Wissenschaftliche Mitteilung des Arbeitskreises Epidemiologie und Public Health (AKEPH) DGZMK

Ziele und Methoden der epidemiologischen Erfassung oraler Erkrankungen

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Heftarchiv Zahnmedizin
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Vorliegende wissenschaftliche Mitteilung des Arbeitskreises Epidemiologie und Public Health (AKEPH) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) wurde bereits in der dzz 9/2010 veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteverlags.

1. Präambel

Mittels epidemiologischer Studien werden Daten über die Häufigkeit, Schwere und Verteilung von Erkrankungen in Populationen oder in definierten Bevölkerungsgruppen erhoben. Epidemiologische Untersuchungen haben primär einen beobachtenden Charakter [4]. Durch wiederholte Datenerhebungen oder im Zusammenhang mit weiteren geeigneten Parametern können Feststellungen zu Veränderungen der Häufigkeit oder Schwere der Befunde wie auch zu den hiermit verbundenen Ursachen getroffen werden. Die orale Epidemiologie ermöglicht die Beurteilung von präventiven und therapeutischen Interventionen und kann als Grundlage von Kosten-Nutzen-Analysen dienen. Mithin kommt der Epidemiologie im medizinischen wie auch im gesundheitspolitischen Kontext hohe Bedeutung zu.

Dieser Bedeutung entsprechend sind an die Durchführung epidemiologischer Studien hohe methodische sowie qualitätssichernde Forderungen zu knüpfen. Die vorliegende wissenschaftliche Mitteilung des Arbeitskreises Epidemiologie und Public Health (AKEPH) in der DGZMK fasst diese Forderungen zusammen und orientiert sich dabei an Vorgaben der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie zur Guten Epidemiologischen Praxis (GEP) [4]. Zudem trägt sie grundsätzliche methodische Aspekte oralepidemiologischer Forschung zusammen und enthält konkrete Hinweise zur epidemiologischen Erfassung von Karies und Parodontitis als wichtiger, exemplarisch herausgegriffener oraler Erkrankungen. Damit soll die Wissenschaftliche Mitteilung einen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Epidemiologie oraler Erkrankungen liefern. Der Arbeitskreis beabsichtigt, in später folgenden Ausführungen entsprechende Hinweise zu Zielen und Methoden der epidemiologischen Erfassung weiterer oraler Erkrankungen wie Zahnstellungs- und Bisslageanomalien, Mundschleimhautveränderungen oder auch kraniomandibuläre Dysfunktionen zu veröffentlichen.

2. Grundsätze epidemiologischer Studien

Planung, Durchführung, Auswertung und Interpretation epidemiologischer Studien haben eine Reihe verschiedener Anforderungen zu erfüllen. Diese sind in einer Stellungnahme der Arbeitsgruppe Epidemiologische Methoden der Deutschen Arbeitgemeinschaft für Epidemiologie (DAE) in einem Konsensus-Verfahren vieler beteiligter Fachgesellschaften erarbeitet worden [4].

Epidemiologische Untersuchungen müssen im Einklang mit Prinzipien der Ethik und des Datenschutzes [15] durchgeführt werden. Die Forschungsfrage ist explizit zu formulieren, da sich aus ihr Studiendesign und Erhebungsinstrumente, aber auch der Zeit- und Kostenrahmen der geplanten Untersuchung ableiten lassen. Dabei wird eine klare Abgrenzung von konfirmatorischen Studien, denen vor Beginn der Studie formulierte Hypothesen zugrunde liegen, und explorativen Fragestellungen empfohlen, welche die Prüfung nicht zuvor definierter Hypothesen beinhalten (Sekundäranalyse).

Ein detaillierter und verbindlicher Studienplan mit Festlegung der Fragestellung und der Arbeitshypothesen, des Studientyps, der Studienpopulation mitsamt Fallzahlabschätzung und deren Rekrutierung, des Studienumfangs, der Zielvariablen, der Auswertungsstrategie sowie eines Zeitplans mit Festlegung der Verantwortlichkeiten ist zu erstellen [4, 13]. Ein- und Ausschlusskriterien sollen im Vorwege definiert und begründet werden. Empfohlen wird weiter eine Dokumentation von Gründen für die Nichtteilnahme oder den Abbruch der Studienteilnahme, um einen möglichen Selektionsbias auf Grund des Non-Responses abschätzen zu können.

