Sorge um den knappen Faktor Mensch
Der drohende Mangel an ausreichend qualifiziertem chirurgischem Nachwuchs war ein zentrales Thema der 16. Tagung des Konvents der leitenden Krankenhauschirurgen, der mit über 200 Teilnehmern vom 15. bis 16. Januar 2010 in Hamburg stattfand. Provokant brachte Prof. Reiner Gradinger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), das Problem des Nachwuchsmangels in seinem Eröffnungsreferat auf den Punkt: „Studienabsolventen wissen viel, können aber nichts, sie sind allenfalls Lehrlinge.“
Auch ausgebildete Fachärzte müssten sich erst bewähren und seien maximal als Gesellen einsetzbar. Um in die Meisterklasse zu gelangen, bedarf es nach Auffassung Gradingers noch viel mehr Zeit: „Es braucht 18 Jahre, bis einer wirklich weiß, was er tut!“ Um dem Mangel an qualifizierten Chirurgen zu begegnen, müsse man daher am Anfang beginnen, sagte der DGCH-Präsident, nämlich bei der Ausbildung. Ein gutes Weiterbildungsangebot sei für Kliniken mehr denn je ein Wettbewerbsfaktor in der Personalpolitik: „Bieten Sie eine strukturierte Weiterbildung an und behandeln Sie Ihre PJ-ler gut, anstatt sie als Hakenhalter zu missbrauchen“, riet Gradinger seinen Kollegen.
Gestern Macho-Reservat, heute Frauenförderung
Wer die Chirurgie noch für das letzte Macho-Reservat im Medizinbetrieb hielt, der durfte sich beim nächsten Ratschlag des DGCH-Präsidenten verwundert die Augen reiben: „Nutzen Sie die stille Reserve des weiblichen Nachwuchses, die längst nicht mehr so still ist, wie wir oft meinen. Schaffen Sie familienfreundliche Arbeitsbedingungen, damit Frauen dort hingelangen, wo sie hingehören: in Spitzenpositionen“, forderte Gradinger.
Tatsächlich sei die Frauenförderung – manche nennen sie auch „Feminisierung des Medizinbetriebs“ – eines der wichtigsten Mittel, um dem Nachwuchsmangel in der Chirurgie zu begegnen: „Bei den Studienanfängern im Fach Medizin liegt der Frauenanteil noch bei 62 Prozent, unter den leitenden Krankenhauschirurgen hingegen gibt es derzeit nur elf Prozent Frauen“, erläuterte Gradinger. Ein Blick ins Plenum ließ einen eher noch geringeren Frauenanteil vermuten: Neben ihren männlichen Kollegen saßen nur drei Frauen im vollbesetzten Saal der Hamburger Handelskammer.
Ein weiterer Faktor, der mittelfristig die chirurgische Weiterbildung beeinflussen wird, ist die Mindestmengenvereinbarung (MVV). Wie Prof. Hans-Joachim Meyer von der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Städtischen Klinikum Solingen berichtete, sind in Deutschland für sechs operative Eingriffe per Gesetz Mindestmengen vorgeschrieben.
Mindestmengen lenken Weiterbildung
Seit Inkrafttreten der MVV des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) im Jahr 2004 dürfen komplexe Eingriffe am Pankreas und am Ösophagus nur an Kliniken durchgeführt werden, die jährlich mindestens zehn dieser Operationen nachweisen können. Für die Transplantation von Leber, Niere oder Stammzellen gelten Mindestmengen von 20 beziehungsweise 25 Eingriffen, für Knie-Totalendoprothesen liegt die geforderte Mindestzahl seit 2006 bei 50 Eingriffen.
Angehende Viszeralchirurgen können ihre Weiterbildung daher künftig nicht mehr in einer einzigen Klinik absolvieren, weil sie nicht alle Eingriffe der Weiterbildungs- ordnung dort erlernen können. „Ärzte in Weiterbildung werden rotieren müssen“, bestätigte Meyer. Die logistischen Probleme, die sich hieraus ergeben, hielten sich allerdings in Grenzen: „Komplexe Eingriffe wie die Ösophagus- oder Pankreasresektion machen nur einen geringen Anteil der chirurgischen Weiterbildung aus.“
Bislang nichts als ein zahnloser Tiger
Ohnehin dürfe die Mindestmengenregelung nicht im Widerspruch zur chirurgischen Weiterbildungsordnung stehen und ebenso wenig die flächendeckende Versorgung gefährden. Zudem gälten die gesetzlichen Mindestmengen nur für planbare Leistungen, nicht aber für Akuteingriffe.
„Auf lange Sicht wird die MVV zwar die Spezialisierung chirurgischer Krankenhausabteilungen und die Bildung von Zentren vorantreiben, doch sie erfordert keine unmittelbare Spezialisierung. Bislang ist die Mindestmengenregelung eher ein zahnloser Tiger“, meinte Meyer.
Aktuell erfüllten beispielsweise nur die Hälfte aller Kliniken mit mehr als 600 Betten und 25 Prozent der kleineren Häuser die vorgeschriebenen Mindestmengen, um Ösophagusresektionen anbieten zu dürfen, sagte der Solinger Chefarzt. Dies werde auf lange Sicht zu einer Umverteilung auf Patientenebene führen.
Aktuell gebe es allerdings noch Schlupflöcher, mit denen chirurgische Kliniken die MVV umgehen könnten: „Es gibt Übergangsfristen, wenn eine Klinik die Gründung eines Zentrums plant. Gleiches gilt, wenn der Chefarzt wechselt“, verriet Meyer. Auch die geschickte ICD- oder OPS-Kodierung von Eingriffen könne einer Klinik helfen, die vorgeschriebenen Mindestmengen zu erfüllen. Neben der Nachwuchsförderung gilt auch die Delegation von Leistungen an nicht-ärztliches Personal als probates Mittel, um trotz begrenzter ärztlicher Ressourcen eine gute Patientenversorgung aufrechtzuerhalten.
Zwischen Delegation und Substitution
Der DGCH-Generalsekretär Prof. Hartwig Bauer legte dabei Wert auf die Differenzierung zwischen der Delegation und der Substitution von Leistungen: „Bei der Delegation bleibt die Verantwortung beim Arzt, bei der Substitution tragen die Mitarbeiter aus Assistenz, Pflege und anderen Heilberufen die Verantwortung.“ Die DGCH spreche sich klar gegen eine Substitution ärztlicher Leistungen aus. Die Delegation vorbereitender und patientenferner Tätigkeiten wie die Dokumentation oder DRG-Codierung von Leistungen hingegen könne Chirurgen enorm entlasten. „In den 1980er-Jahren wurden aufgrund des Pflegenotstands viele originär pflegerische Aufgaben in den ärztlichen Tätigkeitsbereich geschoben“, erläuterte Bauer. Dies gelte es angesichts des heutigen Ärztemangels wieder zurückzudrehen.
Antje SoleimanianFreie Journalistin und Autorin aus Hamburgantje@soleimanian.de