Mehr als Barrierefreiheit
In Thüringen leben rund 182 000 anerkannt Schwerbehinderte, das ist fast jeder zehnte Einwohner des Bundeslandes. Fast 50 000 sind querschnittsgelähmt, zerebral gehandicapt oder geistig-seelisch behindert. Wegen ihrer körperlichen oder kognitiven Einschränkungen sind sie oftmals nicht fähig, selbstständig Mundhygiene zu betreiben oder eine Zahnarztpraxis aufzusuchen.
Zudem sorgen die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, etwa eine den Behandlungsmehraufwand nicht berücksichtigende Vergütung, dafür, dass Behinderte oftmals durch das Netz der vertragszahnärztlichen Versorgung fallen, wie es Thüringens Kammerpräsident Dr. Andreas Wagner formulierte. „Dies zu verbessern, ist gesellschaftliche Aufgabe für uns als Berufsstand und wir müssen und wollen sie wahrnehmen“, sagte er. Er warb für das Ziel, zahnmedizinischpräventive Leistungen für Menschen mit Behinderungen in das Sozialgesetzbuch aufzunehmen, wie es das Reformkonzept von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung für eine bessere zahnärztliche Versorgung Behinderter vorsieht. Zudem sieht die Landeszahnärztekammer Thüringen ihren Part in der verstärkten Fortbildung der Zahnmediziner und in der engeren Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden und der Landespolitik.
Standortbestimmung
Wie nötig eine kontinuierliche Fortbildung der Zahnärzte auf diesem Gebiet ist, verdeutlichte Prof. Andreas Schulte von der Poliklinik für Zahnerhaltung der Universität Heidelberg. „Der Zahnarzt und das Team können oft nicht kompetent mit dieser Patientengruppe umgehen“, stellte er fest. Nach seiner Einschätzung hängt das auch mit Ausbildungsdefiziten im Zahnmedizin-Studium zusammen. Die zahnmedizinische Behandlung Behinderter komme bei der Ausbildung der Studierenden zu kurz. Schulte nahm in Erfurt eine Standortbestimmung zur zahnmedizinischen Betreuung von Menschen mit Handicap vor. Nach Erhebungen der Uni Heidelberg haben erwachsene Behinderte sechsmal so viele kariöse Zähne wie Nichtbehinderte. Und fehlen 35 bis 44 Jahre alten Nichtbehinderten statistisch 2,4 Zähne, sind es bei gleichaltrigen Menschen mit Behinderung 5,5 Zähne.
Möglichkeit zur Teilhabe
Dass die Behandlung Behinderter in Zahnarztpraxen oftmals an ganz simplen Dingen scheitert, verdeutlichte Uwe Kintscher, Vorsitzender des Behindertenbeirates in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. „In vielen Praxen gibt es keinen behindertengerechten Zugang“, monierte er. Dabei sei der Zahnarztbesuch für Behinderte „eine Möglichkeit zur Teilhabe“. Aufsuchende Betreuung von Zahnärzten sieht er vor diesem Hintergrund zurückhaltend. Man müsse Behinderten nicht alles abnehmen, meinte er. „Die Fahrt zur Zahnarztpraxis gehört doch auch zum Leben.“ Wichtig sei, dass die Praxen ihre Abläufe stärker auf Behinderte einstellen. So sollten geistig behinderte Patienten zu Beginn der Sprechstunde behandelt werden, um Wartezeiten zu vermeiden. Zur Orientierung in den Praxisräumen könnten Praxen stärker mit Visualisierungen arbeiten, etwa mit bildlichen Symbolen.
Die Fortbildungstagung der Landeszahnärztekammer Thüringen wurde umgehend von der Landtagsfraktion der Linken aufgegriffen, die eine grundsätzliche Verbesserung der ärztlichen Betreuung Behinderter verlangte. Dazu gehöre vor allem, einen barrierefreien Zugang zu Arztpraxen für Behinderte, aber auch für alte Menschen zu gewährleisten, sagte die Landtagsabgeordnete Karola Stange.
Katrin Zeiß, Freie Journalistinkatrin.zeiss@gmx.de