Maßnahmen zur Qualitätssicherung schließen die Schulung der an der Datenerhebung beteiligten Personen vor Beginn der Feldarbeitsphase ein. Für die Erhebung ist ihnen ein Erhebungshandbuch mit allen für die Datenerhebung erforderlichen Angaben zur Verfügung zu stellen.

Für die Befunddokumentation und -haltung ist vorab ein umfassendes Konzept zu erstellen. Die Überführung der erhobenen Daten in eine Datenbank soll zeitnah erfolgen. Auch die Auswertung der Daten soll nach einem zuvor erstellten Analyseplan zügig erfolgen. Mit Ausnahme von Längsschnittstudien soll die Auswertung jedoch erst nach Abschluss der Datenerhebung erfolgen.

Für umfangreichere epidemiologische Studien sind die vertraglichen Rahmenbedingungen schriftlich mit allen Kooperationspartnern zu vereinbaren. Dabei sollten unter anderem organisatorische, finanzielle, qualitätssichernde, methodische, rechtliche sowie publikationsrelevante Punkte bedacht werden. Aspekte der Unabhängigkeit der Forschung sowie das Recht auf Publikation der Studienergebnisse sollen berücksichtigt werden. Die Interpretation der Forschungsergebnisse einer epidemiologischen Studie ist originäre Aufgabe des wissenschaftlich verantwortlichen Leiters und der Autoren der jeweiligen Publikation. Ergeben sich aus den Forschungsergebnissen Konsequenzen von öffentlichem Interesse und Public Health-Belangen, so sollen diese explizit formuliert werden. Die Kommunikation muss für Nicht-Epidemiologen verständlich erfolgen.

3. Zur Methodik oral- epidemiologischer Studien

Untersuchungen zur Epidemiologie oraler Erkrankungen werden durchgeführt, um die Häufigkeit, Schwere und Verteilung oraler Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung oder in einzelnen Bevölkerungsgruppen festzustellen und in der Regel in geeigneten Indexsystemen abzubilden. Diese Aspekte werden als „deskriptive Epidemiologie“ erfasst. Die Verknüpfung von epidemiologischen Instrumenten und Daten mit Faktoren, denen eine Rolle bei der Erkrankungsentstehung oder -prävention zukommen kann, liefert Kenntnisse über die Erkrankungsätiologie („analytische Epidemiologie“). Schließlich werden die Instrumente der Epidemiologie in wissenschaftlichen Studien über die Effekte gezielter Maßnahmen zur Eindämmung oder Prävention oraler Erkrankungen angewandt („experimentelle“ oder „interventionelle Epidemiologie“).

Aus den Daten über Erkrankungsprävalenzen sind unmittelbar Fakten zur medizinischen Versorgung und zum Versorgungsbedarf ableitbar, und es können Kosten-Wirksamkeit- oder Kosten-Nutzen-Analysen betrieben werden. Damit erhält die orale Epidemiologie auch als Basis der Gesundheits- und Versorgungsforschung eine zunehmend wichtige Rolle.

Zur Qualitätssicherung in der oralen Epidemiologie sind Maßnahmen der Realibilitätsüberprüfung (Kalibrierung der Untersucher, Doppeluntersuchungen zur Feststellung intra- und inter-individueller Abweichungen) durchzuführen, welche der validen Erfassung von oralen Erkrankungs- und Versorgungsständen dienen. Angaben zum Stichprobenaufbau und ein Protokoll der Stichprobenausschöpfung können dazu beitragen, die Interpretation der Studienergebnisse abzusichern.

Wichtige Parameter zur Charakterisierung der untersuchten Bevölkerungskohorte sind das Geschlecht, das Alter, die geografische Zuordnung und der Sozialstatus der Untersuchten. Bei der Durchführung von klinischen Studien (analytisch-epidemiologischen Studien) müssen zusätzliche Faktoren wie Gewohnheiten der Probanden (z. B. Mundhygiene und Ernährung) sowie soziodemographische oder kognitive Parameter berücksichtigt werden, um relevante Ergebnisse zu erhalten.

3.1 Karies

Die Kariesepidemiologie trifft deskriptive Aussagen über die Kariesprävalenz, es werden Veränderungen der Kariesprävalenz oder der Schwere der Erkrankung beurteilt, und es werden Daten über die Karies in speziellen Alters- oder Bevölkerungsgruppen geliefert. Prävalenzdaten werden in der Regel über Querschnittsstudien gewonnen. Die analytische wie auch die experimentelle Kariesepidemiologie untersuchen das Vorkommen von Karies in Abhängigkeit verschiedener Parameter wie zum Beispiel der Ernährung, der Mundhygienemaßnahmen oder Fluoridanwendungen.

