Alles dreht sich um den kleinen Unterschied
Neue Medikamente wurden bis vor wenigen Jahren praktisch ausschließlich in Studien bei Männern geprüft. Die Ergebnisse wurden auf die Frauen übertragen, in der Annahme, der Stoffwechsel und damit auch der Metabolismus von Medikamenten funktioniere bei Mann und Frau weitgehend gleich. Inzwischen ist klar, dass es sich bei dieser Annahme um einen Irrtum handelt, was nicht zuletzt zur Etablierung einer eigenen Forschungsrichtung, der sogenannten Gendermedizin, geführt hat. Untersucht wird dabei, wie häufig bestimmte Krankheiten bei Mann und Frau auftreten, wie sie sich in ihrer Symptomatik unterscheiden und wie der männliche respektive der weibliche Organismus auf bestimmte Therapieformen reagiert.
Nicht nur die Hormone machen den Unterschied
Ihren Ursprung nahm die Gendermedizin dabei in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA. Dort wurde in Forscherkreisen zunehmend moniert, dass es nur unzureichende Daten zur Krankheitssituation der Frau gibt, zu der Krankheitsverteilung beim „schwachen Geschlecht“ und zu der Effektivität von Arzneimitteln bei Frauen. Europa und speziell Deutschland zog nach: So gibt es inzwischen ein Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GIM), das am Berliner Universitätsklinikum Charité angesiedelt ist und von Professor Dr. Vera Regitz-Zagrosek geleitet wird.
Banal ist die Feststellung, dass Unterschiede im Hormonhaushalt bei Mann und Frau bestehen und dass Östrogene die Frau und Testosteron den Mann dominieren. Von den Hormonen abgesehen, gibt es noch weitaus mehr Unterschiede und das beginnt schon bei den physiologischen Parametern. So sind Männer im Durchschnitt größer und haben ein höheres Körpergewicht als Frauen. Ihr Körper hat im Mittel einen geringeren prozentualen Fettanteil, dafür aber einen höheren Wasseranteil, was ein unterschiedliches Verteilungsvolumen bei Arzneimitteln nach sich ziehen kann. Dies hat Konsequenzen auf die Wirksamkeit sowie die erforderliche Dosierung von Medikamenten. Außerdem ist die Muskelmasse bei Männern meist größer, ebenso wie das Herzminutenvolumen, während bei der Frau in aller Regel eine höhere durchschnittliche Herzfrequenz vorliegt.
Die unterschiedlichen physiologischen Parameter haben durchaus Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus: Medizinisch bedeutsam ist zum Beispiel, dass Immunantworten bei Frauen meist etwas stärker ausfallen als beim Mann. Das hat eine stärkere Neigung zu Entzündungsreaktionen zur Folge und erklärt, warum die Inzidenz von Autoimmunerkrankungen bei Frauen im Allgemeinen höher ist als bei Männern.
Herzinfarktrate bei Frauen höher
In ihren Anfängen hat sich die Gendermedizin vor allem mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und speziell mit dem Herzinfarkt befasst, galt dieser doch als Männerdomäne. Das hat sich inzwischen als medizinischer Irrtum erwiesen. Klar ist vielmehr, dass weitaus mehr Frauen einen Herzinfarkt entwickeln als Männer. Es sterben zudem deutlich mehr Frauen am Infarkt, wenngleich dies im Mittel um einige Jahre später als beim Mann der Fall ist.
Dass die Infarkthäufigkeit bei Frauen lange unterschätzt wurde, liegt unter anderem daran, dass die Symptomatik bei Mann und Frau deutlich unterschiedlich ist. Während Männer vor allem Schmerzen in der Brust und im linken Arm entwickeln, klagen Frauen im Fall des Falles häufiger über Schmerzen zwischen den Schulterblättern, über Oberbauchbeschwerden und über Übelkeit. Das hat zur Folge, dass der Infarkt eher unbeachtet bleibt. Zudem werden Frauen mit Infarkt im Mittel später in die Klinik eingewiesen. Häufiger als bei Männern ist das eine nicht auf Herzerkrankungen spezialisierte Klinik, so dass sie deutlich später eine effektive Behandlung erfahren – ein Aspekt, der seinerseits die höhere Infarktsterblichkeit bei Frauen erklären kann. Immerhin versterben in Europa 55 Prozent der Frauen, aber nur 45 Prozent der Männer an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung.
