Identifizierung nach über 30 Jahren – eine Erfolgsgeschichte
Die Aufbewahrungsfristen für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten sind in vielen Fällen auf 30 Jahre festgelegt. Im vorliegenden Fall sollten sowohl die Akten zu einer unbekannten Wasserleiche als auch die zu einer vermissten Person gehörigen – wegen Überschreitung dieser Frist – endgültig vernichtet werden. Doch vor der definitiven Vernichtung wird die zuständige Polizeibehörde dann immer gebeten, diese Fälle noch einmal zu überprüfen. Das Ergebnis dieser Überprüfung sollte alle verfahrensbeteiligten Ermittler und die Hinterbliebenen überraschen: Nach über 30 Jahren konnte eine vermisste Person durch zahnärztliche Vergleichsuntersuchungen eindeutig und zweifelsfrei doch noch identifiziert werden.
Vorgeschichte
An einem Novembertag im Jahre 1977 erschien ein bis dahin als äußerst zuverlässig bekannter Angestellter (EDV-Bereich) nicht an seinem Arbeitsplatz – extrem ungewöhnlich für die Kollegen: denn bis zu diesem Zeitpunkt war diese Person noch keinen einzigen Tag ihrer Berufstätigkeit ferngeblieben.
Die damalige Vermisstenmeldung zog für die Kriminalpolizei umfangreiche Ermittlungen nach sich, bei der alle Möglichkeiten der Veröffentlichung im In- und Ausland vollständig ausgeschöpft wurden, um die vermisste Person (tot oder lebendig) aufzuspüren.
Privates und berufliches Umfeld
In der Wohnung des Vermissten deutete nichts daraufhin, dass er plötzlich verreist sein könnte: Sein möbliertes Zimmer in einer deutschen Großstadt war in einem tadellosen Zustand. Noch am Tag seines Verschwindens hatte er frische Lebensmittel gekauft, wie durch einen in der Wohnung befindlichen Kassenbon belegt werden konnte. In der Folgezeit vernahm die Polizei zahlreiche Verwandte, Freunde und Kollegen des Vermissten ausführlich, um möglichst viel über ihn zu erfahren: Die vermisste Person galt bei sämtlichen Vorgesetzten und Kollegen als äußerst intelligent, pflichtbewusst, pünktlich und zuverlässig, aber andererseits auch als kontaktarm. (Ein Arbeitskollege schätzte ihn als „eher geizig und zurückhaltend“ ein.)
Außerhalb der Arbeit pflegte der alleinstehende Mann wenig Kontakt zu Bekannten und Freunden. Unmittelbar vor seinem Verschwinden hatte er eine Kontaktanzeige in einer Tageszeitung geschaltet. Drei Frauen hatten sich auf die Annonce in der Rubrik „Suche Partner“ gemeldet. Einen dieser Antwortbriefe zu dieser Kontaktanzeige fanden die Beamten noch ungeöffnet im Briefkasten des Vermissten.
Fahndung im In- und Ausland
Neben den Ermittlungen im Umfeld des Toten untersuchten die Kriminalbeamten zahlreiche unbekannte Leichenfunde – sogar ein Toter in Australien erregte die Aufmerksamkeit der Beamten. Die Leiche in Hetathcote vom September 1982 wies geringfügige Übereinstimmungen mit dem Vermissten auf. Später widerlegten Rechtsmediziner diese hoffnungsvollen Vermutungen. Ebenso erfolglos verlief der Vergleich mit einem von der Wasserschutzpolizei im Rhein gefundenen Schädel – bereits kurz nach Eingang der Vermisstenanzeige.
Rolle des Zahnstatus
Als problematisch bei diesen Vergleichen erwiesen sich die Unterlagen zum Zahnstatus der vermissten Person. Dieser war (nach damaligen Kenntnissen der Kriminalpolizei) zuletzt 1972 bei der Bundeswehr erhoben worden und könnte bis zu seinem Verschwinden im November 1977 identisch gewesen sein oder sich unter Umständen erheblich verändert haben. Es war den Beamten seinerzeit – trotz intensiver Recherchen (unter anderem auch beim Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr) – nicht gelungen, aktuellere zahnmedizinische Informationen einzuholen. Trotz der umfangreichen Ermittlungen fanden die Beamten den Vermissten damals nicht. Sein Verschwinden blieb völlig im Unklaren und im Juni 1989 erklärte das zuständige Amtsgericht die vermisste männliche Person für tot. Der Zeitpunkt des Todes wurde auf den 31. Dezember 1982 um 24 Uhr festgelegt.
Dennoch war diese Person auch 30 Jahre nach ihrem Verschwinden weiterhin international zur Fahndung ausgeschrieben und dieser Fall wurde regelmäßig mit unbekannten Leichenfunden (älteren und neueren Datums) abgeglichen. Leider ohne Erfolg.
Sowohl die Mutter als auch die Schwester der vermissten Person haben die Ungewissheit um sein Schicksal mit in den eigenen Tod genommen.