Die Kariesbefunde im Kronenbereich werden im Allgemeinen nur visuell und keinesfalls durch Sondieren mit einer spitzen Sonde erhoben [32]. Es können mehrere Stadien von lnitialläsionen und kariösen Kavitäten registriert werden. Das in der Kariologie am meisten gebräuchliche und seit Langem etablierte Erfassungsinstrument ist der DMF-Index [21]. Der Index kann zahnbezogen (-T) oder zahnflächenbezogen (-S) erfasst werden. Er stellt eine Summation kariös erkrankter sowie kariesbedingt gefüllter oder extrahierter Zähne beziehungsweise Zahnflächen dar und ermöglicht eine Beschreibung des Erkrankungsumfanges. Aufgrund seiner weit verbreiteten Anwendung werden vergleichende Betrachtungen zumeist auf Grundlage des DMFT-Indexes erstellt.

Epidemiologische Befunde für die erste Dentition werden – in kleinen Buchstaben – als dmft- beziehungsweise dmfs-Index angegeben. Die epidemiologische Erfassung der Kariesprävalenz bei Kindern erfolgt in der Regel getrennt für die erste oder die bleibende Dentition. Für verschiedene Fragestellungen kann jedoch auch die Angabe der gesamten Karieserfahrung (dmft + DMFT beziehungsweise dmfs + DMFS) angezeigt sein.

Kariöse Läsionen entstehen auffällig häufig in umschriebenen Phasen nach Durchbruch der ersten Dentition sowie der bleibenden Molaren in die Mundhöhle [7]. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berücksichtigt diese Risikoverteilung mit der Empfehlung, kariesepidemiologische Daten für 5-, 12- und 15-Jährige zu erheben. Als weitere Altersgruppen zur Ermittlung der Karies- prävalenz werden die 35- bis 44-jährigen Erwachsenen sowie die 65- bis 74-jährigen Senioren genannt.

Für internationale Vergleiche eignet sich laut WHO [32] die Gruppe der 12-Jährigen am besten, da sie in den meisten Ländern über die Schulsysteme einfach erreicht werden können. Bei Erfassung 15-jähriger Jugendlicher steht auch der zweite Molar bereits längere Zeit in der Mundhöhle.

Neben der Kronenkaries stellt die Registrierung der Wurzelkaries ein epidemiologisches Forschungsfeld dar, das im Zuge des demographischen Wandels in den industrialisierten Ländern zunehmende Bedeutung erlangt. Voraussetzung für eine Wurzelkaries ist, dass Teile der Wurzeloberfläche frei von der Gingivabedeckung sind. An den freiliegenden Wurzeloberflächen werden kariöse Läsionen und Füllungen, zahn- oder zahnflächenbezogen, registriert. Eine grobe Erfassung benennt den Anteil an Personen, der mindestens eine Zahnwurzel mit Karieserfahrung aufweist. Genauere Betrachtungen addieren die Anzahl von Wurzelkaries betroffener oder wegen Karies gefüllter Wurzeloberflächen und setzen sie in Beziehung zur Zahl freiliegender Wurzeloberflächen [19].

3.2 Parodontitis

Die Parodontalepidemiologie liefert einerseits deskriptive Daten zur Parodontitisprävalenz in definierten Populationen und andererseits analytische Daten (Risikofaktoren) für die Forschungsanstrengungen zur Parodontitisätiologie. Im Hinblick auf die Notwendigkeit eindeutiger Ergebnisinterpretationen steht die Frage einer klaren Falldefinition im Vordergrund. Die Parodontalepidemiologie verfügt aber gegenwärtig über keine international konsentierte Falldefinition [14], so dass epidemiologische Befunde zur Parodontitislast häufig nur mit eingeschränkter Aussagekraft interpretiert und methodisch häufig nicht direkt miteinander verglichen werden können. Es ist also notwendig, die vollzogenen Dokumentationsentscheidungen von Parodontalbefunden dezidiert kritisch zur Kenntnis zu nehmen, um klinischen und sozialmedizinischen Fehlinterpretationen vorzubeugen.

Die Parodontalepidemiologie hat in der Vergangenheit vor allem auf zwei klinische Parameter abgestellt, nämlich die Attachmentverluste (Clinical Attachment Loss, CAL) und die Sondierungstiefen (Probing Depth, PD), wobei in der Regel nur einer der beiden Parameter bei der Studiendurchführung in Anschlag kam. Erst jüngst wurde in der internationalen Parodontologie ein neues Klassifikationsmodell für die epidemiologische Forschung vorgeschlagen, das die gemessenen Befunde zu CAL und PD jeweils miteinander verknüpft [27].

