 widerlegt; gleichwohl wirkt sie teilweise bis heute nach. Im Übrigen hielten viele Wissenschaftler Frauen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Verweis auf die Monatsblutung für körperlich, geistig und moralisch schwächer, was auch in Kunst und Literatur vielfältigen Ausdruck fand. Noch heute sind menstruierende Frauen – zum Beispiel in hinduistisch geprägten Kulturen Indiens – bestimmten Vorschriften und Regularien unterworfen, die sie während ihrer Regel von der Gemeinschaft ausschließen, da dem Menstruationsblut in einigen Gemeinschaften vermeintlich bedrohliche magische Kräfte zugeschrieben werden.
Demgegenüber gilt Blut, das freiwillig für einen guten Zweck gespendet wird, in Indien wie auch in anderen Kulturkreisen als wertvoll – auch für den Spender, da in diesem „reinigenden“ Vorgang, so die Argumentation in den Spendenaufrufen, alte Zellen aus dem Körper entfernt werden, aber auch göttliche Hilfe mittels dieses Blutopfers erbeten werden könne.
Doch selbst dem „unreinen“ Menstruationsblut wurden und werden in bestimmten Zusammenhängen durchaus auch positive Eigenschaften nachgesagt. So war es in Europa seit dem Mittelalter vielfach Bestandteil eines „Liebeszaubers“: Wenn es auf den Türpfosten eines Hauses gestrichen wurde, hielt es angeblich Hexen fern, sollte vor Feuer schützen, und wenn eine menstruierende Frau ein Feld umschritt, diente dies der Fernhaltung von Ungeziefer. Ebenso galten Waffen, die beim Schmieden mit Menstruationsblut einer Jungfrau in Berührung kamen, als siegversprechend.
Bedrohlicher Träger
Aber auch in der Medizin unserer Zeit ist Blut nicht allein als Leben rettendes Agens und damit als positiv besetzter Wirkstoff bekannt. Eindrückliche Beispiele für eine negative Konnotation liefern Infektionskrankheiten wie AIDS oder Hepatitis C und die hierbei bestehenden Ängste vor dem Blut als „Trägersubstanz“ einer (lebens-)bedrohlichen Infektion. Beiden Deutungsvarianten – der positiven wie der negativen – gemeinsam ist einmal mehr die vitale Funktion des Blutes, die sich einerseits lebenserhaltend, andererseits lebensgefährdend auswirken kann.
Intensiv diskutiert wird gegenwärtig in Medizin und Medien eine besondere (post)moderne Version des Umgangs mit „kraftvollem Blut“: Im Radsport zum Beispiel ist Blutdoping seit einigen Jahren ein Faktum. Eigenes oder fremdes Vollblut, aber auch Zubereitungen, die rote Blutkörperchen beziehungsweise künstliches Erythropoetin enthalten, werden verabreicht, um Sportlern – bedingt durch einen höheren Sauerstofftransport im Blut – zu besseren Leistungen zu verhelfen. Der positiven Wirkung auf die sportliche Leistungsfähigkeit steht die negative moralische Bewertung der Blutdoping-Maßnahme gegenüber. Negativ konnotiert ist neben dem Dopingcharakter auch die nicht unerhebliche gesundheitliche Gefährdung: So wird das Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko durch Blutdoping maßgeblich erhöht.
Metapher für Vernichtung
Blut taucht zudem in vielfacher Hinsicht als Metapher für Vernichtung auf. Auch hierbei wird letztlich auf die besondere Wirkkraft des Blutes abgehoben. Einen sprachlichen Beleg für diese unheilvolle Bedeutung von Blut bietet der Begriff der „Blutrache“: Als widerrechtliches, aber bis heute praktiziertes Prinzip zur Sühnung von Verbrechen bezieht sie ihre Rechtfertigung aus der Blutsverwandtschaft zwischen dem Opfer und dem Rache übenden Familienmitglied („Blutsbande“). Ähnlich negativ besetzt ist der Begriff „Blutrausch“: Hier führt das wallende Blut zu einem Kontrollverlust, der potenziell vernichtende Tätlichkeiten nach sich zieht und zu unheilvollen Szenarien führt, für die wiederum entsprechende sprachliche Bilder genutzt werden (zum Beispiel „Blutbad“).
Vor dem Hintergrund der vorgenannten, höchst verschiedenen Bedeutungsinhalte von Blut kann es nicht überraschen, dass dieses darüberhinaus als Argumentationshilfe zur Stiftung von Gemeinschaft („Blutsverwandtschaft“), zugleich aber auch – negativ gewendet – zur Ausgrenzung von Individuen und sozialen Gruppen herangezogen wurde. Annette Weber, die sich intensiv mit antijüdischen Blutlegenden beschäftigt hat, verweist auf die sogenannten „Blutbeschuldigungen“ gegen Juden, denen seit dem Mittelalter vorgeworfen wurde, christliche Kinder rituell zu ermorden, weil sie angeblich deren Blut für das Pessachfest bräuchten.
Derartige diskriminierende Deutungen lassen sich bis in die Moderne nachweisen und fanden bekanntlich gerade im 20. Jahrhundert einen traurigen Höhepunkt: Ein anschauliches Beispiel bietet der Terminus „Blutsgemeinschaft“ als „Inbegriff einer rassischen Gemeinschaft“, deren ausgrenzender und menschenverachtender Charakter in den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 zum Ausdruck kam und nachfolgend zu Tötungen von Menschen führte, die nicht dieser Blutsgemeinschaft angehörten.
Blut wirkt somit – je nach gesellschaftspolitischem und ideologischem Hintergrund – als integrierendes oder ausschließendes Element, als legitimierende oder delegitimierende Substanz, als Rechtfertigungsfigur für sozialen Auf- oder Abstieg und letztlich – mit Blick auf die grausamen Menschenopfer des Nationalsozialismus – auch als Metapher für Leben und Tod.
Doppeldeutige Symbolik
Die beschriebenen Beispiele zeigen, dass das Blut als Symbol der menschlichen Vitalkraft vielfältige – und teilweise höchst widersprüchliche – Bedeutungen entfaltet. Diese sind kultur- und epochenübergreifend nachweisbar und hinterlassen Spuren in Medizin und Alternativmedizin, in Literatur und Kunst, in Religion, Volksglauben und neuheidnischen Alternativreligionen, in der Linguistik wie auch in verschiedenen politischen Ideologien. Dabei ist Blut keineswegs durchgängig positiv konnotiert; vielmehr finden sich ausgeprägte Doppeldeutigkeiten, wie die volkstümliche Unterscheidung von „gutem Blut“ und „bösem Blut“ bereits auf eindrucksvolle Weise zeigt, aber auch dezidiert negative Bedeutungszusammenhänge. Ebenso lässt sich zeigen, dass Blut im gegenständlichen wie im argumentativen Sinn eingesetzt wird, um bestimmte Interessen zu vertreten und spezifischen Zwecken zu dienen. So unterschiedlich diese „Instumentalisierungsversuche“ auch ausfallen – sie fußen allesamt auf einem Verständnis von Blut als dem Kraftstoff des Lebens.
Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik GroßInstitut für Geschichte,Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikumRWTH Aachen UniversityWendlingweg 2, 52074 Aachendgross@ukaachen.de