Depressionen – eine Frauenkrankheit
Auch bei Schlafstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen haben Frauen die Nase vorn: So treten Depressionen bei Frauen mit einer Lebenszeitprävalenz von 21 Prozent, bei Männern dagegen nur von 13 Prozent auf. Frauen geben in Studien häufiger an, sich niedergedrückt, freudlos und antriebslos zu fühlen und greifen deutlich öfter als Männer zu Psychopharmaka. Die dagegen reagieren eher verärgert, gereizt und aggressiv. Ebenfalls wissenschaftlich erwiesen: Männer weisen eine um bis zum Dreifachen erhöhte Sterberate durch Suizid beziehungsweise durch Unfälle gegenüber Frauen auf. Sie zeigen zudem häufiger als Frauen ein Suchtverhalten. An erster Stelle steht hier die Sucht nach Alkohol. Andererseits nehmen sie seltener psychotherapeutische und psychiatrische Hilfe in Anspruch.
Die Unterschiede werden im Wesentlichen auf andere hormonelle Gegebenheiten zurückgeführt. In der Kindheit finden sich Auffälligkeiten bei Depressionen gleichermaßen bei Mädchen wie bei Jungen. Von entscheidender Bedeutung sind dabei Östrogene, Progesteron, Glukokortikoide und auch diverse Neurotransmitter.
Doch auch der andersartige Umgang mit Krankheitssymptomen, der ebenfalls zum Teil auf hormonellen Unterschieden, aber auch auf einer unterschiedlichen Hirnorganisation und anderen kognitiven Bearbeitungsstrategien beruht, kann im Einzelfall eine Rolle spielen. So wurde anhand der funktionellen Bildgebung nachgewiesen, dass Männer und Frauen bei der Verarbeitung von Emotionen teilweise andere Strategien anwenden und verschiedene neuronale Netzwerke nutzen.
Arzneimittel-Wirkung und Verträglichkeit
Der „kleine Unterschied“ macht sich aber auch bei der Wirkung sowie bei der Verträglichkeit von Arzneimitteln bemerkbar: So wurden zum Teil geringere Metabolisierungsraten bei Frauen beschrieben, was höhere Plasmakonzentrationen nach sich zieht und damit ein potenziell höheres Nebenwirkungsrisiko zur Folge hat. Andererseits weist die Leber – nicht zuletzt gesteuert durch Testosteron – bei Mann und Frau eine divergierende Enzymausstattung auf. So arbeiten die Alkoholdehydrogenase wie auch das P-Glykoprotein bei Männern mit einer höheren Aktivität, was zusammen mit der höheren Körperwassermenge erklärt, warum Männer im allgemeinen Alkohol besser vertragen und rascher abbauen als Frauen. Ähnlich verhält es sich bei Arzneimittelabbauenden Enzymen und speziell dem CYP 3A4 des Cytochrom P450-Systems, über das zahlreiche Medikamente metabolisiert werden. In der Leber der Frau ist CYP 3A4 besonders aktiv, was Auswirkungen auf die Wirksamkeit wie auch die Verträglichkeit bestimmter Wirkstoffe haben kann. Die Zusammenhänge bekräftigen unter anderem Beobachtungen, wonach Frauen ganz allgemein bei der Einnahme von Arzneimitteln häufiger als Männer Nebenwirkungen entwickeln, ein Aspekt, der sich in den Beipackzetteln bislang aber nicht widerspiegelt.
Darüber hinaus haben Forschungsprojekte aus dem Bereich der Gendermedizin unterschiedliche Empfindlichkeiten bei Zielstrukturen von Medikamenten und speziell bei Rezeptoren zwischen den Geschlechtern aufdecken können. Dies betrifft unter anderen das Herzreizleitungssystem wie auch das ZNS. Die Forschungsarbeiten stecken in diesem Bereich zum Teil aber noch in den Kinderschuhen. Schuld ist nicht zuletzt die Tatsache, dass Medikamentenprüfungen bei Frauen im gebärfähigen Alter nicht unproblematisch sind.
Die Differenzen bei den physiologischen Parametern, die letztlich auch unterschiedliche Krankheitsdispositionen nach sich ziehen, sind dabei zum großen Teil genetisch bedingt. An diesem Punkt aber kommt dann doch der „kleine Unterschied“ zwischen X- und Y-Chromosom zum Tragen. So sind laut Regitz-Zagrosek auf dem X-Chromosom rund 1500 Gene zu lokalisieren, die wichtige Funktionen im Herz-Kreislauf-System, bei der Hirntätigkeit und im Immunsystem besitzen. Dieses Chromosom liegt bei Frauen in doppelter Ausführung vor, so dass es für diese Gene offenbar eine Art Reservepool gibt. Auf dem Y-Chromosom des Mannes wurden dagegen nur 78 aktive Gene gefunden, die vor allem Aufgaben im Bereich der Sexualfunktion besitzen. Diese Unterschiede könnten – zusammen mit der protektiven Wirkung der Östrogene auf das Herz – erklären, warum Frauen im Mittel trotz des häufigeren Auftretens von Herzinfarkten und anderen Erkrankungen doch eine um einige Jahre höhere durchschnittliche Lebenserwartung haben, als Männer.
Christine VetterMerkenicher Straße 224, 50735 Köln