Die Parodontalepidemiologie hat sich in ihren empirischen Erhebungen prioritär auf die Erkrankungseinheit der „chronischen Parodontitis“ eingestellt, so dass regelhaft Untersuchungen erwachsener Personen im Zentrum der Dokumentation stehen. Hier hat sich bewährt, gemäß der Kohortenvorschläge der WHO [32] die Alterskohorte der 35- bis 44-Jährigen für das jüngere Erwachsenenalter und die Alterskohorte der 65- bis 74-Jährigen für das höhere Erwachsenenalter (Senioren) in Anschlag zu bringen. Eine klare Altersbegrenzung bei dem Vergleich parodontaler Befunde aus verschiedenen Studien ist methodisch von großer Bedeutung, da die Parodontitis stark altersassoziiert auftritt; entsprechend muss die Alterszugehörigkeit als möglicher Confounder bei der Interpretation parodontalepidemiologischer Befunde vermieden werden.

Die Parodontalepidemiologie wird zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen, da

• durch den zunehmenden Zahnerhalt in der Bevölkerung mehr Zähne „at risk“ für parodontale Destruktionen stehen werden,

• durch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Allgemeinerkrankungen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen und mehr) und Parodontitis das medizinische und gesundheitspolitische Interesse an entsprechender Forschung zunehmen wird,

• durch den demographischen Wandel mit der erheblichen Zunahme älterer und alter Menschen (absolut und relativ an der Gesamtbevölkerung) das parodontale Erkrankungsrisiko demographiebedingt eher ansteigen dürfte und

• aufgrund bestehender Unterversorgungen in der Bevölkerung mit parodontologischen Dienstleistungen der Wunsch nach Evaluationen und Zielgruppenanalysen ein verstärktes Public Health-Anliegen auslösen dürfte.

3.3 Sozialwissenschaftliche Fragekonzepte

Erhebungen zur Epidemiologie oraler Erkrankungen werden in der Regel als sozialepidemiologische Studien geplant und durchgeführt, um zusätzlich zu den klinisch-zahnmedizinischen Variablen auch ausgewählte sozialwissenschaftliche Informationen zu erzeugen, mit deren Hilfe das orale Morbiditätsgeschehen vertieft beschrieben und/oder erklärt werden kann. Diese sozialwissenschaftlichen Informationen werden dabei typischerweise über Frageinstrumente mündlicher oder schriftlicher Art generiert und umfassen meistens sowohl soziodemographische Strukturinformationen als auch Einstellungs- und Verhaltensinformationen der definierten Probandenpopulation(en).

Die inhaltliche Anlage einer Erhebung zur Epidemiologie oraler Erkrankungen verlangt dementsprechend auch große Sorgfalt und Klarheit bei der Entwicklung und Auswahl der einzusetzenden sozialwissenschaftlichen Konstruktionen. Speziell im Hinblick auf die Soziodemographie existiert in Deutschland eine umfangreiche Forschung, auf deren Ergebnisse unbedingt auch bei der eigenen Studienplanung zurückgegriffen werden sollte. Hier sind „Standarddemografien“ und etablierte Indexsysteme zur Erfassung der sozialen Schichtzugehörigkeit verfügbar, die auch fachsoziologischen Qualitätsanforderungen standhalten [1].

Bei komplexen Fragestellungen macht es sehr viel Sinn, mit geeigneten Vorstudien (Tiefeninterviews, narrative Interviews, teilnehmende Beobachtungen und mehr) die Beschaffenheit eines Problems in seinen Dimensionalitäten zunächst genau zu erkunden, bevor strukturierende Fragekonzepte durchformuliert werden. Hier sollte konsequent auf die Grundregeln der qualitativen Sozialforschung zurückgegriffen werden [12].

3.4 Public Health-Belange

Zur Planung neuer und Evaluierung eingeführter Maßnahmen der zahnmedizinischen Gesundheitsversorgung sind Fragestellungen der Versorgungsforschung und Daten epidemiologischer Studien relevant. Sie erlauben die Zusammenstellung und Entwicklung geeigneter präventiver und therapeutischer Maßnahmen zur Gesundheitsförderung von Bevölkerungen. Epidemiologische Verlaufsbeobachtungen ermöglichen insbesondere Einschätzungen zur Nachhaltigkeit eingesetzter Mittel. Vor dem Hintergrund der Prinzipien der Primary Health Care sollten Mundgesundheitsprogramme in der Bevölkerung für jeden zugänglich sein, die Gemeinschaft einbeziehen, auf Prävention fokussieren, geeignete Technologien verwenden und multidisziplinär angelegt sein [31]. Unter Einbeziehung soziodemografischer Informationen bei der Durchführung epidemiologischer Studien lassen sich Aussagen über die adäquate Ausrichtung von Mundgesundheitsprogrammen treffen.