Fund einer Wasserleiche
Nur einen Monat, nachdem die Vermisstenmeldung bei der Polizei eingegangen war, wurde im Rhein eine männliche Wasserleiche entdeckt.
Da die Leiche sich bereits in einem ausgeprägten Verwesungszustand befand, konnte die Todesursache bei der gerichtlichen Obduktion nicht eindeutig festgestellt werden. Anzeichen für einen gewaltsamen Tod gab es seinerzeit offensichtlich nicht. Die Gerichtsmediziner schätzten das Alter des Verstorbenen auf etwa 40 Jahre. Es handelte sich um einen 180 cm großen, zu Lebzeiten offensichtlich adipösen Mann. Auffällig war, dass die Leiche zwar Schuhe, aber keine Hose trug, dass im Oberkiefer eine Teilprothese zum Ersatz aller fehlenden Schneidezähne eingegliedert war und dass die Gaumenmandeln offensichtlich zu Lebzeiten bereits entfernt worden waren.
Bei den für den Rheinverlauf zuständigen Landeskriminalämtern gab es keine Hinweise auf einen möglicherweise in Betracht kommenden Vermisstenfall.
Auch der Vergleich mit dem oben beschriebenen Vermisstenfall blieb erfolglos – im Gegenteil. Zu viele Abweichungen sprachen eher dafür, dass es sich um zwei verschiedene Personen handeln musste: Während sich die Obduzenten – trotz der fortgeschrittenen Verwesung – sicher waren, dass bei der unbekannten Rheinleiche die Gaumenmandeln bereits zu Lebzeiten entfernt worden waren, behaupteten die Angehörigen der vermissten Person permanent, dass ihrem Sohn die Gaumenmandeln zu Lebzeiten nicht entfernt worden seien. Dass die Eltern des Vermissten seinerzeit mehrere hundert Kilometer von ihrem Sohn entfernt lebten und vielleicht nicht täglich mit ihm Kontakt hatten, sollte hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Dass ein Mann von fast 30 Jahren seinen Eltern möglicherweise nicht jeden medizinischen Eingriff berichtet, wäre eine zusätzliche Erklärung. Aufgrund dieses (mutmasslichen?) Widerspruchs war es seinerzeit nicht gelungen eine positive Identifizierung auszusprechen.
Der unbekannte Tote wurde daraufhin vom örtlichen Standesamt beurkundet und Mitte Januar 1978 als unbekannte Wasserleiche in einem anonymen Grab beerdigt. Die Grabstelle wurde durch die Friedhofsverwaltung sorgfältig dokumentiert, um eventuelle Nachuntersuchungen zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen.
Ähnlich wie im Fall der vermissten Person wurde auch der Fall dieser unbekannten männlichen Wasserleiche mit verschiedenen anderen Fällen (beziehungsweise Akten) verglichen – leider ohne registrierbaren Erfolg. So konnte diese unbekannte Wasserleiche in den folgenden 30 Jahren nicht identifiziert werden.
Erneute Ermittlungen
Als Ende Januar 2008 für beide Akten die Aufbewahrungsfristen abgelaufen waren und eine endgültige Löschung erfolgen sollte, bemerkte die Sachbearbeiterin beim zuständigen Landeskriminalamt, dass die vage Möglichkeit einer Übereinstimmung beider Fälle – unbekannte Wasserleiche / vermisste Person – gegeben sein könnte. Aus unerklärlichen Gründen war es in den zurückliegenden drei Jahrzehnten nicht zu einer positiven Identifizierung der beiden dargestellten Fälle gekommen. Vermutlich lagen bei den vorliegenden Zahnbefunden nur wenige Übereinstimmungen und mehrere Abweichungen vor.
Bevor die Akten nach einer Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren endgültig ausgesondert wurden, übergab das Landeskriminalamt die Sachverhalte zu einer abschließenden Beurteilung an die zuständige Kriminalpolizei. Zunächst wurden von Polizeiseite alle noch vorhandenen Unterlagen zu den beiden Ermittlungsakten (einschließlich der bei der Durchschrift noch vorhandenen Asservate) eingesehen und ausgewertet. Bei der anschließenden Diskussion mit dem derzeit zuständigen forensischen Zahnarzt wurde festgestellt, dass es sich durchaus um zwei verschiedene Personen handeln kann, dass aber auch die Möglichkeit besteht, dass es sich um die gleiche Person handelt. Zur eindeutigen Klärung wären aber unbedingt aktuellere Zahnbefunde notwendig.
Wiederaufnahme der Ermittlungen
Im Anschluss an eine Unterredung sowohl mit dem zuständigen Kriminalbeamten als auch mit dem forensischen Zahnmediziner entschloss sich der zuständige Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren wiederaufzunehmen.
Da es sich bei der vermissten Person um einen ehemaligen Bundeswehr-Angehörigen handelt, sollte im Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr in Andernach überprüft werden, ob aktuellere als die bekannten zahnärztlichen Befunde vorliegen würden. Sollte dies der Fall sein, so wäre eine Exhumierung der unbekannten männlichen Wasserleiche empfehlenswert, da nur so ein zweifelsfreier Vergleich der ante mortem-Befundunterlagen mit den Originalkiefern möglich sei.
