So wird unser Gehirn mit Läsionen fertig
Das menschliche Gehirn galt lange als relativ unflexibles Organ, wenn es darum geht, nach Abschluss der individuellen Entwicklung auf sich verändernde Situationen mit strukturellen Anpassungen zu reagieren. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aber mehrten sich die Hinweise darauf, dass das Zentralnervensystem sowohl im Rückenmark als auch in den Hirnkernen und sogar in der Hirnrinde beachtliche Fähigkeiten besitzt, nach Verletzungen Reparaturmechanismen in Gang zu setzen und die resultierenden Defizite zu kompensieren. So ist das Gehirn nach einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall durchaus wieder in der Lage, zumindest teilweise die verloren gegangenen Funktionen zu ersetzen.
Reparatur analog der frühkindlichen Entwicklung
Dies geschieht nach ähnlichem Muster wie auch in der frühkindlichen Entwicklung, berichtete Professor Dr. Ulf T. Eysel aus Bochum beim 9. Lundbeck Dialog ZNS in Bergisch-Gladbach. Die Hirnentwicklung vollzieht sich nach seiner Darstellung nach der Geburt bis zur Adoleszenz nach einem bestimmten Rhythmus mit Phasen unterschiedlich hoher Plastizität für die einzelnen Funktionen. So kommt es nach Eysel zuerst zur Entwicklung der Sehschärfe und des binokularen Sehens, gefolgt von der Entwicklung der Sprache und später dann der vollen kognitiven Funktionen.
Doch auch nach diesen Zeiten hoher Plastizität bleiben dem Gehirn im Falle von Schädigungen Reparaturmöglichkeiten, berichtete der Neurophysiologe. Dabei werden aber keine Strukturen neu gebildet, sondern es werden vorhandene Strukturen anders genutzt. „Inaktive Zellen werden reaktiviert und können neue Funktionen übernehmen“, erläuterte Eysel.
Bis ins hohe Alter neue neuronale Verschaltungen
Im Rahmen solcher Reparaturprozesse können nach seinen Worten die vorhandenen Zellen durchaus auch neu vernetzt werden, eine Fähigkeit, die das Gehirn offenbar von Geburt an besitzt und bis ins Greisenalter hinein nicht verliert. Vor allem in Tierexperimenten wurde laut Eysel dabei belegt, dass die wiederholte Nutzung bestimmter Hirnstrukturen deren Verschaltung in den komplexen neuronalen Netzwerken und damit auch die Leistungen von Hirnrindenzellen dieser Region verbessern kann.
Die Fähigkeit, die Verschaltungen zu modulieren, ist zwar in jungen Jahren größer als im Alter, sie bleibt im Prinzip aber lebenslang erhalten. „Im Alter scheint die Plastizität herunterreguliert zu sein“, so der Neurologe. Das beinhaltet aber auch, dass sie wieder stimuliert werden kann, wenn infolge einer Hirnschädigung hierfür Bedarf besteht. Die sich dann anbahnenden Reparaturprozesse können laut Eysel aber bestenfalls die ursprüngliche Funktion wiederherstellen, Verbesserungen darüber hinaus sind offenkundig nicht möglich. Außerdem erfolgt die Reorganisation im Rahmen des „Brain Repair“ räumlich begrenzt im Gehirn, was wahrscheinlich verhindert, dass es zu einer unkontrollierten Neuverdrahtung oder zu ausuferndem Wachstum kommt.
Reha-Maßnahmen gezielter einsetzen
Die neuen Erkenntnisse lassen sich nach Eysel wahrscheinlich in verschiedenen Bereichen therapeutisch nutzen. So besteht – das zeigen Untersuchungen mit modernsten Verfahren wie etwa dem Multi-Photonen-Imaging – eine gewisse Hyperaktivität in den Hirnregionen, in denen Strukturen neu organisiert werden. Besonders erfolgreich könnten damit – so die Theorie – Reha-Maßnahmen gestaltet werden, wenn sie genau diese Regionen ansprechen. Dabei aber müssen laut Eysel die Erkenntnisse zur Funktion des Gehirns berücksichtigt werden. Zum Beispiel ist bekannt, dass das Bewegen einer Extremität die Aktivität zur Steuerung von Bewegungsprozessen in der gegenseitigen Extremität hemmt. Die logische Konsequenz müsste laut Eysel darin bestehen, bei krankengymnastischen Übungen zur Rehabilitation nach Schlaganfall den gesunden Arm zu fixieren, während versucht wird, die Beweglichkeit im gelähmten Arm zu verbessern. Zu bedenken ist auch, dass sich die neu organisierten Strukturen nicht sofort stabilisieren, sondern dass es eine gewisse Zeit dauert, bis sich die quasi neuen Funktionsbereiche festigen.
Kritisch steht der Neurophysiologe Versuchen gegenüber, Schädigungen des Gehirns mittels einer Stammzelltherapie anzugehen. Zu wenig ist nach seiner Ansicht bekannt darüber, wie sich die eingebrachten Stammzellen im neuronalen Verband verhalten werden. „Es ist nicht klar, ob dabei Wildwuchs entsteht, der mehr schadet als nutzt“, so Eysel. „Und es ist auch nicht klar, ob die jungen Nervenzellen imstande sein werden, ihre Umgebung in den selektiven Zustand der frühen Entwicklung zurückzuversetzen und nur funktionell sinnvolle Verdrahtungen zu stabilisieren, sinnlose dagegen rigoros abzubauen“.
Christine VetterMerkenicher Str. 22450735 Köln