Für die Zahnkaries wurden zur Beantwortung spezieller Public Health-Fragestellungen unterschiedliche Indizes vorgeschlagen. Unter Aspekten der kommunalen Gesundheitsplanung kann der DMF-Index allenfalls einen hinweisenden Charakter haben. Zur Planung und Implementierung zahnärztlicher Versorgungssysteme ist er kaum geeignet, weil die D-Komponente ohne weitere Differenzierung keinen Hinweis auf den Schweregrad und die Kariesprogression gibt. Der PUFA-Index hingegen wurde entwickelt, um zusätzlich zur Kariesbefundung eine Einschätzung der klinischen Konsequenzen unbehandelter Karies machen und damit den Umfang der Behandlungsnotwendigkeit abschätzen zu können [25]. Dabei bedeuten die Komponenten (P) = Pulpabeteiligung, (U) = Ulzeration, (F) = Fistelung und (A) = Abszess. Der Index eignet sich besonders für Regionen mit fehlender zahnmedizinischer Infrastruktur, in denen auf kommunaler Ebene die erforderlichen Behandlungselemente der Karies- und Kariesfolgentherapie (Bedarf an Restaurationen, Endodontie, zahnärztlicher Chirurgie) zusammenzustellen sind. Der FST-Index hingegen stellt auf die Funktionstüchtigkeit des Gebisses ab [30]. Mit diesem Index wird die Anzahl der gefüllten (F) und der gesunden (S, engl.: sound) Zähne (T) erfasst.

Epidemiologische Angaben zur totalen Zahnlosigkeit in Bevölkerungsgruppen haben ihren Stellenwert bei Public Health-Belangen. Sie zeigen als härtestes Kriterium, inwiefern zahnmedizinische Gesundheits-Programme letztendlich effektiv sind. Sie sind besonders interessant, wenn man berücksichtigt, dass jede Ausweitung der Betreuung, auch die der präventiv orientierten, immer mit personellen Konsequenzen verbunden ist. Dabei ist gerade die Versorgungsdichte mit professionellem Personal – zumindest in der Vergangenheit – eindeutig assoziiert gewesen mit der Prävalenz der totalen Zahnlosigkeit [2].

4. Kritische Betrachtungen

Für in der Zahnmedizin gebräuchliche Indexsysteme

In diesem Teil sollen gebräuchliche Indexsysteme der Zahnmedizin, deren Definition hier als bekannt vorausgesetzt wird, beispielhaft benannt und kritisch beleuchtet werden.

4.1 Kritische Betrachtung von Erfassungssystemen der Kariesepidemiologie

Die folgenden anhand des DMF-Indexes erstellten Hinweise zur Erfassung der Kronenkaries gelten für die erste wie auch die zweite Dentition. Die Erfassung der Kariesprävalenz kann als auf das Gebiss bezogene einfache Beurteilung in dichotomer Kategorisierung erfolgen (Ja-/Nein-Entscheidung über einen vorhandenen oder nicht vorhandenen Befund). Zumeist wird jedoch in Form des DMFT- oder des DMFS-Indexes eine quantifizierende Angabe ermittelt. Obwohl der DMFS-Wert das sensiblere Erhebungsinstrument darstellt, gibt die WHO dem DMFT-Index aus Gründen der besseren Standardisierbarkeit unter verschiedensten Untersuchungsbedingungen und damit besserer Vergleichbarkeit besonderes Gewicht [32, 33]. Es ist zu berücksichtigen, dass der DMF-Index ein Index ist, der einzig auf die Karies und ihre Folgen abstellt. So werden in ihn nur Zähne oder Zahnflächen aufgenommen, welche aufgrund von Karies Defekte aufweisen, gefüllt sind oder fehlen. Das bedeutet, dass aufgrund von Nichtanlage oder anderen Ursachen fehlende Zähne wie auch aus anderen Gründen als Karies mit einem Restaurations- material versehene Zähne bei der Indexerhebung nicht berücksichtigt werden. Fehlen bleibende Zähne, so wird in der Regel allerdings ein Fehlen wegen kariesbedingter Extraktion angenommen, sofern nicht eindeutige Aussagen der Untersuchten oder typische Konfigurationen (wie Fehlen aller ersten Prämolaren) andere Gründe plausibel erscheinen lassen.