Zusätzlich zu diesen Maßnahmen sollte eine heute mögliche vergleichende DNA-Analyse sowohl mit den noch vorhandenen Asservaten als auch mit DNA-Proben der Familienangehörigen des Vermissten vorgenommen werden.
Nachdem tatsächlich aktuellere als die bisher bekannten Zahnstatus über das Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr dem Kriminalbeamten beziehungsweise dem forensischen Zahnarzt zur Verfügung gestellt werden konnten, verdichteten sich die Hinweise, dass es sich doch um die gleiche Person handeln könnte.
Über dieses Ergebnis wurde der zuständige Staatsanwalt umgehend informiert. Nach Darstellung der aktuellen Erkenntnisse ordnete er entsprechende weitergehende Ermittlungen an: Hierzu zählte unter anderem der Antrag auf Exhumierung des Leichnams beim zuständigen Amtsgericht.
Untersuchungen der Grabstätte
Zeitgleich erfolgte die Überprüfung der Grabstelle: Trotz der abgelaufenen Liegeund Ruhezeiten (30 Jahre) wurde sie noch im Originalzustand vorgefunden. Im Einvernehmen mit der örtlichen Friedhofsverwaltung wurde die Grabstelle zunächst sichergestellt, um eine mögliche Neubelegung zu verhindern.
Nachdem die zuständige Untersuchungsrichterin (kraft ihres Amtes und der zwischenzeitlich vorliegenden neueren Beweismittel) die Exhumierung des Leichnams angeordnet hatte, wurde die Grabstätte aufgesucht und mit der Exhumierung der sterblichen Überreste der unbekannten männlichen Wasserleiche begonnen. Dabei konnten der Schädel einschließlich Unterkiefer sowie Zähne und Knochen gefunden werden.
Nach Reinigung der ausgegrabenen Überreste wurde festgestellt, dass das Skelett (auch nach mehr als 30 Jahren) vollständig war und dass für alle leeren Zahnfächer im Ober- und Unterkiefer Zähne aufgefunden wurden. Sie konnten alle eindeutig und zweifelsfrei reponiert werden, so dass unmittelbar danach mit der Dokumentation des Zahnstatus anhand der Leichenkiefer begonnen werden konnte. Dann erfolgte der Vergleich der antemit den post-mortalen zahnärztlichen Befunden.
Die Vergleichsuntersuchungen mit den aktuellen, von der Bundeswehr zur Verfügung gestellten Zahndaten ergab eine vollständige Übereinstimmung zwischen anteund post-mortalen Zahnbefunden, so dass (unmittelbar nach der Exhumierung) eine positive Identifizierung (nach mehr als 30 Jahren) ausgesprochen werden konnte.
Ein Zwischenergebnis zur DNA-Analyse lag zu diesem Zeitpunkt bereits vor, jedoch war hier eine mitochondriale DNA-Analyse erforderlich geworden, um abschließend ein endgültiges Ergebnis präsentieren zu können. Da eine solche Untersuchung auch rein wissenschaftlich von besonderer Bedeutung ist, wurde auch diese Untersuchung vollständig abgeschlossen. Ihr Ergebnis bestätigte schließlich den vorliegenden forensisch-odontologischen Befund.
Durch den Sachbearbeiter der Kriminalpolizei, der im ständigen Kontakt zum Bruder des Verstorbenen stand, wurde die Familie über das Ergebnis der Ermittlungen informiert. Die Gebeine der jetzt identifizierten „unbekannten Wasserleiche“ fanden nunmehr ihre letzte Ruhestätte im Grab der Familie.
Zusammenfassung
Mehr als 30 Jahre nach seinem Verschwinden konnte aufgrund zahnärztlicher Befunddokumentationen im Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr eine unbekannte männliche Wasserleiche zweifelsfrei identifiziert werden.
Mit dem vorliegenden Fall wurde wieder einmal bewiesen, wie eindeutig in vielen Fällen zahnmedizinische Befunde (bedingt durch umfangreiche dentale Sanierungen und Restaurationen) sind.
Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass zahnärztliche Identifizierungsmaßnahmen auch nach mehr als 30 Jahren zum Erfolg führen können – natürlich unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass zu Lebzeiten eine gute zahnärztliche Befunddokumentation erfolgt ist.
Zusätzlich konnte mit diesem Fall erneut gezeigt werden, dass „unsere“ Zähne die widerstandsfähigste Körpersubstanz darstellen und auch nach mehr als 30 Jahren derart gut erhalten sind, dass sie solche außergewöhnlichen Identifizierungen ermöglichen.
Dr. Dr. Claus GrundmannViktoriastr. 847166 Duisburgclausgrundmann@hotmail.com
Heinz Lindekamp, KHKKreispolizeibehörde WeselReeser Landstr. 2146483 WeselHeinz.Lindekamp@polizei.nrw.de
Dr. Klaus-Peter BenedixDachauer Str. 12880637 MünchenKlausPeterBenedix@bundeswehr.org