Unter den Gesichtspunkten der Versorgungsforschung ist eine Differenzierung der DMF-Angaben in seine einzelnen Komponenten erforderlich. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Kariesprävalenz nicht mehr normal verteilt. Daher sind hier Berechnungen des DMF-Mittelwertes und der Standardabweichung zwar zu Vergleichszwecken sinnvoll, jedoch geben sie kein hinreichend exaktes Bild der Erkrankung. Besser geeignet sind bei schiefen Verteilungen Angaben der Häufigkeitsverteilung einzelner Befundungsgrade. Als weiteres Instrument zur epidemiologischen Darstellung der Kariesprävalenz in Risikogruppen wurde der Significant-Caries-Index (SiC) vorgeschlagen [11].

In der Kariesepidemiologie ist die der Registrierung zugrunde liegende Definition der Zuordnung, an Karies erkrankt zu sein, zu beachten. So werden, Vorgaben der WHO folgend, oftmals erst kavitierende Läsionen mit Dentinbeteiligung als epidemiologisch zu erfassende kariöse Defekte definiert [32]. Diese Beschränkung wird zunehmend als unangebracht empfunden. Defekte mit Dentinbeteiligung stellen bereits ein fortgeschrittenes Stadium der Karies dar. Daher birgt dieses Vorgehen die Gefahr, dass bei rückläufiger Kariesprävalenz zunehmend höhere Anteile der tatsächlichen Karieserfahrung, initiale oder auf den Schmelz begrenzte Läsionen, nicht registriert werden. Aus diesem Grunde sollte auch das Vorkommen von nicht-kavitierenden kariösen Läsionen notiert werden. Zusätzlich kann eine Unter- teilung in aktive oder nicht-aktive Läsionen erfolgen [26].

Eine Weiterentwicklung des Ansatzes, Läsionen epidemiologisch so früh wie möglich zu erfassen, stellen Bestrebungen dar, die für die Kariesdiagnostik definierten ICDAS-Kriterien (International Caries Detection and Assessment System) auch für die Epidemiologie nutzbar zu machen [18, 22]. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses in vitro für die Karieserfassung an Okklusalflächen validierte Erfassungssystem mit seinem unter epidemiologischen Feldbedingungen erhöhten Zeitbedarf [10] durchsetzen wird.

Auch für die Wurzelkaries kann und sollte zwischen aktiven und inaktiven Läsionen unterschieden werden [29].

4.2 Kritische Betrachtung von Erfassungssystemen der Parodontalepidemiologie

Als Erfassungssysteme stehen für die parodontalepidemiologischen Belange im Wesentlichen drei unterschiedliche Indexsysteme zur Verfügung: Das CPI-Modell der WHO [3], das CAL-Modell der AAP [5] und das CAL/PD-Modell der Working-Group von CDC/AAP [27]. Während das CPI-Modell hinsichtlich der parodontalen Befunde (Grad 3 und Grad 4) ausschließlich auf Sondierungstiefen (Taschentiefen) ausgerichtet ist, basiert das CAL-Modell ausschließlich auf der metrischen Erfassung der Attachmentverluste mit einer zusätzlichen dichotomen Zuweisung hinsichtlich der Zahl der betroffenen Zahnflächen (lokalisiert versus generalisiert). Das CDC/AAP-Modell kombiniert metrische Befunde von Attachmentverlusten und Sondierungstiefen an mindestens zwei Zähnen und ordnet spezifische Kombinationsmuster unterschiedlichen Schweregradzuordnungen (no or mild/moderate/severe) der parodontalen Erkrankung zu.

Im Kern stellen alle drei Indexsysteme dabei auf eine Maximalwertebetrachtung ab, indem der jeweils schwerste Befund die Fallzuschreibung einer Person bestimmt. Das methodische Problem, das sich aus dieser Vorgehensweise ergibt, wird unmittelbar deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass bei dieser Zählweise naturgemäß auch Personen in höhere Schweregradkategorien eingeordnet werden, die eventuell nur an einem Zahn oder nur an wenigen Zähnen entsprechende Parodontalbefunde aufweisen. Insofern verführen letztlich alle drei Indexsysteme zu einer Überschätzung von Parodontitislasten in untersuchten Populationen, da das Ausmaß, also die Anzahl der befallenen Zähne, unberücksichtigt bleibt. Es erscheint also für eine solide Interpretation von parodontitisbezogenen Daten geboten, neben der Prävalenz beziehungsweise dem Schweregrad (Severity) einer Parodontitis zusätzlich klinische Informationen zur Anzahl der betroffenen Zähne (Extent) bereitzustellen. Nur dann entsteht ein angemessenes Bild über Art und Umfang parodontaler Destruktionsphänomene einer definierten Population, aus denen dann auch mögliche versorgungsrelevante Folgerungen abgeleitet werden können. Entsprechende Vorschläge zur Verknüpfung von „Severity“ und „Extent“, bei denen Kombinationsmuster aus Severity-Parametern (Taschentiefen, Knochenverluste, Blutungsneigung) mit der Sextantenverteilung in einem Gebiss zu einem „Disease Score“ zusammengefasst sind, wurden aktuell von Martinet al. vorgelegt [23].

Sehr bedeutsam für die Planung, aber auch das Lesen parodontalepidemiologischer Studien ist die Frage, ob die Befunde über ein full mouth-recording, ein partial mouth-recording oder über Indexzähne erhoben worden sind. Die Robustheit der erhobenen Befunde hängt deutlich von der gewählten Vorgehensweise ab und speziell das full mouth-design vermittelt naturgemäß das höchste Exaktheitsniveau. Dennoch kann es auch forschungspragmatisch – etwa aus Zeitgründen – legitim sein, auf Teilbefundungen auszuweichen [20].

Auch die Frage, an welchen Zahnflächen die Parodontalbefunde erhoben wurden oder werden sollen, ist eine Frage von großer forschungsstrategischer Bedeutung. Meist werden in parodontalepidemiologischen Studien nur bukkale Messpunkte gewählt, so dass es eher zu einer Untererfassung parodontaler Destruktionsphänomene kommt. Erst der zusätzliche Einbezug oraler Messpunkte ergibt ein genaueres Bild der pathologischen Veränderungen am jeweiligen Zahnhalteapparat [17].

Ein weiteres Problem der parodontalepidemiologischen Erfassung liegt in der Tatsache begründet, dass – ähnlich wie in der Kariesepidemiologie – die Verteilungen parodontaler Befunde in einer Population beträchtliche statistische Schieflagen aufweisen können [24]. Entsprechend sollte eine gute parodontalepidemiologische Dokumentation unbedingt auch Informationen erzeugen, wie viele Personen von welchen Schweregraden zu CAL und/oder PD an wie vielen Zähnen betroffen sind; ausschließliche Mittelwertdarstellungen ergeben hier häufig ein falsches (artifizielles) Ergebnisbild.

Das Hauptproblem der parodontalepidemiologischen Forschung ist allerdings in der internationalen Uneinheitlichkeit der Falldefinitionen („Was ist eine Parodontitis?“) zu sehen. Ein Konsens ist hier bis heute leider nicht zu erkennen [14]. Entsprechend erscheint ein intensiver Austausch zwischen klinisch tätigen Parodontologen und parodontalepidemiologisch tätigen Forschern dringend geboten, um insbesondere die diagnostische Einordnung und die Prognostik parodontaler Befunde (wie populationsbasierte Behandlungsbedarfe) in einen epidemiologisch leistungsfähigen Interpretationsrahmen stellen zu können.

4.3 Kritische Betrachtung sozialwissenschaftlicher Erfassungssysteme

Für die Sozialschichteinstufung werden verbreitet die Variablen „Schulbildung“, „berufliche Position“ und „Einkommen“ zu einem additiven Index verknüpft. Auf der Grundlage der addierten Punktezahlen wird dann der entsprechende Sozialstatus dem einzelnen Probanden zugeordnet. Für verschiedene Fragestellungen der Epidemiologie kann es aber von erheblichem Vorteil sein, wenn nicht mit diesen Indexwerten gerechnet wird, sondern nach den soziodemografischen Einzelvariablen selbst [16].

Eine methodisch nicht einfach zu lösende Herausforderung stellt die Entwicklung des eigentlichen Inhaltsfragebogens (zur Einstellungs- und Verhaltensmessung) dar. Befragungen sind grundsätzlich ein sozialer Prozess, der vom „Sender“ und „Empfänger“ gleichermaßen geprägt wird. Hier sollte in erster Linie auf bereits eingesetzte Fragekonstruktionen (wie zum Mundhygieneverhalten) zurückgegriffen werden, soweit sie in der Forschungsliteratur dokumentiert sind und auch in Pretesten ihre Bewährungsprobe bestanden haben. Selbstverständlich wird man je nach Studienfragestellung aber häufig auch nicht um (neue) Eigenentwicklungen zur Abfrage herumkommen. Dazu bedarf es dringend einer angemessen Orientierung an der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur, um grobe methodische Fehler bei der Erstellung der Fragekonstruktionen zu vermeiden [6, 28].

Für die Besonderheiten der Gesundheitsforschung sollte auch berücksichtigt werden, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten seitens der Medizinpsychologie und Medizinsoziologie eine ganze Reihe von Erfassungsinstrumenten entwickelt worden ist, die sich empirisch gut bewährt haben und für einzelne Fragestellungen eine beachtliche Erklärungskraft beanspruchen können [9].

Als Beispiele seien hier genannt:

• Health Belief Model (HBM, Erfassungsinstrument zur subjektiven Wahrnehmung von Erkrankungswahrscheinlichkeit und Erkrankungsanfälligkeit)

• Health Locus of Control (HLC, Erfassungsinstrument der subjektiven Kontrollüberzeugungsmuster zu Krankheit/Gesundheit)

• Sense of Coherence (SOC, Erfassungsinstrument des subjektiven Kohärenzgefühls im Sinne von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Krankheit/ Gesundheit)

• Oral Health Impact Profile (OHIP, Erfassungsinstrument zu den subjektiven Beeinträchtigungen durch bestehende orale Gesundheitsprobleme, mundgesundheitsbezogene Lebensqualitätseinbußen).

4.4 Kritische Betrachtung von Erfassungssystemen für Public Health-Anwendungen

Der Community Periodontal Index of Treatment Needs (CPITN) wurde entwickelt, um große Bevölkerungsgruppen bezüglich des Behandlungsbedarfs, der Bestimmung der Behandlungsart und des hierfür benötigten Personals zu untersuchen [3]. Er wurde jedoch vielfach entgegen seiner Intention für deskriptive Querschnittsuntersuchungen eingesetzt. Außerdem basiert seine Graduierung auf einem kontinuierlichen Parodontitisverlaufskonzept, und die partielle Erfassung des Schweregrads mit einem Stellvertreterzahn pro Sextant erschwert die Abschätzung von Prävalenz und Schwere der Erkrankung.

5. Veränderungen der non-kariösen Hartsubstanzen

Neben der Karies können die Zähne andere erworbene oder entwicklungsbedingte Veränderungen der Hartsubstanzen aufweisen. Für viele dieser Veränderungen sind Indizes vorgeschlagen worden. Im Zuge kontinuierlich rückläufiger Kariesprävalenzen bei Kindern und Jugendlichen finden die nicht-kariösen Veränderungen zunehmend wissenschaftliches und therapeutisches Interesse. Dabei sei dahingestellt, ob dieses gesteigerte Interesse auf höheren Prävalenz- raten beruht, ob die Veränderungen infolge rückläufiger Kariesprävalenzen eher erkennbar sind, oder ob das Bewusstsein für nichtkariöse pathologische Veränderungen der Zahnhartsubstanzen gewachsen ist. Beispiele für weitere Indizes zur Zahngesundheit sind Fluoroseindizes oder aber Indizes zur Erfassung von Zahnsubstanzverlusten verschiedener Ätiologie wie z. B. der BEWE-Index (Basic Erosive Wear Examination) zum Screening von Erosionen [8].

Wissenschaftliche Mitteilung des Arbeitskreises Epidemiologie und Public Health in der DGZMK. Diese Wissenschaftliche Mitteilung ersetzt die frühere Stellungnahme 09/1996. Stand 05/2010.

Prof. Dr. Ulrich Schiffner(Korrespondierender Autor)Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfZentrum ZMKPoliklinik für Zahnerhaltung undPräventive ZahnheilkundeMartinistr. 5220246 Hamburgschiffner@uke.de

Dr. Rainer A. Jordan, MSc.Universität Witten/HerdeckeFakultät für Zahn-, Mund- undKieferheilkundeAbteilung für Zahnerhaltung undPräventive ZahnmedizinAlfred-Herrhausen-Straße 5058448 Wittenandreas.jordan@uni-wh.de

Dr. Wolfgang Micheelis, Dipl.-Sozw.Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)Universitätsstraße 7350931 Kölnw.micheelis@idz-koeln.de

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